1900-1913
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Berlin
Ein anderes Sammelwerk, das die
Kulturerrungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts
darstellte, wurde damals von Hans Kraemer herausgegeben. Es
bestand aus längeren Abhandlungen über die einzelnen Zweige
des Erkenntnislebens, des technischen Schaffens, der sozialen
Entwickelung.
Ich wurde eingeladen, eine
Schilderung des literarischen Lebens zu geben. Und so zog denn
damals auch die Entwickelung des Phantasielebens im
neunzehnten Jahrhundert durch meine Seele hindurch. Ich
schilderte nicht wie ein Philologe, der solche Dinge «aus den
Quellen heraus» arbeitet; ich schilderte, was ich an der
Entfaltung des Phantasielebens innerlich durchgemacht hatte.
Auch diese Darstellung war für
mich dadurch von Bedeutung, daß ich über Erscheinungen des
geistigen Lebens zu sprechen hatte, ohne daß ich auf das
Erleben der Geistwelt eingehen konnte. Das, was an
eigentlichen geistigen Impulsen aus dieser Welt sich in den
dichterischen Erscheinungen auslebt, blieb unerwähnt.
Auch in diesem Falle stellte
sich vor mich hin, was das Seelenleben über eine
Daseinserscheinung zu sagen hat, wenn es sich auf den
Gesichtspunkt des gewöhnlichen Bewußtseins stellt, ohne den
Inhalt dieses Bewußtseins so in Aktivität zu bringen, daß
er erlebend in die Geist-Welt aufsteigt.
«Der Egoismus in der Philosophie»
Noch bedeutungsvoller erlebte
ich dieses «Stehen vor dem Tore» der Geistwelt in einer
Abhandlung, die ich für ein anderes Werk zu schreiben hatte.
Es war dies kein Jahrhundertwerk, sondern eine Sammlung von
Aufsätzen, die die verschiedenen Erkenntnis- und
Lebensgebiete charakterisieren sollten, insofern in der
Entfaltung dieser Gebiete der menschliche «Egoismus» eine
treibende Kraft ist. Arthur Dix gab dieses Werk heraus. Es
hieß «Der Egoismus» und war durchaus der Zeit — Wende des
neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts — entsprechend.
Die Impulse des
Intellektualismus, die sich seit dem fünfzehnten Jahrhundert
auf allen Gebieten des Lebens geltend gemacht hatten, wurzeln
im «einzelnen Seelenleben», wenn sie wirklich echte
Äußerungen ihres Wesens sind. Wenn der Mensch intellektuell
sich aus dem sozialen Leben heraus offenbart, so ist das eben
nicht eine echte intellektuelle Äußerung, sondern die
Nachahmung einer solchen.
Es ist einer der Gründe, warum
der Ruf nach sozialem Empfinden in diesem Zeitalter so
intensiv hervorgetreten ist, der, daß in der
Intellektualität dieses Empfinden nicht ursprünglich
innerlich erlebt wird. Die Menschheit begehrt auch in diesen
Dingen am meisten nach dem, was sie nicht hat.
Mir fiel für dieses Buch die Darstellung
des
«Egoismus in der Philosophie» zu. Nun trägt mein Aufsatz
diese Überschrift nur deshalb, weil der Gesamttitel des Buches das
forderte. Diese Überschrift müßte eigentlich sein:
«Der Individualismus in der Philosophie». Ich versuchte,
in ganz kurzer Form einen Überblick über die abendländische Philosophie
seit Thales zu geben, und zu zeigen, wie deren Entwickelung darauf
zielt, die menschliche Individualität zum Erleben der Welt in Ideenbildern
zu bringen, so, wie dies versucht ist, in meiner «Philosophie der
Freiheit» für die Erkenntnis und das sittliche Leben darzustellen.
Wieder stehe ich mit diesem
Aufsatz vor dem «Tore der Geistwelt». In der menschlichen
Individualität werden die Ideenbilder gezeigt, die den
Welt-Inhalt offenbaren. Sie treten auf, so daß sie auf das Erleben
warten, durch das in ihnen die Seele in die Geistwelt
schreiten kann. Ich hielt in der Schilderung an dieser Stelle
ein. Es steht eine Innenwelt da, die zeigt, wie weit das
bloße Denken im Weltbegreifen kommt.
