1897-1900
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Berlin
Auf geistigem Gebiete wollte in
die Erkenntniserrungenschaften des letzten Drittels des
Jahrhunderts ein neues Licht in das Werden der Menschheit
hereinbrechen. Aber der geistige Schlaf, in den die
materialistische Ausdeutung dieser Errungenschaften versetzte,
verhinderte, dieses auch nur zu ahnen, geschweige denn zu
bemerken.
So kam die Zeit herauf,
die sich in geistiger Richtung durch ihr eigenes Wesen hätte
entwickeln müssen, die aber ihr eigenes Wesen verleugnete.
Die Zeit, die die Unmöglichkeit des Lebens zu verwirklichen
begann.
Einige Sätze aus Ausführungen
möchte ich hierhersetzen, die ich im März 1898 in den
«Dramaturgischen Blättern» (die seit Beginn 1898 dem
«Magazin» als Beiblatt angeschlossen waren) schrieb. Von der
«Vortragskunst» sage ich: «Mehr als auf irgend einem
ändern Gebiete ist auf diesem der Lernende ganz sich selber
und dem Zufall überlassen ... Bei der Gestalt, welche unser
öffentliches Leben angenommen hat, kommt gegenwärtig fast
jeder in die Lage, öfter öffentlich sprechen zu müssen ...
Die Erhebung der gewöhnlichen Rede zum Kunstwerk ist eine
Seltenheit ... Es fehlt uns fast ganz das Gefühl für die
Schönheit des Sprechens und noch mehr für charakteristisches
Sprechen ... Niemandem wird man das Recht zugestehen, über
einen Sänger zu schreiben, der keine Kenntnis des richtigen
Singens hat ... In bezug auf die Schauspielkunst stellt man
weit geringere Anforderungen ... Die Leute, die verstehen, ob
ein Vers richtig gesprochen wird oder nicht, werden immer
seltener ... Man hält künstlerisches Sprechen heute vielfach
für verfehlten Idealismus ... Dazu hätte man nie kommen
können, wenn man sich der künstlerischen
Ausbildungsfähigkeit der Sprache besser bewußt wäre ...»
Was mir da vorschwebte, konnte
erst viel später in der Anthroposophischen Gesellschaft eine
Art Verwirklichung finden. Marie v. Sivers (Marie Steiner),
die für Sprachkunst Begeisterte, widmete sich zunächst
selbst einem echt künstlerischen Sprechen; und mit ihrer
Hilfe wurde es dann möglich, in Kursen für Sprachgestaltung
und dramatische Darstellung für Erhebung dieses Gebietes zur
wahren Kunst zu wirken.
Ich durfte dieses hier
anführen, um zu zeigen, wie gewisse Ideale sich durch mein
ganzes Leben hindurch ihre Entfaltung suchen, weil doch viele
Menschen in meiner Entwickelung Widersprechendes finden
wollen.
Ludwig Jacobowski
In
diese Zeit fällt meine Freundschaft mit dem jung verstorbenen Dichter
Ludwig Jacobowski. Er war eine Persönlichkeit, deren seelische Grundstimmung
in innerer Tragik atmete. Er trug schwer an dem Schicksal, daß er
Jude war. Er stand einem Bureau vor, das, unter der Direktion eines
freisinnigen Abgeordneten, den Verein zur «Abwehr des Antisemitismus»
leitete und dessen Zeitschrift herausgab. Eine Überlast von Arbeit
lag auf Ludwig Jacobowski nach dieser Richtung. Und eine Arbeit,
die täglich einen brennenden Schmerz erneuerte. Denn sie stellte
täglich vor seine Seele die Vorstellung von der Stimmung gegen sein
Volk, an der er doch so sehr litt.
Daneben entfaltete er eine
reiche Tätigkeit auf dem Gebiete der Volkskunde. Er sammelte
alles, dessen er habhaft werden konnte, als Grundlage für ein
Werk über das Werden der Volkstümer seit Urzeiten. Einzelne
Aufsätze, die er aus seinem reichen Wissen auf diesem Gebiete
schrieb, sind sehr interessant. Sie sind zunächst im
materialistischen Sinne der Zeit geschrieben; aber Jacobowski
wäre, hätte er länger gelebt, sicher einer Vergeistigung
seines Forschens zugänglich gewesen.
Aus diesen Betätigungen
strahlt heraus Ludwig Jacobowskis Dichtung. Nicht ganz
ursprünglich; aber doch von tief menschlicher Empfindung und
voll eines seelenkräftigen Erlebens. «Leuchtende Tage»
nannte er seine lyrischen Dichtungen. Sie waren, wenn die
Stimmung sie ihm schenkte, in seiner Lebenstragik wirklich
das, was wie geistige Sonnentage für ihn wirkte. Daneben
schrieb er Romane. In «Werther der Jude» lebt alle innere
Tragik Ludwig Jacobowskis. In «Loki, Roman eines Gottes»
schuf er ein Werk, das aus deutscher Mythologie heraus geboren
ist. Das Seelenvolle, das aus diesem Roman spricht, ist ein
schöner Abglanz von des Dichters Liebe zum Mythologischen im
Volkstum.
