1897-1899
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Berlin
Das Christentum
In Widerspruch mit den
Darstellungen, die ich später vom Christentum gegeben habe,
scheinen einzelne Behauptungen zu stehen, die ich damals
niedergeschrieben und in Vorträgen ausgesprochen habe. Dabei
kommt das Folgende in Betracht. Ich hatte, wenn ich in dieser
Zeit das Wort «Christentum» schrieb, die Jenseitslehre im
Sinne, die in den christlichen Bekenntnissen wirkte. Aller
Inhalt des religiösen Erlebens verwies auf eine Geistwelt,
die für den Menschen in der Entfaltung seiner Geisteskräfte
nicht zu erreichen sein soll. Was Religion zu sagen habe, was
sie als sittliche Gebote zu geben habe, stammt aus
Offenbarungen, die von außen zum Menschen kommen. Dagegen
wendete sich meine Geistanschauung, die die Geistwelt genau
wie die sinnenfällige im Wahrnehmbaren am Menschen und in der
Natur erleben wollte. Dagegen wendete sich auch mein ethischer
Individualismus, der das sittliche Leben nicht von außen
durch Gebote gehalten, sondern aus der Entfaltung des
seelisch-geistigen Menschenwesens, in dem das Göttliche lebt,
hervorgehen lassen wollte.
Was damals im Anschauen des
Christentums in meiner Seele vorging, war eine starke Prüfung
für mich. Die Zeit von meinem Abschiede von der Weimarer
Arbeit bis zu der Ausarbeitung meines Buches: «Das
Christentum als mystische Tatsache» ist von dieser Prüfung
ausgefüllt. Solche Prüfungen sind die vom Schicksal (Karma)
gegebenen Widerstände, die die geistige Entwickelung zu
überwinden hat.
Ich sah in dem Denken, das aus
der Naturerkenntnis folgen kann — aber damals nicht folgte
— die Grundlage, auf der die Menschen die Einsicht in die
Geistwelt erlangen konnten. Ich betonte deshalb scharf die
Erkenntnis der Naturgrundlage, die zur Geist-Erkenntnis
führen muß. Für denjenigen, der nicht wie ich erlebend in
der Geistwelt steht, bedeutet ein solches Sich-Versenken in
eine Denkrichtung eine bloße Gedankenbetätigung. Für den,
der die Geist-Welt erlebt, bedeutet sie etwas wesentlich
anderes. Er wird in die Nähe von Wesen in der Geist-Welt
gebracht, die eine solche Denkrichtung zur allein herrschenden
machen wollen. Da ist Einseitigkeit in der Erkenntnis nicht
bloß der Anlaß zu abstrakter Verirrung; da ist
geist-lebendiger Verkehr mit Wesen, was in der Menschenwelt
Irrtum ist. Von ahrimanischen Wesenheiten habe ich später
gesprochen, wenn ich in diese Richtung weisen wollte. Für sie
ist absolute Wahrheit, daß die Welt Maschine sein müsse. Sie
leben in einer Welt, die an die sinnenfällige unmittelbar
angrenzt.
Mit meinen eigenen Ideen bin
ich keinen Augenblick dieser Welt verfallen. Auch nicht im
Unbewußten. Denn ich wachte sorgfältig darüber, daß sich
all mein Erkennen im besonnenen Bewußtsein vollzog. Um
so bewußter war auch mein innerer Kampf gegen die
dämonischen Mächte, die nicht aus der Naturerkenntnis
Geist-Anschauung, sondern mechanistisch-materialistische
Denkart werden lassen wollten.
Der nach geistiger Erkenntnis
Suchende muß diese Welten erleben; bei ihm genügt
nicht ein bloßes theoretisches Denken darüber. Ich mußte
mir damals meine Geistanschauung in inneren Stürmen retten.
Diese Stürme standen hinter meinem äußeren Erleben.
Ich konnte in dieser
Prüfungszeit nur weiter kommen, wenn ich mit meiner
Geist-Anschauung die Entwickelung des Christentums mir vor die
Seele rückte. Das hat zu der Erkenntnis geführt, die in dem
Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» zum Ausdrucke
kam. Vorher deutete ich immer auf einen christlichen Inhalt,
der in den vorhandenen Bekenntnissen lebte. Das tat ja auch
Nietzsche.
An einer früheren Stelle
dieses Lebensganges (S. 95ff.) schildere ich ein Gespräch
über Christus, das ich mit dem gelehrten Zisterzienser und
Professor an der katholisch-theologischen Fakultät in Wien
gehabt habe. Skeptischer Stimmung stand ich gegenüber. Ich
fand das Christentum, das ich suchen mußte, nirgends in den
Bekenntnissen vorhanden. Ich mußte mich, nachdem die
Prüfungszeit mich harten Seelenkämpfen ausgesetzt hatte,
selber in das Christentum versenken, und zwar in der Welt, in
der das Geistige darüber spricht.
An meiner Stellung zum
Christentum wird voll anschaulich, wie ich in der
Geisteswissenschaft gar nichts auf dem Wege gesucht und
gefunden habe, den manche Menschen mir zuschreiben. Die
stellen die Sache so hin, als ob ich aus alten
Überlieferungen die Geist-Erkenntnis zusammengestellt hätte.
Gnostische und andere Lehren hätte ich verarbeitet. Was im
«Christentum als mystische Tatsache» an Geist-Erkenntnis
gewonnen ist, das ist aus der Geistwelt selbst unmittelbar
herausgeholt. Erst um Zuhörern beim Vortrag, Lesern des
Buches den Einklang des geistig Erschauten mit den
historischen Überlieferungen zu zeigen, nahm ich diese vor
und fügte sie dem Inhalte ein. Aber nichts, was in diesen
Dokumenten steht, habe ich diesem Inhalte eingefügt, wenn ich
es nicht erst im Geiste vor mir gehabt habe.
In der Zeit, in der ich die dem
Wort-Inhalt nach Späterem so widersprechenden Aussprüche
über das Christentum tat, war es auch, daß dessen wahrer
Inhalt in mir begann keimhaft vor meiner Seele als innere
Erkenntnis-Erscheinung sich zu entfalten. Um die Wende des
Jahrhunderts wurde der Keim immer mehr entfaltet. Vor dieser
Jahrhundertwende stand die geschilderte Prüfung der Seele.
Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von
Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei
meiner Seelen-Entwickelung an.
TB 636 (XXVI.), S
270 ff
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