Berlin
Die «Wilhelm
Liebknecht Arbeiterbildungsschule»
In dieser für mich schweren Zeit trat nun der Vorstand der Berliner
Arbeiterbildungsschule an mich heran mit dem Ersuchen, ich solle
in dieser Schule den Unterricht in Geschichte und «Rede»übungen
übernehmen. Mich interessierte zunächst der sozialistische Zusammenhang,
in dem die Schule stand, wenig. Ich sah die schöne Aufgabe vor mir,
gereifte Männer und Frauen aus dem Arbeiterstande zu belehren. Denn
junge Leute waren wenige unter den «Schülern». Ich erklärte dem
Vorstande, wenn ich den Unterricht übernähme, so würde ich ganz
nach meiner Meinung von dem Entwickelungsgange der Menschheit Geschichte
vortragen, nicht in dem Stil, wie das nach dem Marxismus jetzt in
sozialdemokratischen Kreisen üblich sei. Man blieb dabei, meinen
Unterricht zu wünschen.
Nachdem ich diesen Vorbehalt gemacht hatte, konnte es mich
nicht mehr berühren, daß die Schule eine sozialdemokratische
Gründung des alten Liebknecht (des Vaters) war. Für mich
bestand die Schule aus Männern und Frauen aus dem
Proletariat; mit der Tatsache, daß weitaus die meisten
Sozialdemokraten waren, hatte ich nichts zu tun.
Aber ich hatte selbstverständlich mit der Geistesart der
«Schüler» zu tun. Ich mußte in Ausdrucksformen sprechen,
die mir bis dahin ganz ungewohnt waren. In die Begriffs- und
Urteilsformen dieser Leute mußte ich mich hineinfinden, um
einigermaßen verstanden zu werden.
Von zwei Seiten her kamen diese Begriffs- und
Urteilsformen. Zunächst aus dem Leben. Die materielle Arbeit
und deren Ergebnisse kannten diese Leute. Die die Menschheit
in der Geschichte vorwärts geleitenden geistigen Mächte
traten nicht vor ihre Seele. Deshalb hatte der Marxismus mit
der «materialistischen Geschichtsauffassung» so leichtes
Spiel. Er behauptete, die treibenden Kräfte im
geschichtlichen Werden seien nur die
wirtschaftlich-materiellen, die in materieller Arbeit
erzeugten. Die «geistigen Faktoren» seien bloß eine Art
Nebenprodukt, das aus dem Materiell-Wirtschaftlichen
aufsteigt: sie seien eine bloße Ideologie.
Dazu kam, daß sich damals in der Arbeiterschaft ein Eifer
nach wissenschaftlicher Bildung seit lange entwickelt hatte.
Aber der konnte nur in der populären
materialistisch-wissenschaftlichen Literatur befriedigt
werden. Denn nur diese Literatur traf eben auf die
Begriffs- und Urteilsformen der Arbeiter auf. Was nicht
materialistisch war, war so geschrieben, daß ein Verständnis
für den Arbeiter unmöglich war. So kam die unsäglich
tragische Tatsache, daß, als das werdende Proletariat mit
höchster Sehnsucht nach Erkenntnis begehrte, ihm diese nur
mit dem gröbsten Materialismus befriedigt wurde.
Man muß bedenken, daß in dem wirtschaftlichen
Materialismus, den die Arbeiter durch den Marxismus als
«materialistische Geschichte» in sich aufnehmen,
Teilwahrheiten stecken. Und daß diese Teilwahrheiten gerade
das sind, was sie leicht verstehen. Hätte ich daher mit
völligem Außerachtlassen dieser Teilwahrheiten idealistische
Geschichte gelehrt, man hätte in den materialistischen
Teilwahrheiten ganz unwillkürlich das empfunden, was von
meinem Vortrage zurückstieß.
Ich ging deshalb von einer auch für meine Zuhörer zu
begreifenden Wahrheit aus. Ich zeigte, wie bis zum sechzehnten
Jahrhundert von einer Herrschaft der wirtschaftlichen Kräfte,
so wie dies Marx tut, zu sprechen, ein Unding sei. Wie vom
sechzehnten Jahrhundert an die Wirtschaft erst in
Verhältnisse einrückt, die man marxistisch fassen kann; wie
dieser Vorgang dann im neunzehnten Jahrhundert seinen
Höhepunkt erlangt.
So war es möglich, für die vorangehenden Zeitalter der
Geschichte die ideell-geistigen Impulse ganz sachgemäß zu
besprechen und zu zeigen, wie diese in der neuesten Zeit
schwach geworden sind gegenüber den
materiell-wirtschaftlichen.
Die Arbeiter bekamen auf diese Art Vorstellungen von den
Erkenntnisfähigkeiten, den religiösen, den künstlerischen,
den sittlichen Triebkräften in der Geschichte und kamen davon
ab, diese nur als «Ideologie» anzusehen. Dabei polemisch
gegen den Materialismus zu werden, hätte gar keinen Sinn
gehabt; ich mußte aus dem Materialismus heraus den Idealismus
erstehen lassen.
In den «Redeübungen» konnte allerdings nur wenig nach
der
gleichen Richtung getan werden. Nachdem ich immer im
Beginne eines Kurses die formalen Regeln des Vortragens und
Redens erörtert hatte, sprachen die «Schüler» in
Übungsreden. Sie brachten da selbstverständlich das vor, was
ihnen nach ihrer materialistischen Art geläufig war.
Die «Führer» der Arbeiterschaft bekümmerten sich
zunächst gar nicht um die Schule. Und so hatte ich völlig
freie Hand.