Überschaut man, was Ludwig
Jacobowski leistete, so ist man erstaunt über die Fülle auf
den verschiedensten Gebieten. Trotzdem pflegte er Verkehr mit
vielen Menschen und fühlte sich wohl im geselligen Leben.
Dazu gab er damals noch die Monatsschrift «Die Gesellschaft»
heraus, die eine ungeheure Überbürdung für ihn bedeutete.
Er verzehrte sich am Leben,
nach dessen Inhalt er sehnsüchtig begehrte, um künstlerisch
dessen Gestaltung zu bewirken.
Er
gründete eine Gesellschaft «Die Kommenden», die aus Literaten, Künstlern,
Wissenschaftern und künstlerisch interessierten Persönlichkeiten
bestand. Da versammelte man sich jede Woche einmal. Dichter brachten
ihre Dichtungen vor. Vorträge über die mannigfaltigsten Gebiete
des Erkennens und Lebens wurden gehalten. Ein zwangloses Zusammensein
schloß den Abend. Ludwig Jacobowski war der Mittelpunkt des sich
immer mehr vergrößernden Kreises. Jeder liebte die liebenswürdige,
ideenerfüllte Persönlichkeit, die in dieser Gemeinschaft sogar feinen,
edlen Humor entfaltete.
Aus all dem riß ein jäher Tod
den erst Dreißigjährigen. An einer Hirnhautentzündung, der
Folge seiner unausgesetzten Anstrengungen, ging er zugrunde.
Mir blieb nur die Aufgabe, für
den Freund die Begräbnisrede zu halten und seinen Nachlaß zu
redigieren.
Ein schönes Denkmal in einem
Buche mit Beiträgen seiner Freunde setzte ihm die Dichterin
Marie Stona, mit der er befreundet war.
Alles an Ludwig Jacobowski war
liebewert; seine innere Tragik, sein Herausstreben aus dieser
zu seinen «leuchtenden Tagen», seine Hingabe an das bewegte
Leben. Ich habe das Andenken an unsere Freundschaft stets
lebendig im Herzen bewahrt und sehe auf die kurze Zeit unseres
Zusammenlebens mit inniger Hingabe an den Freund zurück.
Paul und Martha Asmus
Eine andere freundschaftliche
Beziehung entstand dazumal zu Martha Asmus; eine
philosophisch denkende, aber stark zum Materialismus neigende
Dame. Diese Neigung wurde allerdings dadurch gemildert, daß
Martha Asmus intensiv in den Erinnerungen an ihren früh
verstorbenen Bruder Paul Asmus lebte, der ein entschiedener
Idealist war.
Paul Asmus erlebt wie ein
philosophischer Eremit den philosophischen Idealismus der
Hegelzeit noch einmal im letzten Drittel des neunzehnten
Jahrhunderts. Er schreibt eine Schrift über das «Ich» und
eine solche über die indogermanischen Religionen. Beide in
der Form des Hegelstiles, aber im Inhalte durchaus
selbständig.
Diese interessante
Persönlichkeit, die damals schon lange nicht mehr lebte,
wurde mir durch die Schwester Martha Asmus recht nahe
gebracht. Wie ein neues meteorartiges Aufblitzen der
geistgeneigten Philosophie des Jahrhundertbeginnes gegen das
Jahrhundertende erschien sie mir.
Bruno Wille, Wilhelm
Bölsche und der «Giordano-Bruno-Bund»
Weniger
enge, aber immerhin eine Zeitlang bedeutsame Beziehungen bildeten
sich zu den «Friedrichhagenern» heraus, zu Bruno Wille und Wilhelm
Bölsche. Bruno Wille ist ja der Verfasser einer Schrift über «Philosophie
der Befreiung durch das reine Mittel». Nur der Titel hat den Anklang
an meine «Philosophie der Freiheit». Der Inhalt bewegt sich auf
einem ganz anderen Gebiete. In weitesten Kreisen bekannt wurde Bruno
Wille durch seine sehr bedeutenden «Offenbarungen des Wachholderbaumes».
Ein Weltanschauungsbuch aus dem schönsten Natursinn heraus geschrieben,
durchdrungen von der Überzeugung, daß Geist aus allem materiellen
Dasein spricht. Wilhelm Bölsche ist ja bekannt durch zahlreiche
populär-naturwissenschaftliche Schriften, die in weitesten Kreisen
ganz außerordentlich beliebt sind.