Man sieht, ich habe das
voranthroposophische Seelenleben vor meiner Hingabe an die
öffentliche anthroposophische Darstellung der Geistwelt von
den verschiedensten Gesichtspunkten aus geschildert. Darinnen
kann kein Widerspruch mit dem Auftreten für die
Anthroposophie gefunden werden. Denn das Weltbild, das
entsteht, wird durch die Anthroposophie nicht widerlegt,
sondern erweitert und fortgeführt.
Anthroposophie als objektive Fortsetzung der Wissenschaft
Beginnt man die Geist-Welt als
Mystiker darzustellen, so ist jedermann voll berechtigt, zu
sagen: du sprichst von deinen persönlichen Erlebnissen. Es
ist subjektiv, was du schilderst. Einen solchen Geistesweg zu
gehen, ergab sich mir aus der geistigen Welt heraus nicht als
meine Aufgabe.
Diese Aufgabe bestand darin,
eine Grundlage für die Anthroposophie zu schaffen, die so
objektiv war wie das wissenschaftliche Denken, wenn dieses
nicht beim Verzeichnen sinnenfälliger Tatsachen stehen
bleibt, sondern zum zusammenfassenden Begreifen vorrückt. Was
ich wissenschaftlich-philosophisch, was ich in Anknüpfung an
Goethes Ideen naturwissenschaftlich darstellte, darüber ließ
sich diskutieren. Man konnte es für mehr oder weniger richtig
oder unrichtig halten; es strebte aber den Charakter des
Objektiv-Wissenschaftlichen in vollstem Sinne an.
Und aus diesem von
Gefühlsmäßig-Mystischem freien Erkennen heraus holte ich
dann das Erleben der Geistwelt. Man sehe, wie in meiner
«Mystik», im «Christentum als mystische Tatsache» der
Begriff der Mystik nach der Richtung dieses objektiven Erkennens
geführt ist. Und man sehe insbesondere, wie meine
«Theosophie» aufgebaut ist. Bei jedem Schritte, der in
diesem Buche gemacht wird, steht das geistige Schauen im
Hintergrunde. Es wird nichts gesagt, das nicht aus diesem
geistigen Schauen stammt. Aber indem die Schritte getan
werden, sind es zunächst im Anfange des Buches
naturwissenschaftliche Ideen, in die das Schauen sich hüllt,
bis es sich in dem Aufsteigen in die höheren Welten immer
mehr im freien Erbilden der geistigen Welt betätigen muß.
Aber dieses Erbilden wächst aus dem Naturwissenschaftlichen
wie die Blüte einer Pflanze aus dem Stengel und den
Blättern. — Wie die Pflanze nicht in ihrer Vollständigkeit
angeschaut wird, wenn man sie nur bis zur Blüte ins Auge
faßt, so wird die Natur nicht in ihrer Vollständigkeit
erlebt, wenn man von dem Sinnenfälligen nicht zum Geiste
aufsteigt.
So strebte ich darnach, in der
Anthroposophie die objektive Fortsetzung der Wissenschaft zur
Darstellung zu bringen, nicht etwas Subjektives neben diese
Wissenschaft hinzustellen. — Daß gerade dieses Streben
zunächst nicht verstanden wurde, ist ganz
selbstverständlich. Man hielt eben Wissenschaft mit dem
abgeschlossen, was vor der Anthroposophie liegt, und
hatte gar keine Neigung dazu, die Ideen der Wissenschaft so zu
beleben, daß das zur Erfassung des Geistigen führt. Man
stand im Banne der in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts ausgebildeten Denkgewohnheiten. Man fand nicht
den Mut, die Fesseln der bloß sinnenfälligen Beobachtung zu
durchbrechen; man fürchtete, in Gebiete zu kommen, wo jeder
seine Phantasie geltend macht.
