1900-1914
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Beginn
der anthroposophischen Tätigkeit
Der Beginn meiner
anthroposophischen Betätigung fällt in eine Zeit, in der bei
Vielen eine Unbefriedigtheit mit den Erkenntnisrichtungen der
unmittelbar vorangehenden Zeit vorhanden war. Man wollte einen
Weg aus demjenigen Seinsgebiete herausfinden, in das man sich
dadurch abgeschlossen hatte, daß man als «sichere»
Erkenntnis nur gelten gelassen hatte, was mit mechanistischen
Ideen erfaßt werden kann. Mir gingen diese Bestrebungen
mancher Zeitgenossen nach einer Art von Geist-Erkenntnis recht
nahe. Biologen wie Oskar Hertwig, der als Schüler von Haeckel
begonnen, dann aber den Darwinismus verlassen hatte, weil nach
seiner Ansicht die Impulse, die dieser kennt, keine Erklärung
des organischen Werdens abgeben können, waren für mich
Persönlichkeiten, in denen sich mir das Erkenntnis-Sehnen der
Zeit offenbarte.
Aber ich empfand, wie auf all
diesem Sehnen ein Druck lastete. Der Glaube, man dürfe als
Wissen nur ansehen, was mit Maß, Zahl und Gewicht im Reich
der Sinne erforscht werden kann, hat diesen Druck als sein
Ergebnis gezeitigt. Man wagte nicht, ein innerlich aktives
Denken zu entfalten, um durch dieses die Wirklichkeit näher
zu erleben, als man sie mit den Sinnen erlebt. So blieb es
denn dabei, daß man sagte: mit den Mitteln, die man bisher
zur Erklärung auch der höheren Wirklichkeitsformen wie der
organischen angewendet hat, geht es nicht weiter. Aber wenn
man dann zu Positivem kommen sollte, wenn man sagen sollte,
was in der Lebenstätigkeit wirkt, da bewegte man sich in
unbestimmten Ideen.
Es fehlte bei denjenigen, die
aus der mechanistischen Welterklärung herausstrebten, zumeist
der Mut, sich zu gestehen: wer diesen Mechanismus überwinden
will, der muß auch die Denkgewohnheiten überwinden, die zu
ihm geführt haben. Ein Geständnis wollte nicht erscheinen,
das die Zeit gebraucht hätte. Es ist dieses: mit der
Orientierung auf die Sinne hin dringt man in das ein, was
mechanistisch ist. Man hat sich in der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts an diese Orientierung gewöhnt. Man
sollte jetzt, da das Mechanistische unbefriedigt läßt, nicht
mit derselben Orientierung in höhere Gebiete dringen
wollen. — Die Sinne im Menschen geben
sich ihre Entfaltung selbst. Mit dem, was sie sich so geben,
wird man aber niemals etwas anderes als das Mechanische
schauen. Will man mehr erkennen, so muß man von sich aus den
tiefer liegenden Erkenntniskräften eine Gestalt geben, die
den Sinnes-Kräften die Natur gibt. Die Erkenntniskräfte für
das Mechanische sind durch sich selbst wach; diejenigen für
die höheren Wirklichkeitsformen müssen geweckt werden.
Dieses Selbst-Geständnis des
Erkenntnisstrebens erschien mir als eine Zeit-Notwendigkeit.
Max Scheler
Ich fühlte mich glücklich, wo
ich Ansätze dazu wahrnahm. So lebt in schönster Erinnerung
in mir ein Besuch in Jena. Ich hatte in Weimar Vorträge über
anthroposophische Themen zu halten. Es wurde auch ein Vortrag
in kleinerem Kreise in Jena veranlaßt. Nach demselben gab es
noch ein Zusammensein mit einem ganz kleinen Kreise. Man
wollte über dasjenige diskutieren, was Theosophie zu sagen
hatte. In diesem Kreise war Max Scheler, der damals in
Jena als Dozent für Philosophie wirkte. In eine Erörterung
über dasjenige, was er an meinen Ausführungen empfand, lief
bald die Diskussion ein. Und ich empfand sogleich den tieferen
Zug, der in seinem Erkenntnisstreben waltete. Es war
innere Toleranz, die er meiner Anschauung entgegenbrachte.
Diejenige Toleranz, die für denjenigen notwendig ist, der
wirklich erkennen will.
Wir diskutierten über die
erkenntnistheoretische Rechtfertigung des Geist-Erkennens. Wir
sprachen über das Problem, wie sich das Eindringen in die
Geistwirklichkeit nach der einen Seite ebenso
erkenntnistheoretisch müsse begründen lassen, wie dasjenige
in die Sinnes-Wirklichkeit nach der ändern Seite.
Schelers Art, zu denken, machte
auf mich einen genialischen Eindruck. Und bis heute verfolge
ich seinen Erkenntnisweg mit dem tiefsten Interesse. Innige
Befriedigung gewährte es mir immer, wenn ich - leider ganz
selten - dem Manne, der mir damals so sympathisch geworden
war, wieder begegnen konnte.