Von dieser Seite ging die
Begründung einer «Freien Hochschule» aus, zu der ich
zugezogen wurde. Es wurde mir der Unterricht in der Geschichte
zugeteilt. Bruno Wille besorgte das Philosophische, Bölsche
das Naturwissenschaftliche, Theodor Kappstein, ein freigeistig
gesinnter Theologe, die Erkenntnis des Religiösen.
Eine zweite Begründung war der
«Giordano-Bruno-Bund». Es sollten sich in demselben solche
Persönlichkeiten zusammenfinden, die einer
geistig-monistischen Weltanschauung sympathisch
gegenüberstanden. Es kam dabei auf die Betonung dessen an,
daß es nicht zwei Weltprinzipien, Stoff und Geist gebe,
sondern daß der Geist als Einheitsprinzip alles Sein bilde.
Bruno Wille leitete diesen Bund mit einem sehr geistvollen
Vortrage ein, dem er das Goethe'sche Wort zugrunde legte:
«Materie nie ohne Geist». Leider ergab sich zwischen Wille
und mir nach diesem Vortrage ein kleines Mißverständnis.
Meine an den Vortrag angeschlossenen Worte, daß Goethe, lange
nachdem er dies schöne Wort geprägt hatte, es in gewichtiger
Weise dadurch ergänzt habe, daß er in der wirksamen
Geisttätigkeit des Daseins Polarität und Steigerung als die
konkreten Geistgestaltungen gesehen habe, und daß dadurch das
allgemeine Wort erst vollen Inhalt bekomme, wurde wie ein
Einwand gegen Willes Vortrag genommen, den ich doch voll in
seiner Bedeutung anerkannte.
Aber vollends in einen
Gegensatz zu der Leitung des Giordano-Bruno-Bundes kam ich,
als ich einen Vortrag über den Monismus selbst hielt. Ich
betonte in demselben, daß die schroffe dualistische Fassung
«Stoff und Geist» eigentlich eine Schöpfung der neuesten
Zeit ist. Daß auch Geist und Natur in den Gegensatz, den der
Giordano-Bruno-Bund bekämpfen will, erst in den allerletzten
Jahrhunderten zu einander gebracht worden sind. Dann machte
ich darauf aufmerksam, wie diesem Dualismus gegenüber die
Scholastik Monismus sei. Wenn sie auch einen Teil des Seins
der menschlichen Erkenntnis entzogen und dem «Glauben»
zuerteilt habe, so stelle die Scholastik doch ein Weltsystem
dar, das von der Gottheit der Geistwelt bis in die
Einzelheiten der Natur hinein eine einheitliche (monistische)
Konstitution zeige. Damit stellte ich auch die Scholastik
höher als den Kantianismus.
Mit diesem Vortrage entfesselte
ich die größte Aufregung. Man dachte, ich wolle dem
Katholizismus in den Bund hinein die Wege öffnen. Nur
Wolfgang Kirchbach und Martha Asmus standen von den leitenden
Persönlichkeiten auf meiner Seite. Die ändern konnten sich
keine Vorstellung davon machen, was ich mit der «verkannten
Scholastik» eigentlich wolle. Jedenfalls waren sie davon
überzeugt, daß ich geeignet sei, in den Giordano-Bruno-Bund
die größte Verwirrung hineinzubringen.
Ich muß dieses Vertrages
gedenken, weil er in die Zeit fällt, in der später Viele
mich als Materialisten sehen. Dieser «Materialist» galt
damals zahlreichen Personen als der, der die mittelalterliche
Scholastik neuerdings heraufbeschwören möchte.
Trotz alledem konnte ich
später im Giordano-Bruno-Bund meinen grundlegenden
anthroposophischen Vortrag halten, der der Ausgangspunkt
meiner anthroposophischen Tätigkeit geworden ist.
Entschlüsse,
die notwendig sind, um Anthroposophie öffentlich vertreten zu
können
Mit
dem öffentlichen Mitteilen dessen, was Anthroposophie als Wissen
von der geistigen Welt enthält, sind Entschlüsse notwendig, die
nicht ganz leicht werden.
Es werden sich diese
Entschlüsse am besten charakterisieren lassen, wenn man auf
einiges Historische blickt.
Entsprechend den ganz anders
gearteten Seelenverfassungen einer älteren Menschheit hat es
ein Wissen von der geistigen Welt immer, bis zum Beginne der
neueren Zeit, etwa bis zum vierzehnten Jahrhundert, gegeben.
Es war nur eben ganz anders als das den Erkenntnisbedingungen
der Gegenwart angemessene Anthroposophische.
