1899-1902
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Berlin
Goethes Märchen von der «grünen Schlange und der
schönen Lilie»
Der Wille, das Esoterische, das in
mir lebte, zur öffentlichen Darstellung zu bringen, drängte mich
dazu, zum 28. August 1899, als zu Goethes hundertfünfzigstem Geburtstag,
im «Magazin» einen Aufsatz über
Goethes Märchen von der «grünen Schlange und der schönen Lilie»
unter dem Titel
«Goethes geheime Offenbarung» zu schreiben. — Dieser
Aufsatz ist ja allerdings noch wenig esoterisch. Aber mehr, als
ich gab, konnte ich meinem Publikum nicht zumuten. - In meiner Seele
lebte der Inhalt des Märchens als ein durchaus esoterischer. Und
aus einer esoterischen Stimmung sind die Ausführungen geschrieben.
Seit den achtziger Jahren
beschäftigten mich Imaginationen, die sich bei mir an dieses
Märchen geknüpft haben. Goethes Weg von der Betrachtung der
äußeren Natur zum Innern der menschlichen Seele, wie er ihn
sich nicht in Begriffen, sondern in Bildern vor den Geist
stellte, sah ich in dem Märchen dargestellt. Begriffe
schienen Goethe viel zu arm, zu tot, um das Leben und Wirken
der Seelenkräfte darstellen zu können.
Nun war ihm in Schillers
«Briefen über ästhetische Erziehung» ein Versuch
entgegengetreten, dieses Leben und Wirken in Begriffe zu
fassen. Schiller versuchte zu zeigen, wie das Leben des
Menschen durch seine Leiblichkeit der Naturnotwendigkeit und
durch seine Vernunft der Geistnotwendigkeit unterliege. Und er
meint, zwischen beiden müsse das Seelische ein inneres
Gleichgewicht herstellen. In diesem Gleichgewicht lebe dann
der Mensch in Freiheit ein wirklich menschenwürdiges Dasein.
Das ist geistvoll; aber für
das wirkliche Seelenleben viel zu einfach. Dieses läßt seine
Kräfte, die in den Tiefen wurzeln, im Bewußtsein
aufleuchten; aber im Aufleuchten, nachdem sie andere ebenso
flüchtige beeinflußt haben, wieder verschwinden. Das sind
Vorgänge, die im Entstehen schon vergehen; abstrakte Begriffe
aber sind nur an mehr oder weniger lang Bleibendes zu
knüpfen.
Das alles wußte Goethe
empfindend; er setzte sein Bildwissen im Märchen dem
Schiller'schen Begriffswissen gegenüber.
Man ist mit einem Erleben
dieser Goethe'schen Schöpfung im Vorhof der Esoterik.
Vorträge in der
Theosophischen Bibliothek von Graf und Gräfin Brockdorff
Es war dies die Zeit, in der
ich durch Gräfin und Graf Brockdorff aufgefordert wurde, an
einer ihrer allwöchentlichen Veranstaltungen einen Vortrag zu
halten. Bei diesen Veranstaltungen kamen Besucher aus allen
Kreisen zusammen. Die Vorträge, die gehalten wurden,
gehörten allen Gebieten des Lebens und der Erkenntnis an. Ich
wußte von alledem nichts, bis ich zu einem Vortrage
eingeladen wurde, kannte auch die Brockdorffs nicht, sondern
hörte von ihnen zum ersten Male. Als Thema schlug man mir
eine Ausführung über Nietzsche vor. Diesen Vortrag hielt
ich. Nun bemerkte ich, daß innerhalb der Zuhörerschaft
Persönlichkeiten mit großem Interesse für die Geistwelt
waren. Ich schlug daher, als man mich aufforderte, einen
zweiten Vortrag zu halten, das Thema vor: «Goethes geheime
Offenbarung». Und in diesem Vortrag wurde ich in
Anknüpfung an das Märchen ganz esoterisch. Es war ein
wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt
heraus geprägt waren, sprechen zu können, nachdem ich bisher
in meiner Berliner Zeit durch die Verhältnisse gezwungen war,
das Geistige nur durch meine Darstellungen durchleuchten zu
lassen.