Schwieriger wurde für mich die Sache, als zu dem
geschichtlichen Unterricht der naturwissenschaftliche
hinzuwuchs. Da war es besonders schwer, von den in der
Wissenschaft, namentlich bei deren Popularisatoren,
herrschenden materialistischen Vorstellungen zu sachgemäßen
aufzusteigen. Ich tat es, so gut es nur irgend ging.
Nun dehnte sich aber gerade durch die Naturwissenschaft
meine Unterrichtstätigkeit innerhalb der Arbeiterschaft aus.
Ich wurde von zahlreichen Gewerkschaften aufgefordert,
naturwissenschaftliche Vorträge zu halten. Insbesondere
wünschte man Belehrung über das damals Aufsehen machende
Buch Haeckels: «Welträtsel». Ich sah in dem positiv
biologischen Drittel dieses Buches eine präzis-kurze
Zusammenfassung der Verwandtschaft der Lebewesen. Was im
allgemeinen meine Überzeugung war, daß die Menschheit von
dieser Seite zur Geistigkeit geführt werden könne, das hielt
ich auch für die Arbeiterschaft richtig. Ich knüpfte meine
Betrachtungen an dieses Drittel des Buches an und sagte oft
genug, daß man die zwei ändern Drittel für wertlos halten
muß und eigentlich von dem Buche wegschneiden und vernichten
solle.
Als das Gutenberg-Jubiläum gefeiert wurde, übertrug man
mir die Festrede vor 7000 Setzern und Druckern in einem
Berliner Zirkus. Meine Art, zu den Arbeitern zu sprechen,
wurde also sympathisch empfunden.
Das Schicksal hatte mich mit dieser Tätigkeit wieder in
ein Stück Leben versetzt, in das ich unterzutauchen hatte.
Wie die Einzelseele innerhalb dieser Arbeiterschaft
schlummerte und träumte, und wie eine Art Massenseele diese
Menschheit ergriff, die Vorstellung, Urteil, Haltung
umschlang, das stellte sich vor mich hin.
Man darf sich aber nicht vorstellen, daß die Einzelseelen
erstorben gewesen wären. Ich habe nach dieser Richtung tiefe
Blicke in die Seelen meiner Schüler und überhaupt der
Arbeiterschaft tun können. Das trug mich in der Aufgabe, die
ich mir bei dieser ganzen Tätigkeit stellte. Die Stellung zum
Marxismus war damals bei den Arbeitern noch nicht so, wie zwei
Jahrzehnte später. Damals war ihnen der Marxismus etwas, das
sie wie ein ökonomisches Evangelium mit voller Überlegung
verarbeiteten. Später ist er etwas geworden, wovon die
proletarische Masse wie besessen ist.
Das Proletarierbewußtsein bestand damals in Empfindungen,
die wie Wirkung von Massensuggestionen sich ausnahmen. Viele
der Einzelseelen sagten immer wieder: es muß eine Zeit
kommen, in der die Welt wieder geistige Interessen entwickelt;
aber zunächst muß das Proletariat rein wirtschaftlich
erlöst werden.
Ich fand, daß meine Vorträge in den Seelen manches Gute
wirkten. Es wurde aufgenommen, auch was dem Materialismus und
der marxistischen Geschichtsauffassung widersprach. Als
später die «Führer» von meiner Art Wirken erfuhren, da
wurde es von ihnen angefochten. In einer Versammlung meiner
Schüler sprach einer dieser «kleinen Führer». Er sagte das
Wort: «Wir wollen nicht Freiheit in der proletarischen
Bewegung; wir wollen vernünftigen Zwang.» Es ging das darauf
hinaus, mich gegen den Willen meiner Schüler aus der
Schule hinauszutreiben. Mir wurde die Tätigkeit allmählich
so erschwert, daß ich sie bald, nachdem ich anthroposophisch
zu wirken begonnen hatte, fallen ließ.
Ich habe den Eindruck, wenn damals von Seite einer
größeren Anzahl unbefangener Menschen die Arbeiterbewegung
mit Interesse verfolgt und das Proletariat mit Verständnis
behandelt worden wäre, so hätte sich diese Bewegung ganz
anders entfaltet. Aber man überließ die Leute dem Leben
innerhalb ihrer Klasse, und lebte selbst innerhalb der
seinigen. Es waren bloß theoretische Ansichten, die die eine
Klasse der Menschen von der ändern hatte. Man verhandelte in
Lohnfragen, wenn Streiks u. dgl. dazu nötigten; man gründete
allerlei Wohlfahrtseinrichtungen. Das letztere war
außerordentlich anerkennenswert.
Aber alles Tauchen dieser weltbewegenden Fragen in eine
geistige Sphäre fehlte. Und doch hätte nur ein solches der
Bewegung ihre zerstörenden Kräfte nehmen können. Es war die
Zeit, in der die «höheren Klassen» das Gemeinschaftsgefühl
verloren, in der der Egoismus mit dem wilden Konkurrenzkampf
sich ausbreitete. Die Zeit, in der sich die Weltkatastrophe
des zweiten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts schon
vorbereitete. Daneben entwickelte das Proletariat auf seine
Art das Gemeinschaftsgefühl als proletarisches
Klassenbewußtsein. Es nahm an der «Kultur», die sich in den
«oberen Klassen» gebildet hatte, nur insoferne teil, als
diese Material lieferten zur Rechtfertigung des proletarischen
Klassenbewußtseins. Es fehlte allmählich jede Brücke
zwischen den verschiedenen Klassen.
So stand ich durch das «Magazin» in der Notwendigkeit, in
das bürgerliche Wesen unterzutauchen, durch meine Tätigkeit
in der Arbeiterschaft in das proletarische. Ein reiches Feld,
um die treibenden Kräfte der Zeit erkennend mitzuerleben.
TB 636 (XXVIII.), S
279 ff
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