Kunst
als belebendes Element der anthroposophischen Bewegung
Während die anthroposophischen
Erkenntnisse in die Gesellschaft so getragen wurden, wie sich
das - zum Teile - aus den Privatdrucken ergibt, pflegten Marie
von Sivers und ich in gemeinsamen Arbeiten namentlich das
künstlerische Element, das ja vom Schicksal bestimmt war, ein
Belebendes der anthroposophischen Bewegung zu werden.
Da war auf der einen Seite das
Rezitatorische, mit seiner Hinorientierung auf die dramatische
Kunst, das den Gegenstand der Arbeit bildete, die getan werden
mußte, damit die anthroposophische Bewegung den rechten
Inhalt bekäme.
Da war aber auf der ändern
Seite für mich die Möglichkeit, mich auf den Reisen, die im
Dienste der Anthroposophie gemacht werden mußten, in die
Entwickelung der Architektur, Plastik und Malerei zu
vertiefen.
Ich habe an verschiedenen
Stellen dieser Lebensbeschreibung von der Bedeutung
gesprochen, die das Künstlerische für einen Menschen hat,
der innerhalb der geistigen Welt erlebt.
Nun konnte ich aber die meisten
Kunstwerke der Menschheitsentwickelung bis in die Zeit meines
anthroposophischen Wirkens hinein nur in Nachbildungen
studieren. An Originalen war mir nur zugänglich, was in Wien,
Berlin und einigen Orten Deutschlands ist.
Die hohe Schule
des Kunststudiums
Als nun die Reisen für die
Anthroposophie in Gemeinsamkeit mit Marie von Sivers gemacht
wurden, traten mir die Schätze der Museen im weitesten
europäischen Umkreise entgegen. Und so machte ich vom Beginne
des Jahrhunderts ab, also in meinem fünften Lebensjahrzehnt,
eine hohe Schule des Kunststudiums, und im Zusammenhange
damit, eine Anschauung der geistigen Entwickelung der
Menschheit durch. Überall war da Marie von Sivers mir zur
Seite, die mit ihrem feinen und geschmackvollen Eingehen auf
alles, was ich in der Kunst- und Kulturanschauung erleben
durfte, selbst in schöner Weise alles, ergänzend,
miterlebte. Sie verstand, wie diese Erlebnisse in all das
flössen, was dann die Ideen der Anthroposophie beweglich
machte. Denn es durchdrang, was an Kunst-Eindrücken meine
Seele empfing, das, was ich in Vorträgen wirksam zu machen
hatte.
Im praktischen Anschauen der
großen Kunstwerke trat vor unsere Seelen die Welt, aus der
noch eine andere Seelenkonfiguration aus älteren Zeiten in
die neuen herüberspricht. Wir konnten die Seelen versenken in
die Geistigkeit der Kunst, die noch aus Cimabue spricht. Aber
wir konnten uns auch durch das Anschauen in der Kunst in den
gewaltigen Geisteskampf vertiefen, den Thomas von Aquino in
der Hochblüte der Scholastik gegen den Arabismus führte.
Für mich war die Beobachtung
der baukünstlerischen Entwickelung von besonderer Bedeutung.
Im stillen Anblick der Stilgestaltung erwuchs in meiner Seele,
was ich dann in die Formen des Goetheanums prägen durfte.
Das Stehen vor dem Abendmahl
des Lionardo in Mailand, vor den Schöpfungen Raphaels und
Michel Angelos in Rom und die im Anschlusse an diese
Betrachtungen mit Marie von Sivers geführten Gespräche
müssen, wie ich glaube, gerade dann gegenüber der
Schicksalsfügung dankbar empfunden werden, wenn sie erst im
reiferen Alter zum ersten Male vor die Seele treten.
Doch ich müßte ein Buch von
einem nicht geringen Umfange schreiben, wenn ich auch nur kurz
schildern wollte, was ich in der angedeuteten Art erlebte.
Man sieht ja, wenn die geistige
Anschauung dahinter steht, so tief in die Geheimnisse der
Menschheitsentwickelung hinein durch den Blick, der sich in
die «Schule von Athen» oder in die «Disputa» betrachtend
verliert.
Und schreitet man mit der
Beobachtung von Cimabue durch Giotto bis zu Raphael vor, so
hat man das allmähliche Abdämmern einer älteren
Geist-Anschauung der Menschheit zu der modernen, mehr
naturalistischen vor sich. Was sich mir aus der geistigen
Anschauung als das Gesetz der Menschheitsentwickelung ergeben
hatte: es tritt, sich deutlich offenbarend, in dem Werden der
Kunst der Seele entgegen.
Es gab ja immer die tiefste
Befriedigung, wenn ich sehen konnte, wie durch dieses
fortwährende Eintauchen in das Künstlerische die
anthroposophische Bewegung neues Leben empfing.
Man braucht, um mit den Ideen
die Wesenhaftigkeiten des Geistigen zu umfassen und sie
ideenhaft zu gestalten, Beweglichkeit der Ideen-Tätigkeit.
Die Erfüllung der Seele mit dem Künstlerischen gibt sie.