Nun waren Brockdorffs die
Leiter eines Zweiges der «Theosophischen Gesellschaft», die
von Blavatsky begründet worden war. Was ich in Anknüpfung an
das Märchen Goethes gesagt hatte, führte dazu, daß
Brockdorffs mich einluden, vor den mit ihnen verbundenen
Mitgliedern der «Theosophischen Gesellschaft» regelmäßig
Vorträge zu halten. Ich erklärte, daß ich aber nur über
dasjenige sprechen könne, was in mir als Geisteswissenschaft
lebt.
Ich konnte auch wirklich von
nichts anderem sprechen. Denn von der von der «Theosophischen
Gesellschaft» ausgehenden Literatur war mir sehr wenig
bekannt. Ich kannte Theosophen schon von Wien her, und lernte
später noch andere kennen. Diese Bekanntschaften veranlaßten
mich, im «Magazin» die abfällige Notiz über die Theosophen
beim Erscheinen einer Publikation von Franz Hartmann zu
schreiben. Und was ich sonst von der Literatur kannte, war mir
zumeist in Methode und Haltung ganz unsympathisch; ich hatte
nirgends die Möglichkeit, mit meinen Ausführungen daran
anzuknüpfen.
So hielt ich denn meine
Vorträge, indem ich an die Mystik des Mittelalters
anknüpfte. Durch die Meinungen der Mystiker von Meister
Eckhard bis zu Jacob Böhme fand ich die Ausdrucksmittel für
die geistigen Anschauungen, die ich eigentlich darzustellen
mir vorgenommen hatte. Ich faßte dann die Vorträge in dem
Buche zusammen «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen
Geisteslebens».
Bei
diesen Vorträgen erschien eines Tages als Zuhörerin Marie von
Sivers, die dann durch das Schicksal ausersehen ward, die Leitung
der bald nach Beginn meiner Vorträge gegründeten «Deutschen Sektion
der Theosophischen Gesellschaft» mit fester Hand zu übernehmen.
Innerhalb dieser Sektion konnte ich nun vor einer sich immer vergrößernden
Zuhörerschaft meine anthroposophische Tätigkeit entfalten.
Begründung der «Deutschen Sektion der
Theosophischen Gesellschaft»
Niemand blieb im Unklaren
darüber, daß ich in
der Theosophischen Gesellschaft nur die Ergebnisse meines
eigenen forschenden Schauens vorbringen werde. Denn ich sprach
es bei jeder in Betracht kommenden Gelegenheit aus. Und als in
Berlin im Beisein von Annie Besant die «Deutsche Sektion der
Theosophischen Gesellschaft» begründet und ich zu deren
General-Sekretär gewählt wurde, da mußte ich von den
Gründungssitzungen weggehen, weil ich einen der Vorträge vor
einem nicht-theosophischen Publikum zu halten hatte, in denen
ich den geistigen Werdegang der Menschheit behandelte, und bei
denen ich im Titel: «Eine Anthroposophie» ausdrücklich
hinzugefügt hatte. Auch Annie Besant wußte, daß ich, was
ich über Geistwelt zu sagen hatte, damals unter diesem Titel
in Vorträgen vorbrachte.
Als ich dann nach London zu
einem theosophischen Kongreß kam, da sagte mir eine der
leitenden Persönlichkeiten, in meinem Buche «Die Mystik
...» stünde die wahre Theosophie. Ich konnte damit zufrieden
sein. Denn ich hatte nur die Ergebnisse meiner Geistesschau
gegeben; und in der Theosophischen Gesellschaft wurden diese
angenommen. Es gab nun für mich keinen Grund mehr, vor dem
theosophischen Publikum, das damals das einzige war, das
restlos auf Geist-Erkenntnis einging, nicht in meiner An diese
Geist-Erkenntnis vorzubringen. Ich verschrieb mich keiner
Sektendogmatik; ich blieb ein Mensch, der aussprach, was er
glaubte aussprechen zu können ganz nach dem, was er selbst
als Geistwelt erlebte.
«Von Buddha zu
Christus»
Vor die Zeit der
Sektionsgründung fiel noch eine Vortragsreihe, die ich vor
dem Kreise der «Kommenden» hielt, «Von Buddha zu
Christus». Ich habe in diesen Ausführungen zu zeigen
versucht, welch einen gewaltigen Fortschritt das Mysterium von
Golgatha gegenüber dem Buddhaereignis bedeutet und wie die
Entwickelung der Menschheit, indem sie dem Christusereignis
entgegenstrebt, zu ihrer Kulmination kommt.
