Berlin
Hegel und Stirner
Mir schwebte damals vor, wie
die Jahrhundertwende ein neues geistiges Licht der Menschheit
bringen müsse. Es schien mir, daß die Abgeschlossenheit des
menschlichen Denkens und Wollens vom Geiste einen Höhepunkt
erreicht hätte. Ein Umschlagen des Werdeganges der
Menschheitsentwickelung schien mir eine Notwendigkeit.
In diesem Sinne sprachen viele.
Aber sie hatten nicht im Auge, daß der Mensch suchen werde,
auf eine wirkliche Geistwelt seine Aufmerksamkeit zu richten,
wie er sie durch die Sinne auf die Natur richtet. Sie
vermeinten nur, daß die subjektive Geistesverfassung der
Seelen einen Umschwung erfahren werde. Daß eine wirkliche
neue, objektive Welt sich offenbaren könne, das zu denken,
lag außerhalb des damaligen Gesichtskreises.
Mit den Empfindungen, die aus
meiner Zukunftsperspektive und aus den Eindrücken der Umwelt
sich ergaben, mußte ich immer wieder den Geistesblick in das
Werden des neunzehnten Jahrhunderts zurückwenden.
Ich sah, wie mit der Goethe-
und Hegel-Zeit alles verschwindet, was in die menschliche
Denkungsart erkennend Vorstellungen von einer geistigen Welt
aufnimmt. Das Erkennen sollte fortan durch Vorstellungen von
der geistigen Welt nicht «verwirrt» werden. Diese
Vorstellungen verwies man in das Gebiet des Glaubens und des
«mystischen» Erlebens.
In Hegel erblickte ich den
größten Denker der neuen Zeit. Aber er war eben nur Denker.
Für ihn war die Geistwelt im Denken. Gerade, indem ich
restlos bewunderte, wie er allem Denken Gestaltung gab,
empfand ich doch, daß er kein Gefühl für die Geistwelt
hatte, die ich schaute, und die erst hinter dem Denken
offenbar wird, wenn das Denken sich erkraftet zu einem
Erleben, dessen Leib gewissermaßen Denken ist, und der als
Seele in sich den Geist der Welt aufnimmt.
Weil im Hegeltum alles Geistige
zum Denken geworden ist, stellte sich mir Hegel als die
Persönlichkeit dar, die ein allerletztes Aufdämmern alten
Geisteslichtes in eine Zeit brachte, in der sich für das
Erkennen der Menschheit der Geist in Finsternis hüllte.
All dies stand so vor mir, ob
ich in die geistige Welt schaute, oder ob ich in der
physischen Welt auf das ablaufende Jahrhundert zurücksah.
Aber nun trat eine Gestalt in diesem Jahrhundert auf, die ich nicht
bis in die geistige Welt hinein verfolgen konnte: Max
Stirner.
Hegel ganz Denkmensch, der in
der inneren Entfaltung ein Denken anstrebte, das zugleich sich
immer mehr vertiefte und im Vertiefen über größere
Horizonte erweiterte. Dieses Denken sollte zuletzt im
Vertiefen und Erweitern Eins werden mit dem Denken des
Weltgeistes, das allen Welt-Inhalt einschließt. Und Stirner,
alles, was der Mensch aus sich entfaltet, ganz aus dem
individuell-persönlichen Willen holend. Was in der Menschheit
entsteht, nur im Nebeneinander der einzelnen
Persönlichkeiten.
Ich durfte gerade in jener Zeit
nicht in Einseitigkeit verfallen. Wie ich im Hegeltum ganz
darinnen stand, es in meiner Seele erlebend wie mein eigenes
inneres Erleben, so mußte ich auch in diesen Gegensatz
innerlich ganz untertauchen.
Gegenüber der
Einseitigkeit, den Weltgeist bloß mit Wissen auszustatten, mußte
ja die andere auftreten, den
einzelnen Menschen bloß als Willenswesen geltend zu machen.
Hätte nun die Sache so
gelegen, daß diese Gegensätze nur in mir, als
Seelenerlebnisse meiner Entwickelung aufgetreten wären, so
hätte ich davon nichts einfließen lassen in meine Schriften
oder Reden. Ich habe es mit solchen Seelenerlebnissen
immer so gehalten. Aber dieser Gegensatz: Hegel und
Stirner, gehörte dem Jahrhundert an. Das Jahrhundert sprach
sich durch sie aus. Und es ist ja so, daß Philosophen im
wesentlichen nicht durch ihre Wirkung auf ihre Zeit in
Betracht kommen.
Man kann zwar gerade bei
Hegel von starken Wirkungen sprechen. Aber das ist nicht die
Hauptsache. Philosophen zeigen durch den Inhalt ihrer Gedanken
den Geist ihres Zeitalters an, wie das Thermometer die Wärme
eines Ortes anzeigt. In den Philosophen wird bewußt,
was unterbewußt
in dem Zeitalter lebt.