Marie von Sivers
So
war meine innere Orientierung, als 1902 Marie von Sivers und ich
an die Führung der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft
herantraten. Marie von Sivers war die Persönlichkeit, die
durch ihr ganzes Wesen die Möglichkeit brachte, dem, was durch uns
entstand, jeden sektiererischen Charakter fernzuhalten und der Sache
einen Charakter zu geben, der sie in das allgemeine Geistes- und
Bildungsleben hineinstellt. Sie war tief interessiert für dramatische
und deklamatorisch-rezitatorische Kunst und hatte nach dieser Richtung
eine Schulung, namentlich an den besten Lehrstätten in Paris, durchgemacht,
die ihrem Können eine schöne Vollendung gegeben hatte. Sie setzte
die Schulung noch zu der Zeit fort, als ich sie in Berlin kennen
lernte, um die verschiedenen Methoden des künstlerischen Sprechens
kennen zu lernen.
Marie von Sivers und ich wurden
bald tief befreundet. Und auf der Grundlage dieser
Freundschaft entfaltete sich ein Zusammenarbeiten auf den
verschiedensten geistigen Gebieten im weitesten Umkreis.
Anthroposophie, aber auch dichterische und rezitatorische
Kunst gemeinsam zu pflegen, war uns bald Lebensinhalt
geworden.
In diesem gemeinsam gepflegten
geistigen Leben konnte allein der Mittelpunkt liegen, von dem
aus Anthroposophie zunächst im Rahmen der Theosophischen
Gesellschaft in die Welt getragen wurde.
Marie von Sivers hatte bei
unserem ersten gemeinsamen Londoner Besuche durch Gräfin
Wachtmeister, die intime Freundin H. P. Blavatskys, viel über
diese und über die Einrichtungen und die Entwickelung der
Theosophischen Gesellschaft gehört. Sie war in hohem Grade
mit dem vertraut, was als geistiger Inhalt einstmals der
Gesellschaft geoffenbart worden ist und wie dieser Inhalt
weiter gepflegt worden war.
Wenn ich davon gesprochen habe,
daß es möglich war, im Rahmen der Theosophischen
Gesellschaft die Menschen zu finden, die auf Mitteilungen aus
der Geist-Welt hören wollten, so ist damit nicht gemeint, daß
als solche Persönlichkeiten vor allem in Betracht kamen die
damals als Mitglieder in der Theosophischen Gesellschaft
eingeschriebenen. Viele von diesen erwiesen sich
allerdings bald als verständnisvoll gegenüber meiner Art der
Geist-Erkenntnis.
Aber ein großer Teil der
Mitglieder waren fanatische Anhänger einzelner Häupter der
Theosophischen Gesellschaft. Sie schworen auf die Dogmen, die
von diesen stark im sektiererischen Sinn wirkenden Häuptern
ausgegeben waren.
Mich stieß dieses Wirken der
Theosophischen Gesellschaft durch die Trivialität und den
Dilettantismus, die darinnen steckten, ab. Nur innerhalb der
englischen Theosophen fand ich inneren Gehalt, der noch von
Blavatsky herrührte und der damals von Annie Besant und
anderen sachgemäß gepflegt wurde. Ich hätte nie in dem
Stile, in dem diese Theosophen wirkten, selber wirken können.
Aber ich betrachtete, was unter ihnen lebte, als ein geistiges
Zentrum, an das man würdig anknüpfen durfte, wenn man die
Verbreitung der Geist-Erkenntnis im tiefsten Sinne ernst nahm.
So war es nicht etwa die in der
Theosophischen Gesellschaft vereinigte Mitgliederschaft, auf
die Marie von Sivers und ich zählten, sondern diejenigen
Menschen überhaupt, die sich mit Herz und Sinn einfanden,
wenn ernst zu nehmende Geist-Erkenntnis gepflegt wurde.
Das Wirken innerhalb der damals
bestehenden Zweige der Theosophischen Gesellschaft, das
notwendig als Ausgangspunkt war, bildete daher nur einen Teil
unserer Tätigkeit. Die Hauptsache war die Einrichtung von
öffentlichen Vorträgen, in denen ich zu einem Publikum
sprach, das außerhalb der Theosophischen Gesellschaft stand
und das zu meinen Vorträgen nur wegen deren Inhalt kam.