Auch sprach ich in demselben
Kreise über das Wesen der Mysterien.
Das alles wurde von meinen
Zuhörern hingenommen. Es wurde nicht in Widerspruch befunden
mit früheren Vorträgen, die ich gehalten habe. Erst als die
Sektion begründet wurde und ich damit als «Theosoph»
abgestempelt erschien, fing die Ablehnung an. Es war wirklich
nicht die Sache; es war der Name und der Zusammenhang
mit einer Gesellschaft, die niemand haben wollte.
Aber andrerseits wären meine
nicht-theosophischen Zuhörer nur geneigt gewesen, sich von
meinen Ausführungen «anregen» zu lassen, sie
«literarisch» aufzunehmen. Was mir auf dem Herzen lag, dem
Leben die Impulse der Geistwelt einzufügen, dafür gab es
kein Verständnis. Dieses Verständnis konnte ich aber
allmählich in theosophisch interessierten Menschen finden.
Vor dem Brockdorff-Kreise, vor
dem ich über Nietzsche und dann über Goethes geheime
Offenbarung gesprochen hatte, hielt ich in dieser Zeit einen
Vortrag über Goethes «Faust» vom esoterischen
Gesichtspunkte. (Es ist derselbe, der dann später mit meinen
Ausführungen über Goethes Märchen zusammen im
philosophisch-anthroposophischen Verlag erschienen ist.)
Die Vorträge über «Mystik
...» haben dazu geführt, daß derselbe theosophische Kreis
mich bat, im Winter darauf wieder zu ihm zu sprechen. Ich
hielt dann die Vortragsreihe, die ich in dem Buche «Das
Christentum als mystische Tatsache» zusammengefaßt habe.
Ich habe vom Anfange an
erkennen lassen, daß die Wahl des Titels «als mystische
Tatsache» wichtig ist. Denn ich habe nicht einfach den
mystischen Gehalt des Christentums darstellen wollen. Ich
hatte zum Ziel, die Entwickelung von den alten Mysterien zum
Mysterium von Golgatha hin so darzustellen, daß in dieser
Entwickelung nicht bloß die irdischen geschichtlichen Kräfte
wirken, sondern geistige außerirdische Impulse. Und ich
wollte zeigen, daß in den alten Mysterien Kultbilder
kosmischer Vorgänge gegeben waren, die dann in dem Mysterium
von Golgatha als aus dem Kosmos auf die Erde versetzte Tatsache
auf dem Plane der Geschichte sich vollzogen.
Das wurde
in der Theosophischen Gesellschaft nirgends gelehrt. Ich stand
mit dieser Anschauung in vollem Gegensatz zur damaligen
theosophischen Dogmatik, bevor man mich aufforderte, in der
Theosophischen Gesellschaft zu wirken.
Denn diese Aufforderung
erfolgte gerade nach dem hier beschriebenen Vortragszyklus
über Christus.
Marie von Sivers war zwischen
den beiden Vortragszyklen, die ich für die Theosophische
Gesellschaft hielt, in Italien (Bologna), um dort in dem
theosophischen Zweige für die Theosophische Gesellschaft zu
wirken.
Der theosophische
Kongreß in London 1902
So entwickelten sich die
Tatsachen bis zu meinem ersten Besuch eines theosophischen
Kongresses in London im Jahre 1902. Auf diesem Kongreß, an
dem auch Marie von Sivers teilnahm, war es schon als fertige
Tatsache angesehen, daß nun eine deutsche Sektion der
Gesellschaft mit mir, der kurz vorher eingeladen war, Mitglied
der Gesellschaft zu werden, als Generalsekretär begründet
werden sollte.
Der Besuch in London war von
großem Interesse für mich. Ich lernte da wichtige Führer
der Theosophischen Gesellschaft kennen. Im Hause Mr. Bertram
Keightleys, eines dieser Führer, durfte ich wohnen. Ich wurde
sehr befreundet mit ihm. Ich lernte Mr. Mead, den so
verdienstvollen Schriftsteller der theosophischen Bewegung,
kennen. Da wurden im Hause Bertram Keightleys die denkbar
interessantesten Gespräche über die Geist-Erkenntnisse
geführt, die in der Theosophischen Gesellschaft lebten.