Und so lebt das neunzehnte
Jahrhundert in seinen Extremen durch die Impulse, die durch
Hegel und Stirner sich ausdrücken: unpersönliches Denken,
das am liebsten in einer Weltbetrachtung sich ergeht, an der
der Mensch mit den schaffenden Kräften seines Innern keinen
Anteil hat; ganz persönliches Wollen, das für harmonisches
Zusammenwirken der Menschen wenig Sinn hat. Zwar treten alle
möglichen «Gesellschafts-Ideale» auf; aber sie haben keine
Kraft, die Wirklichkeit zu beeinflussen. Diese gestaltet sich
immer mehr zu dem, was entstehen kann, wenn die Willen
Einzelner nebeneinander wirken.
Hegel will, daß im
Zusammenleben der Menschen der Gedanke des Sittlichen
objektive Gestalt annimmt; Stirner fühlt den «Einzelnen»
(Einzigen) beirrt durch alles, was so dem Leben der Menschen
harmonisierte Gestalt geben kann.
John Henry Mackay
Bei
mir verband sich mit der Betrachtung Stirners damals eine Freundschaft,
die bestimmend auf so manches in dieser Betrachtung wirkte. Es ist
die Freundschaft zu dem bedeutenden Stirner-Kenner und -Herausgeber
J. H. Mackay. Es war noch in Weimar, da brachte mich Gabriele Reuter
mit dieser mir sogleich durch und durch sympathischen Persönlichkeit
zusammen. Er hatte sich in meiner
«Philosophie der Freiheit» mit den Abschnitten befaßt,
die vom ethischen Individualismus sprechen. Er fand eine Harmonie
zwischen meinen Ausführungen und seinen eigenen sozialen Anschauungen.
Mir war zunächst der
persönliche Eindruck, den ich von J. H. Mackay hatte, das
meine Seele ihm gegenüber Erfüllende. Er trug «Welt» in
sich. In seiner ganzen äußern und innern Haltung sprach
Welterfahrung. Er hatte Zeiten in England, in Amerika
zugebracht. Das alles war in eine grenzenlose
Liebenswürdigkeit getaucht. Ich faßte eine große Liebe zu
dem Manne.
Als dann 1898 J. H. Mackay in
Berlin zu dauerndem Aufenthalte erschien, entwickelte sich
eine schöne Freundschaft zwischen uns. Leider ist auch diese
durch das Leben und namentlich durch mein öffentliches
Vertreten der Anthroposophie zerstört worden.
Ich darf in diesem Falle nur
ganz subjektiv schildern, wie mir J. H. Mackays Werk
damals erschien und heute noch immer erscheint, und wie es
damals in mir gewirkt hat. Denn ich weiß, daß er sich selbst
darüber ganz anders aussprechen würde.
Tief verhaßt war diesem Manne
im sozialen Leben der Menschen alles, was Gewalt (Archie) ist.
Die größte Verfehlung sah er in dem Eingreifen der Gewalt in
die soziale Verwaltung. In dem «kommunistischen Anarchismus»
sah er eine soziale Idee, die im höchsten Grade verwerflich
ist, weil sie bessere Mensch-heitszustände mit Anwendung von
Gewaltmitteln herbeiführen wollte.
Nun war das Bedenkliche, daß
J. H. Mackay diese Idee und die auf sie gegründete Agitation
bekämpfte, indem er für seine eigenen sozialen Gedanken
denselben Namen wählte, den die Gegner hatten, nur mit einem
andern Eigenschaftswort davor. «Individualistischer
Anarchismus» nannte er, was er selber vertrat, und zwar als Gegenteil
dessen, was man damals Anarchismus nannte. Das gab
natürlich dazu Anlaß, daß in der Öffentlichkeit nur
schiefe Urteile über Mackays Ideen sich bilden konnten. Er
stand im Einklänge mit dem Amerikaner B. Tucker, der
die gleiche Ansicht vertrat. Tucker besuchte Mackay in Berlin,
wobei ich ihn kennen lernte.
Mackay ist zugleich Dichter seiner
Lebensauffassung. Er schrieb einen Roman: «Die Anarchisten».
Ich las ihn, nachdem ich den Verfasser kennen gelernt hatte.
Es ist dies ein edles Werk des Vertrauens in den einzelnen
Menschen. Es schildert eindringlich und mit großer
Anschaulichkeit die sozialen Zustände der Ärmsten der Armen.
Es schildert aber auch, wie aus dem Weltelend heraus die Menschen
den Weg zur Besserung finden werden, die ganz den guten
Kräften der Menschennatur hingegeben, diese so zur Entfaltung
bringen, daß sie im freien Zusammensein der Menschen sozial,
ohne Gewalt notwendig zu machen, wirken. Mackay hatte das edle
Vertrauen in die Menschen, daß sie durch sich selbst eine
harmonische Lebensordnung schaffen können. Allerdings hielt
er dafür, daß dies erst nach langer Zeit möglich sein
werde, wenn auf geistigem Wege im Innern der Menschen sich der
entsprechende Umschwung vollzogen haben werde. Deshalb
forderte er für die Gegenwart von dem Einzelnen, der weit
genug dazu ist, die Verbreitung der Gedanken von diesem
geistigen Wege. Eine soziale Idee also, die nur mit geistigen
Mitteln arbeiten wollte.