Von dem genannten Zeitpunkte an
konnte die Menschheit zunächst keine Geist-Erkenntnis
hervorbringen. Sie bewahrte das «alte Wissen», das die
Seelen in bildhafter Form geschaut haben, und das auch nur in
symbolisch-bildlicher Form vorhanden war.
Dieses «alte Wissen» wurde in
alten Zeiten nur innerhalb der «Mysterien» gepflegt. Es
wurde denen mitgeteilt, die man erst reif dazu gemacht hatte,
den «Eingeweihten». Es sollte nicht an die Öffentlichkeit
gelangen, weil da die Tendenz zu leicht vorhanden ist, es
unwürdig zu behandeln. Diese Gepflogenheit haben nun
diejenigen spätem Persönlichkeiten beibehalten, die Kunde
von dem «alten Wissen» erlangten und es weiterpflegten. Sie
taten es in engsten Kreisen mit Menschen, die sie dazu
vorbereiteten.
Und so blieb es bis in die
Gegenwart.
Friedrich Eckstein
Von
den Persönlichkeiten, die mir mit einer solchen Forderung bezüglich
der Geist-Erkenntnis entgegentraten, will ich eine nennen, die innerhalb
des Wiener Kreises der Frau Lang, den ich gekennzeichnet habe, sich
bewegte, die ich aber auch in ändern Kreisen, in denen ich in Wien
verkehrte, traf. Es ist Friedrich Eckstein, der ausgezeichnete Kenner
jenes «alten Wissens». Friedrich Eckstein hat, solange ich mit ihm
verkehrte, nicht viel geschrieben. Was er aber schrieb, war
voll Geist. Aber niemand ahnt aus seinen Ausführungen zunächst den
intimen Kenner alter Geist-Erkenntnis. Die wirkt im Hintergrunde
seines geistigen Arbeitens. Eine sehr bedeutende Abhandlung habe
ich, lange nachdem das Leben auch von diesem Freunde mich entfernt
hatte, in einer Schriftensammlung gelesen über die böhmischen Brüder.
Friedrich Eckstein vertrat nun
energisch die Meinung, man dürfe die esoterische
Geist-Erkenntnis nicht wie das gewöhnliche Wissen öffentlich
verbreiten. Er stand mit dieser Meinung nicht allein; sie war
und ist die fast aller Kenner der «alten Weisheit».
Inwiefern in der von H. P. Blavatsky begründeten «Theosophi-schen
Gesellschaft» die als Regel von den Bewahrern «alter
Weisheit» streng geltend gemachte Meinung durchbrochen wurde,
davon werde ich später zu sprechen haben.
Friedrich Eckstein wollte, daß
man als «Eingeweihter in altes Wissen» das, was man
öffentlich vertritt, einkleidet mit der Kraft, die aus dieser
«Einweihung» kommt, daß man aber dieses Exoterische streng
scheide von dem Esoterischen, das im engsten Kreise bleiben
solle, der es voll zu würdigen versteht.
Ich mußte mich, sollte ich
eine öffentliche Tätigkeit für Geist-Erkenntnis entfalten,
entschließen, mit dieser Tradition zu brechen. Ich sah mich
vor die Bedingungen des geistigen Lebens der Gegenwart
gestellt. Denen gegenüber sind Geheimhaltungen, wie sie in
älteren Zeiten selbstverständlich waren, eine
Unmöglichkeit. Wir leben in der Zeit, die Öffentlichkeit
will, wo irgend ein Wissen auftritt. Und die Anschauung von
der Geheimhaltung ist ein Anachronismus. Einzig und allein
möglich ist, daß man Persönlichkeiten stufenweise mit der
Geist-Erkenntnis bekannt macht und niemand zuläßt zu einer
Stufe, auf der die höhern Teile des Wissens mitgeteilt
werden, wenn er die niedrigeren noch nicht kennt. Das
entspricht ja auch den Einrichtungen der niedern und höhern
Schulen.
Ich hatte auch niemand
gegenüber eine Verpflichtung zur Geheimhaltung. Denn ich nahm
von «alter Weisheit» nichts an; was ich an Geist-Erkenntnis
habe, ist durchaus Ergebnis meiner eigenen Forschung. Nur,
wenn sich mir eine Erkenntnis ergeben hat, so ziehe ich
dasjenige heran, was von irgend einer Seite an «altem
Wissen» schon veröffentlicht ist, um die Übereinstimmung
und zugleich den Fortschritt zu zeigen, der der gegenwärtigen
Forschung möglich ist.
So war ich mir denn von einem
gewissen Zeitpunkte an ganz klar darüber, daß ich mit einem
öffentlichen Auftreten mit der Geist-Erkenntnis das Rechte
tue.
TB 636 (XXIX.), S
284 ff
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