Besonders mit Bertram Keightley
selbst wurden diese Gespräche intim. H. P. Blavatsky lebte
auf in diesen Gesprächen. Ihre ganze Persönlichkeit mit dem
reichen Geist-Inhalte schilderte mein lieber Gastgeber, der so
vieles durch sie erlebt hatte, mit größter Anschaulichkeit
vor mir und Marie von Sivers.
Flüchtiger lernte ich Annie
Besant kennen, ebenso Sinnett, den Verfasser des
«Esoterischen Buddhismus». Nicht kennen lernte ich
Mr. Leadbeater, den ich nur vom Podium herunter sprechen
hörte. Er machte auf mich keinen besonderen Eindruck.
All das Interessante, das ich
hörte, bewegte mich tief; auf den Inhalt meiner Anschauungen
hatte es aber keinen Einfluß.
Ich versuchte die
Zwischenzeiten, die mir von den Besuchen der
Kongreßversammlungen blieben, zu benützen, fleißig die
naturwissenschaftlichen und Kunstsammlungen Londons zu
besuchen. Ich darf sagen, daß mir an den
naturwissenschaftlichen und historischen Sammlungen manche
Idee über Natur- und Menschheitsentwickelung aufgegangen ist.
So hatte ich in diesem Londoner
Besuch ein für mich bedeutsames Ereignis durchgemacht. Ich
reiste mit den allermannigfaltigsten, meine Seele tief
bewegenden Eindrücken ab.
«Neujahrsbetrachtung eines
Ketzers»
In der ersten «Magazin»-Nummer
des Jahres 1899 findet man einen Artikel von mir mit der
Überschrift «Neujahrsbetrachtung eines Ketzers». Gemeint
ist da nicht eine Ketzerei gegenüber einem
Religionsbekenntnis, sondern gegenüber der
Kulturorientierung, welche die Zeit angenommen hatte.
Man stand vor den Toren eines
neuen Jahrhunderts. Das ablaufende hatte große
Errungenschaften auf den Gebieten des äußeren Lebens und
Wissens gebracht.
Dem gegenüber entrang sich mir
der Gedanke: «Trotz aller dieser und manch anderer
Errungenschaften z. B. auf dem Gebiete der Kunst, kann aber
der tiefer blickende Mensch gegenwärtig doch nicht recht froh
über den Bildungsinhalt der Zeit werden. Unsere höchsten
geistigen Bedürfnisse verlangen nach etwas, was die Zeit nur
in spärlichem Maße gibt.» Und im Hinblick auf die Leerheit
der damaligen Gegenwartskultur blickte ich zurück zur Zeit
der Scholastik, in der die Geister wenigstens noch begrifflich
mit dem Geiste lebten. «Man darf sich nicht wundern, wenn
gegenüber solchen Erscheinungen Geister mit tieferen
geistigen Bedürfnissen die stolzen Gedankengebäude der
Scholastik befriedigender finden als den Ideengehalt unserer
eigenen Zeit. Otto Willmann hat ein hervorragendes Buch
geschrieben, seine (Geschichte des Idealismus), in dem er sich
zum Lobredner der Weltanschauung vergangener Jahrhunderte
aufwirft. Man muß zugeben: der Geist des Menschen sehnt sich
nach jener stolzen, umfassenden Gedankendurchleuchtung, welche
das menschliche Wissen in den philosophischen Systemen der
Scholastiker erfahren hat.» Die «Mutlosigkeit ist ein
charakteristisches Merkmal des geistigen Lebens an der
Jahrhundertwende. Sie trübt uns die Freude an den
Errungenschaften der jüngst vergangenen Zeiten.»
Und gegenüber den
Persönlichkeiten, die geltend machten, daß gerade das
«wahre Wissen» die Unmöglichkeit eines Gesamtbildes des
Daseins in einer Weltanschauung beweise, mußte ich sagen:
«Ginge es nach der Meinung der Leute, die solche Stimmen
vernehmen lassen, so würde man sich begnügen, die Dinge und
Erscheinungen zu messen, zu wiegen, zu vergleichen, sie mit
den vorhandenen Apparaten zu untersuchen; niemals aber würde
die Frage erhoben nach dem höheren Sinn der Dinge und
Erscheinungen.»