J. H. Mackay gab seiner
Lebensansicht auch in Gedichten Ausdruck. Freunde sahen
darinnen etwas Lehrhaftes und Theoretisches, das
unkünstlerisch sei. Ich hatte diese Gedichte sehr lieb.
Das Schicksal hatte nun mein
Erlebnis mit J. H. Mackay und mit Stirner so gewendet, daß
ich auch da untertauchen mußte in eine Gedankenwelt, die mir
zur geistigen Prüfung wurde. Mein ethischer
Individualismus war als reines Innen-Erlebnis des Menschen
empfunden. Mir lag ganz fern, als ich ihn ausbildete, ihn zur
Grundlage einer politischen Anschauung zu machen. Damals nun,
um 1898 herum, sollte meine Seele mit dem rein ethischen
Individualismus in eine Art Abgrund gerissen werden. Er sollte
aus einem rein-menschlich Innerlichen zu etwas Äußerlichem
gemacht werden. Das Esoterische sollte ins Exoterische
abgelenkt werden.
Als ich dann, im Beginne des
neuen Jahrhunderts, in Schriften wie «Die Mystik im
Aufgange» und das «Christentum als mystische Tatsache» mein
Erleben des Geistigen geben konnte, stand, nach der Prüfung,
der «ethische Individualismus» wieder an seinem richtigen
Orte. Doch verlief auch da die Prüfung so, daß im
Vollbewußtsein die Veräußerlichung keine Rolle spielte. Sie
lief unmittelbar unter diesem Vollbewußtsein ab, und konnte
ja gerade wegen dieser Nähe in die Ausdrucksformen
einfließen, in denen ich in den letzten Jahren des vorigen
Jahrhunderts von sozialen Dingen sprach. Doch muß man auch da
gewissen, allzu radikal erscheinenden Ausführungen andere
gegenüberstellen, um ein rechtes Bild zu erhalten.
Der in die Geistwelt Schauende
findet sein eigenes Wesen immer veräußerlicht, wenn er
Meinungen, Ansichten aussprechen soll. Er tritt in die
Geistwelt nicht in Abstraktionen, sondern in lebendigen
Anschauungen. Auch die Natur, die ja das sinnenfällige Abbild
des Geistigen ist, stellt nicht Meinungen, Ansichten auf,
sondern sie stellt ihre Gestalten und ihr Werden vor die Welt
hin.
Ein inneres Bewegtsein, das
alle meine Seelenkräfte in Wogen und Wellen brachte, war
damals mein inneres Erlebnis.
Eheschließung mit Anna
Eunike
Mein
äußeres Privatleben wurde mir dadurch zu einem äußerst befriedigenden
gemacht, daß die Familie Eunike nach Berlin gezogen ist, und ich
bei ihr unter bester Pflege wohnen konnte, nachdem ich kurze Zeit
das ganze Elend des Wohnens in einer eigenen Wohnung durchgemacht
hatte. Die Freundschaft zu Frau Eunike wurde bald darauf in eine
bürgerliche Ehe umgewandelt. Nur dieses sei über diese Privatverhältnisse
gesagt. Ich will von dem Privatleben in diesem «Lebensgange» nirgends
etwas anderes erwähnen, als was in meinen Werdegang hineinspielt.
Und das Leben im Eunike'schen Hause gab mir damals die Möglichkeit,
eine ungestörte Grundlage für ein innerlich und äußerlich bewegtes
Leben zu haben. Im übrigen gehören Privatverhältnisse nicht in die
Öffentlichkeit. Sie gehen sie nichts an.
Und mein geistiger Werdegang
ist ja ganz und gar unabhängig von allen
Privatverhältnissen. Ich habe das Bewußtsein, er wäre der
ganz gleiche gewesen bei ganz anderer Gestaltung meines
Privatlebens.
In alle Bewegtheit des
damaligen Lebens fiel nun die fortwährende Sorge um die
Existenzmöglichkeit des «Magazins» hinein. Trotz all der
Schwierigkeiten, die ich hatte, wäre die Wochenschrift zur
Verbreitung zu bringen gewesen, wenn mir materielle Mittel zur
Verfügung gestanden hätten. Aber eine Zeitschrift, die nur
äußerst mäßige Honorare zahlen kann, die mir selbst fast
gar keine materielle Lebensgrundlage gab, für die gar nichts
getan werden konnte, um sie bekannt zu machen: die konnte bei
dem geringen Maße von Verbreitung, mit dem ich sie
übernommen hatte, nicht gedeihen.
Ich gab das «Magazin» heraus,
indem es für mich eine ständige Sorge war.
TB 636 (XXVII.), S
273 ff
|