Für mich waren solche
Erlebnisse bedeutsam. Jedesmal, wenn sie kamen, war wieder
eine innere Notwendigkeit da, die Sicherheit des eigenen
Erkenntnisweges aufs neue zu prüfen. Und in diesem immer
wiederkehrenden Prüfen entfalten sich die Kräfte, die dann
auch immer weitere Gebiete des geistigen Daseins erschließen.
Es liegen nun aus meinem
anthroposophischen Wirken zwei Ergebnisse vor; erstens meine
vor aller Welt veröffentlichten Bücher, zweitens eine große
Reihe von Kursen, die zunächst als Privatdruck gedacht und
verkäuflich nur an Mitglieder der Theosophischen (später
Anthroposophischen) Gesellschaft sein sollten. Es waren dies
Nachschriften, die bei den Vorträgen mehr oder weniger gut
gemacht worden sind und die - wegen mangelnder Zeit - nicht
von mir korrigiert werden konnten. Mir wäre es am liebsten
gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort mündlich
gesprochenes Wort geblieben wäre. Aber die Mitglieder wollten
den Privatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hätte ich
Zeit gehabt, die Dinge zu korrigieren, so hätte vom Anfange
an die Einschränkung «Nur für Mitglieder» nicht zu
bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit mehr als einem Jahre ja
fallen gelassen.
Bücher und
Privatdrucke
Hier in meinem «Lebensgang»
ist notwendig, vor allem zu sagen, wie sich die beiden: meine
veröffentlichten Bücher und diese Privatdrucke in das
einfügen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete.
Wer mein eigenes inneres Ringen
und Arbeiten für das Hinstellen der Anthroposophie vor das
Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit verfolgen will, der muß
das an Hand der allgemein veröffentlichten Schriften tun. In
ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, was an
Erkenntnisstreben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben,
was sich mir in «geistigem Schauen» immer mehr gestaltete,
was zum Gebäude der Anthroposophie - allerdings in vieler
Hinsicht in unvollkommener Art — wurde.
Neben diese Forderung, die
«Anthroposophie» aufzubauen und dabei nur dem zu dienen, was
sich ergab, wenn man Mitteilungen aus der Geist-Welt der
allgemeinen Bildungswelt von heute zu übergeben hat, trat nun
aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was aus der
Mitgliedschaft heraus als Seelenbedürfnis, als
Geistessehnsucht sich offenbarte.
Da war vor allem eine starke
Neigung vorhanden, die Evangelien und den Schrift-Inhalt der
Bibel überhaupt in dem Lichte dargestellt zu hören, das sich
als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte in Kursen
über diese der Menschheit gegebenen Offenbarungen hören.
Indem interne Vortragskurse im
Sinne dieser Forderung gehalten wurden, kam dazu noch ein
anderes. Bei diesen Vorträgen waren nur Mitglieder. Sie waren
mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposophie bekannt. Man
konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorgeschrittenen auf
dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser internen
Vorträge war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht
sein konnte, die ganz für die Öffentlichkeit bestimmt waren.
Ich durfte in internen Kreisen
in einer Art über Dinge sprechen, die ich für die
öffentliche Darstellung, wenn sie für sie von Anfang an
bestimmt gewesen wären, hätte anders gestalten müssen.
So liegt in der Zweiheit, den
öffentlichen und den privaten Schriften, in der Tat etwas
vor, das aus zwei verschiedenen Untergründen stammt. Die ganz
öffentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mir
rang und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet
die Gesellschaft mit. Ich höre auf die Schwingungen im
Seelenleben der Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen
Drinnenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltung
der Vorträge.
Es ist nirgends auch nur in
geringstem Maße etwas gesagt, was nicht reinstes Ergebnis der
sich aufbauenden Anthroposophie wäre. Von irgend einer
Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen der
Mitgliedschaft kann nicht die Rede sein. Wer diese
Privatdrucke liest, kann sie im vollsten Sinne eben als das
nehmen, was Anthroposophie zu sagen hat. Deshalb konnte ja
auch ohne Bedenken, als die Anklagen nach dieser Richtung zu
drängend wurden, von der Einrichtung abgegangen werden, diese
Drucke nur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Es wird
eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nicht
nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.
Ein Urteil über den Inhalt
eines solchen Privatdruckes wird
ja allerdings nur demjenigen zugestanden werden können, der
kennt, was als Urteils-Voraussetzung angenommen wird. Und das
ist für die allermeisten dieser Drucke mindestens die
anthroposophische Erkenntnis des Menschen, des Kosmos,
insofern sein Wesen in der Anthroposophie dargestellt wird,
und dessen, was als «anthroposophische Geschichte» in den
Mitteilungen aus der Geist-Welt sich findet.
TB 636 (XXXV.), S
330 ff
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