Das ist meine Seelenstimmung,
aus der heraus die Tatsachen verstanden werden müssen, die
meine anthroposophische Tätigkeit innerhalb der
Theosophischen Gesellschaft herbeiführten. Wenn ich damals
aufgegangen war in der Zeitkultur, um für die Redaktion des
«Magazin» den geistigen Hintergrund zu haben, so war es mir
nachher ein tiefes Bedürfnis, die Seele an einer solchen
Lektüre wie Willmanns «Geschichte des Idealismus» zu
«erholen». Wenn auch ein Abgrund zwischen meiner
Geistanschauung und der Ideengestaltung Otto Willmanns war:
ich fühlte doch diese Ideengestaltung geistnahe.
Mit Ende September 1900 konnte
ich das «Magazin» in andere Hände übergehen lassen.
Die mitgeteilten Tatsachen
zeigen, daß mein Ziel nach einem Mitteilen des Inhaltes der
Geistwelt schon vor dem Aufgeben des «Magazin» aus
meiner Seelenverfassung heraus eine Notwendigkeit geworden
war, daß es nicht etwa mit der Unmöglichkeit, das
«Magazin» weiterzuführen, zusammenhängt.
Wie in das meiner Seele
vorbestimmte Element, ging ich in eine Betätigung, die ihre
Impulse in der Geist-Erkenntnis hatte, hinein.
Aber ich habe auch heute noch
das Gefühl, daß, wenn nicht die hier geschilderten Hemmnisse
vorhanden gewesen wären, auch mein Versuch, durch das
naturwissenschaftliche Denken hindurch zur Geist-Welt zu
führen, ein aussichtsvoller hätte werden können. Ich schaue
zurück auf das, was ich von 1897 bis 1900 ausgesprochen habe,
als auf etwas, das gegenüber der Denkweise der Zeit hat
einmal ausgesprochen werden müssen; und ich schaue
andrerseits zurück als auf etwas, in dem ich meine
intensivste geistige Prüfung durchgemacht habe. Ich habe
gründlich kennen gelernt, wo die vom Geiste wegstrebenden
Kultur-auflösenden, Kultur-zerstörenden Kräfte der Zeit
liegen. Und aus dieser Erkenntnis hat sich mir vieles zu der
Kraft hinzugesetzt, die ich weiterhin brauchte, um aus dem
Geiste heraus zu wirken.
«Welt- und
Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert»
Noch vor der Zeit der
Betätigung innerhalb der Theosophischen Gesellschaft, noch in
der letzten Zeit der Redaktion des «Magazin» liegt die
Ausarbeitung meines zweibändigen Buches «Welt- und
Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert», das dann von
der zweiten Auflage ab erweitert um einen Überblick über die
Entwickelung der Weltanschauungen von der Griechenzeit bis zum
neunzehnten Jahrhundert als «Rätsel der Philosophie»
erschienen ist.
Der äußere Anlaß zur
Entstehung dieses Buches ist als völlige Nebensache zu
betrachten. Er war dadurch gegeben, daß Cronbach, der
Verleger des «Magazin», eine Sammlung von Schriften
veranstaltete, die die verschiedenen Gebiete des Wissens und
Lebens in ihrer Entwickelung im neunzehnten Jahrhundert
behandeln sollten. Er wollte in dieser Sammlung auch eine
Darstellung der Welt- und Lebensanschauungen haben und
übertrug mir diese.
Ich hatte den ganzen Stoff des
Buches seit lange in meiner Seele. Meine Betrachtungen der
Weltanschauungen hatten in derjenigen Goethes einen
persönlichen Ausgangspunkt. Der Gegensatz, in den ich Goethes
Denkungsart zum Kantianismus bringen mußte, die neuen
philosophischen Ansätze an der Wende des achtzehnten und
neunzehnten Jahrhunderts in Fichte, Schelling, Hegel: das
alles war für mich der Anfang einer Epoche der
Weltanschauungsentwickelung. Die geistvollen Bücher Richard
Wahles, die die Auflösung alles philosophischen
Weltanschauungsstrebens am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
darstellten, schlössen diese Epoche. So rundete sich das
Weltanschauungsstreben des neunzehnten Jahrhunderts zu einem
Ganzen, das in meiner Anschauung lebte und das darzustellen
ich die Gelegenheit gerne ergriff.