Aus denjenigen
Persönlichkeiten, die auf diese Art kennen lernten, was ich
über die Geist-Welt zu sagen hatte, und aus denen, die aus
der Betätigung mit irgend einer «theosophischen Richtung»
den Weg zu dieser Art fanden, bildete sich im Rahmen der
Theosophischen Gesellschaft dasjenige heraus, was später
Anthroposophische Gesellschaft wurde.
Man hat unter den mancherlei
Anklagen, die man wegen meines Wirkens in der Theosophischen
Gesellschaft gegen mich gerichtet hat — auch von seiten
dieser Gesellschaft selbst -, auch die erhoben, daß ich
gewissermaßen diese Gesellschaft, die Geltung hatte in der
Welt, als Sprungbrett benutzt hätte, um der eigenen
Geist-Erkenntnis die Wege zu ebnen.
Davon kann nicht im
entferntesten die Rede sein. Als ich der Einladung in die
Gesellschaft folgte, war diese die einzige ernst zu nehmende
Institution, in der reales Geistesleben vorhanden war. Und
wären Gesinnung, Haltung und Wirken der Gesellschaft so
geblieben, wie sie damals waren, mein und meiner Freunde
Austritt hätte nie zu erfolgen gebraucht. Es hätte nur
innerhalb der Theosophischen Gesellschaft die besondere
Abteilung «Anthroposophische Gesellschaft» offiziell
gebildet werden können.
Aber schon von 1906 ab machten
sich in der Theosophischen Gesellschaft Erscheinungen geltend,
die deren Verfall in erschreckendem Maße zeigten.
Wenn auch schon früher, zur
Zeit von H. P. Blavatsky, solche Erscheinungen von der
Außenwelt behauptet wurden, so lag dafür im Beginne des
Jahrhunderts die Tatsache vor, daß im Ernst der geistigen
Arbeit von seilen der Gesellschaft gut gemacht war, was an
Unrichtigkeiten vorgekommen ist. Diese Vorkommnisse waren ja
auch umstritten.
Aber seit 1906 kamen in der
Gesellschaft, auf deren Führung ich nicht den geringsten
Einfluß hatte, Betätigungen vor, die an die Auswüchse des
Spiritismus erinnerten und die nötig machten, daß ich immer
mehr betonte, daß der Teil dieser Gesellschaft, der unter
meiner Führung stand, mit diesen Dingen absolut nichts zu tun
habe. Den Gipfel erreichten diese Betätigungen, als dann von
einem Hinduknaben behauptet wurde, er sei die Persönlichkeit,
in der Christus in neuem Erdenleben auftreten werde. Für die
Verbreitung dieser Absurdität wurde eine besondere
Gesellschaft in der Theosophischen gebildet, diejenige vom
«Stern des Ostens». Es war für mich und meine Freunde ganz
unmöglich, die Mitglieder dieses «Sternes des Ostens» so
als Glied in die deutsche Sektion hereinzunehmen, wie diese es wollten und wie vor allem Annie
Besant als Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft das
beabsichtigte. Und weil wir das nicht tun konnten, schloß man
uns 1913 von der Theosophischen Gesellschaft aus. Wir waren
genötigt, die Anthroposophische Gesellschaft als
selbständige zu begründen.
Ich bin damit der Schilderung
der Ereignisse in meinem Lebensgang weit vorausgeeilt; allein
das war notwendig, weil nur diese späteren Tatsachen das
richtige Licht werfen können auf die Absichten, die ich mit
dem Eintritte in die Gesellschaft im Beginne des Jahrhunderts
verband.
Ich habe, als ich 1902 zum
ersten Male in London auf dem Kongresse der Theosophischen
Gesellschaft sprach, gesagt: Die Vereinigung, die die
einzelnen Sektionen bilden, soll darin bestehen, daß eine
jede nach dem Zentrum bringt, was sie in sich birgt; und ich
betonte scharf, daß ich für die deutsche Sektion dies vor
allem beabsichtige. Ich machte deutlich, daß diese Sektion
niemals sich als Trägerin festgesetzter Dogmen, sondern als
Stätte selbständiger geistiger Forschung betätigen werde,
die sich bei den gemeinsamen Zusammenkünften der ganzen
Gesellschaft über die Pflege echten Geisteslebens
verständigen möchte.
TB 636 (XXXI.), S
304 ff
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