Kunst
In der Theosophischen
Gesellschaft war kaum irgend etwas von Pflege künstlerischer
Interessen vorhanden. Das ist von einem gewissen
Gesichtspunkte aus damals durchaus begreiflich gewesen, durfte
aber nicht so bleiben, wenn die rechte geistige Gesinnung
gedeihen sollte. Die Mitglieder einer solchen Gesellschaft
haben zunächst alles Interesse für die Wirklichkeit des
geistigen Lebens. ln der sinnlichen Welt zeigt sich für
sie der Mensch nur in seinem vergänglichen, vom Geiste
losgelösten Dasein. Kunst scheint ihnen ihre
Betätigung innerhalb dieses losgelösten Daseins zu haben.
Daher scheint sie außerhalb der gesuchten geistigen
Wirklichkeit zu stehen.
Weil dies in der Theosophischen
Gesellschaft so war, fühlten sich Künstler nicht zu Hause in
ihr.
Marie von Sivers und mir kam es
darauf an, auch das Künstlerische in der Gesellschaft
lebendig zu machen. Geist-Erkenntnis als Erlebnis gewinnt ja
im ganzen Menschen Dasein. Alle Seelenkräfte werden angeregt.
In die gestaltende Phantasie leuchtet das Licht des
Geist-Erlebens herein, wenn dieses Erleben vorhanden ist.
Aber hier tritt etwas ein, das
Hemmungen schafft. Der Künstler hat eine gewisse ängstliche
Stimmung gegenüber diesem Hereinleuchten der Geistwelt in die
Phantasie. Er will Unbewußtheit in bezug auf das Walten der
geistigen Welt in der Seele. Er hat völlig recht, wenn es
sich um die «Anregung» der Phantasie durch dasjenige
bewußt-besonnene Element handelt, das seit dem Beginn des
Bewußtseins-Zeitalters im Kulturleben das herrschende
geworden ist. Diese «Anregung» durch das Intellektuelle im
Menschen wirkt ertötend auf die Kunst.
Aber es tritt das gerade
Gegenteil auf, wenn Geistinhalt, der wirklich erschaut ist,
die Phantasie durchleuchtet. Da aufersteht wieder alle
Bildkraft, die nur je in der Menschheit zur Kunst geführt
hat. Marie von Sivers stand in der Kunst der Wortgestaltung
darinnen; zu der dramatischen Darstellung hatte sie das
schönste Verhältnis. So war für das anthroposophische
Wirken ein Kunstgebiet da, an dem die Fruchtbarkeit der
Geistanschauung für die Kunst erprobt werden konnte.
Das «Wort» ist nach zwei
Richtungen der Gefahr ausgesetzt, die aus der Entwickelung der
Bewußtseinsseele kommen kann. Es dient der Verständigung im
sozialen Leben, und es dient der Mitteilung des
logisch-intellektuell Erkannten. Nach beiden Seiten hin
verliert das «Wort» seine Eigengeltung. Es muß sich dem
«Sinn» anpassen, den es ausdrücken soll. Es muß vergessen
lassen, wie im Ton, im Laut, und in der Lautgestaltung selbst
eine Wirklichkeit liegt. Die Schönheit, das Leuchtende des
Vokals, das Charakteristische des Konsonanten verliert sich
aus der Sprache. Der Vokal wird seelen-, der Konsonant geistlos.
Und so tritt die Sprache aus der Sphäre ganz heraus, aus
der sie stammt, aus der Sphäre des Geistigen. Sie wird
Dienerin des intellektuell-erkenntnismäßigen, und des
geist-fliehenden sozialen Lebens. Sie wird aus dem Gebiet der
Kunst ganz herausgerissen.
Wahre Geistanschauung fällt
ganz wie instinktiv in das «Erleben des Wortes». Sie lernt
auf das seelengetragene Ertönen des Vokals und das
geistdurchkraftete Malen des Konsonanten hinempfinden. Sie
bekommt Verständnis für das Geheimnis der
Sprach-Entwickelung. Dieses Geheimnis besteht darin, daß
einst durch das Wort göttlich-geistige Wesen zu der
Menschenseele haben sprechen können, während jetzt dieses
Wort nur der Verständigung in der physischen Welt dient.
Man braucht einen an dieser
Geisteinsicht entzündeten Enthusiasmus, um das Wort
wieder in seine Sphäre zurückzuführen. Marie von Sivers
entfaltete diesen Enthusiasmus. Und so brachte ihre
Persönlichkeit der anthroposophischen Bewegung die
Möglichkeit, Wort und Wortgestaltung künstlerisch zu
pflegen. Es wuchs zu der Betätigung für Mitteilung aus der
Geistwelt hinzu die Pflege der Rezitations- und
Deklamationskunst, die nun immer mehr einen in Betracht
kommenden Anteil an den Veranstaltungen bildete, die innerhalb
des anthroposophischen Wirkens stattfanden.
Marie von Sivers' Rezitation
bei diesen Veranstaltungen war der Ausgangspunkt für den
künstlerischen Einschlag in die anthroposophische Bewegung.
Denn es führt eine gerade Linie der Entwickelung von diesen
«Rezitationsbeigaben» zu den dramatischen Darstellungen, die
dann in München sich neben die anthroposophischen Kurse
hinstellten.
Wir wuchsen dadurch, daß wir
mit der Geist-Erkenntnis Kunst entfalten durften, immer mehr
in die Wahrheit des modernen Geist-Erlebens hinein. Denn Kunst
ist ja aus dem ursprünglichen traum-bildhaften Geisterleben
herausgewachsen. Sie mußte in der Zeit, als in der
Menschheitsentwickelung das Geist-Erleben zurücktrat, ihre
Wege sich suchen; sie muß sich mit diesem Erleben wieder
zusammenfinden, wenn dieses in neuer Gestalt in die
Kulturentfaltung eintritt.
TB 636 (XXXIV.), S
327 ff
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