Wenn ich auf dieses Buch
zurückblicke, so scheint mir mein Lebensgang gerade an ihm
sich symptomatisch auszudrücken. Ich bewegte mich nicht, wie
viele glauben, in Widersprüchen vorwärts. Wäre das der
Fall, ich würde es gerne zugeben. Allein es wäre nicht die
Wirklichkeit in meinem geistigen Fortgang. Ich bewegte mich so
vorwärts, daß ich zu dem, was in meiner Seele lebte, neue
Gebiete hinzufand. Und ein besonders regsames Hinzufinden auf
geistigem Gebiete fand bald nach der Bearbeitung der «Welt-
und Lebensanschauungen» statt.
Dazu kam, daß ich nirgends in
das Geistgebiet auf einem mystisch-gefühlsmäßigen Wege
vordrang, sondern überall über kristallklare Begriffe gehen
wollte. Das Erleben der Begriffe, der Ideen führte mich aus
dem Ideellen in das Geistig-Reale.
Die wirkliche Entwickelung des
Organischen von Urzeiten bis zur Gegenwart stand vor meiner
Imagination erst nach der Ausarbeitung der «Welt- und
Lebensanschauungen».
Während dieser hatte ich noch
die naturwissenschaftliche Anschauung vor dem Seelenauge, die
aus der Darwinschen Denkart hervorgegangen war. Aber diese
galt mir nur als eine in der Natur vorhandene sinnenfällige
Tatsachenreihe. Innerhalb dieser Tatsachenreihe waren für
mich geistige Impulse tätig, wie sie Goethe in seiner
Metamorphosenidee vorschwebten.
So stand die
naturwissenschaftliche Entwickelungsreihe, wie sie Haeckel
vertrat, niemals vor mir als etwas, worin mechanische oder
bloß organische Gesetze walteten, sondern als etwas, worin
der Geist die Lebewesen von den einfachen durch die
komplizierten bis herauf zum Menschen führt. Ich sah in dem
Darwinismus eine Denkart, die auf dem Wege zu der Goethe'schen
ist, aber hinter dieser zurückbleibt.
Das alles war von mir in
ideellem Inhalte noch gedacht; zur imaginativen
Anschauung arbeitete ich mich erst später durch. Erst diese
Anschauung brachte mir die Erkenntnis, daß in Urzeiten in
geistiger Realität ganz anderes Wesenhaftes vorhanden war als
die einfachsten Organismen. Daß der Mensch als Geist-Wesen
älter ist als alle ändern Lebewesen, und daß er, um seine
gegenwärtige physische Gestaltung anzunehmen, sich aus einem
Weltenwesen herausgliedern mußte, das ihn und die
ändern Organismen enthielt. Diese sind somit Abfälle der
menschlichen Entwickelung; nicht etwas, aus dem er
hervorgegangen ist, sondern etwas, das er zurückgelassen, von
sich abgesondert hat, um seine physische Gestaltung als Bild
seines Geistigen anzunehmen. Der Mensch als makrokosmisches
Wesen, das alle übrige irdische Welt in sich trug, und das
zum Mikrokosmos durch Absonderung des übrigen gekommen ist,
das war für mich eine Erkenntnis, die ich erst in den ersten
Jahren des neuen Jahrhunderts erlangte.
Und so konnte diese Erkenntnis
in den Ausführungen der «Welt- und Lebensanschauungen»
nirgends impulsierend wirken. Ich verfaßte gerade den zweiten
Band dieses Buches so, daß in einer vergeistigten Gestalt des
im Lichte der Goethe'schen Weltanschauung gesehenen
Darwinismus und Haeckelismus der Ausgangspunkt einer geistigen
Vertiefung in die Weltgeheimnisse gegeben sein sollte.
Als ich dann später die zweite
Auflage des Buches bearbeitete, da war in meiner Seele schon
die Erkenntnis von der wahren Entwickelung. Ich fand nötig,
obwohl ich den Gesichtspunkt, den ich in der ersten Auflage
eingenommen hatte, als das festhielt, was Denken ohne
geistige Anschauung geben kann, kleine Änderungen in der
Ausdrucksform vorzunehmen. Sie waren nötig, erstens weil doch
das Buch durch die Aufnahme des Überblicks über die
Gesamtphilosophie eine ganz andere Komposition hatte, und
zweitens, weil diese zweite Auflage erschien, als schon meine
Ausführungen über die wahre Entwickelung des Lebendigen der
Welt vorlagen.
Bei alledem hat die Gestalt,
die meine «Rätsel der Philosophie» bekommen haben, nicht
nur eine subjektive Berechtigung als festgehaltener
Gesichtspunkt aus einem gewissen Abschnitte meines geistigen
Werdeganges, sondern eine ganz objektive. Diese besteht
darin, daß ein Denken, wenn es auch geistig erlebt wird, als
Denken, die Entwickelung der Lebewesen nur so vorstellen kann,
wie das in meinem Buche dargestellt wird. Und daß der
weitere Schritt durch die geistige Anschauung geschehen muß.
So stellt mein Buch ganz
objektiv den vor-anthroposophischen Gesichtspunkt dar, in den
man untertauchen muß, den man im Untertauchen erleben muß,
um zu dem höheren aufzusteigen. Dieser Gesichtspunkt tritt
bei demjenigen Erkennenden auf als eine Etappe des
Erkenntnisweges, der nicht in mystisch-verschwommener, sondern
in geistig-klarer Art die Geistwelt sucht. In der Darstellung
dessen, was sich von diesem Gesichtspunkt aus ergibt, liegt
also etwas, das der Erkennende als Vorstufe des Höheren
braucht.
In Haeckel sah ich nun einmal
damals die Persönlichkeit, die mutvoll auf den denkerischen
Standpunkt in der Naturwissenschaft sich stellte, während die
andere Forscherwelt das Denken ausschloß und nur die
sinnenfälligen Beobachtungsergebnisse gelten lassen wollte.
Daß Haeckel auf das schaffende Denken bei Ergründung
der Wirklichkeit Wert legte: das zog mich immer wieder zu ihm
hin. Und so widmete ich ihm mein Buch, trotzdem dessen Inhalt
— auch in der damaligen Gestalt — durchaus nicht in seinem
Sinne verfaßt war. Aber Haeckel war eben so gar nicht
philosophischer Natur. Er stand der Philosophie ganz als Laie
gegenüber. Und deshalb erschienen mir die Angriffe der
Philosophen, die gerade damals auf Haeckel nur so
niederhagelten, als ganz unangebracht. In Opposition zu ihnen
widmete ich Haeckel das Buch, wie ich in Opposition zu ihnen
auch schon meine Schrift «Haeckel und seine Gegner» verfaßt
hatte. Haeckel hatte in voller Naivität gegenüber aller
Philosophie das Denken zu einem Mittel gemacht, die
biologische Wirklichkeit darzustellen; man richtete gegen ihn
philosophische Angriffe, die auf einem geistigen Gebiet lagen,
das ihm fremd war. Ich glaube, er hat nie gewußt, was die
Philosophen von ihm wollten. Es ergab sich mir dieses aus
einem Gespräch, das ich nach dem Erscheinen der
«Welträtsel» in Leipzig gelegentlich einer Aufführung des
Borngräber'schen Stückes «Giordano Bruno» mit ihm hatte.
Da sagte er: «Die Leute sagen, ich leugne den Geist. Ich
möchte, daß sie sehen, wie die Stoffe durch ihre Kräfte
sich gestalten, sie würden da <Geist> in jedem
Retortenvorgang wahrnehmen. Überall ist Geist.» Haeckel
wußte eben überhaupt nichts vom wirklichen Geist. Er sah in
den Kräften der Natur schon «Geist».
Man mußte damals nicht gegen
solche Blindheit für den Geist mit philosophisch toten
Begriffen kritisch vorgehen, sondern sehen, wie weit das
Zeitalter von Geist-Erleben entfernt ist, und versuchen, aus
den Grundlagen, die sich boten, der biologischen
Naturerklärung, den Geistesfunken zu schlagen.
Das war damals meine Meinung.
Aus ihr heraus schrieb ich auch meine «Welt- und
Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert».
TB 636 (XXX.), S
292 ff
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