Kunst als
Gegengewicht gegen die falsche Sentimentalität
Und es war ja durchaus nötig,
die Gesellschaft vor dem Eindringen aller derjenigen inneren
Unwahrheiten zu bewahren, die mit der falschen
Sentimentalität zusammenhängen. Eine geistige Bewegung ist
ja diesem Eindringen immer ausgesetzt. Belebt man den
mitteilenden Vortrag durch die beweglichen Ideen, die man
selbst dem Leben in dem Künstlerischen verdankt, so wird die
aus der Sentimentalität kommende innere Unwahrhaftigkeit, die
in dem Zuhörenden steckt, hinweggebannt. — Das
Künstlerische, das von Empfindung und Gefühl zwar getragen
wird, das aber aufstrebt zur lichterfüllten Klarheit in der
Gestaltung und Anschauung, kann das wirksamste Gegengewicht
gegen die falsche Sentimentalität geben.
Und da empfinde ich es denn als
ein besonders günstiges Geschick für die anthroposophische
Bewegung, daß ich in Marie von Sivers eine Mitarbeiterin vom
Schicksal zuerteilt bekam, die aus ihren tiefsten Anlagen
heraus dieses künstlerisch-gefühlsgetragene, aber
unsentimentale Element mit vollem Verständnis zu pflegen
verstand.
Es war eine fortdauernde
Gegenwirkung gegen dieses innerlich unwahre sentimentale
Element notwendig. Denn in eine geistige Bewegung dringt es
immer wieder ein. Man kann es nicht etwa einfach abweisen,
oder ignorieren. Denn die Menschen, die sich zunächst diesem
Elemente hingeben, sind in vielen Fällen in ihren tiefsten
Seelenuntergründen doch Suchende. Aber es wird ihnen
zunächst schwierig, zu dem mitgeteilten Inhalt aus der
geistigen Welt ein festes Verhältnis zu gewinnen. Sie suchen
in der Sentimentalität unbewußt eine Art Betäubung. Sie
wollen ganz besondere Wahrheiten erfahren, esoterische. Sie
entwickeln den Drang, sich mit diesen sektiererisch in Gruppen
abzusondern.
Das Rechte zur alleinigen
orientierenden Kraft der ganzen Gesellschaft zu machen, darauf
kommt es an. So daß nach der einen, oder der andern Seite
Abirrende immer wieder sehen können, wie diejenigen wirken,
die die zentralen Träger der Bewegung sich nennen dürfen,
weil sie deren Begründer sind. Positives Arbeiten für die
Inhalte der Anthroposophie, nicht kämpfend gegen Auswüchse
auftreten, das galt Marie von Sivers und mir als das
Wesentliche. Selbstverständlich gab es Ausnahmefälle, in
denen auch das Bekämpfen notwendig wurde.
Der «Pariser Zyklus»
1906
Für mich ist zunächst die
Zeit bis zu meinem Pariser Zyklus von Vorträgen etwas als
Entwickelungsvorgänge in der Seele Geschlossenes. Ich hielt
diese Vorträge 1906 während des theosophischen Kongresses.
Einzelne Teilnehmer des Kongresses hatten den Wunsch
ausgesprochen, diese Vorträge neben den Veranstaltungen des
Kongresses zu hören. Ich hatte damals in Paris die
persönliche Bekanntschaft Edouard Schures, zusammen mit Marie
von Sivers gemacht, die schon längere Zeit mit ihm in
Briefwechsel gestanden hatte und die sich mit Übersetzung
seiner Werke beschäftigt hatte. Er war unter den Zuhörern.
So hatte ich auch die Freude, Mereschkowski und Minsky und
andere russische Dichter öfters unter den Zuhörern zu haben.
Die «Reife des
Bewußtseins»
Es wurde von mir in
diesem Vortragszyklus das gegeben, was ich an den für das
Menschenwesen leitenden spirituellen Erkenntnissen als
in mir «reif» empfand.
Dieses «Reif-Empfinden» der
Erkenntnisse ist etwas Wesentliches im Erforschen der
geistigen Welt. Um dieses Empfinden zu haben, muß man eine
Anschauung erlebt haben, wie sie zunächst in der Seele
herauftaucht. Man empfindet sie zuerst noch als unleuchtend,
als unscharf in den Konturen. Man muß sie wieder in die
Tiefen der Seele hinuntersinken lassen zur «Reifung». Das
Bewußtsein ist noch nicht weit genug, den geistigen Inhalt
der Anschauung zu erfassen. Die Seele in ihren geistigen
Tiefen muß mit diesem Inhalt in der geistigen Welt ungestört
durch das Bewußtsein Zusammensein.
In der äußeren
Naturwissenschaft behauptet man eine Erkenntnis nicht früher,
als bis man alle nötigen Experimente und Sinnesbeobachtungen
abgeschlossen hat, und bis die in Betracht kommenden
Rechnungen einwandfrei sind. — In der Geisteswissenschaft
ist keineswegs weniger methodische Gewissenhaftigkeit und
Erkenntnis-Disziplin notwendig. Man geht nur etwas andere
Wege. Man muß das Bewußtsein in seinem Verhältnis zu der
erkennenden Wahrheit prüfen. Man muß in Geduld, Ausdauer und
innerer Gewissenhaftigkeit «warten» können, bis das
Bewußtsein diese Prüfung besteht. Es muß sich in seinem
Ideenvermögen auf einem gewissen Gebiete stark genug gemacht
haben, um die Anschauung, um die es sich handelt, in das
Begriffsvermögen hereinzunehmen.
Im Pariser Zyklus von
Vorträgen habe ich eine Anschauung vorgebracht, die eine
lange «Reifung» in meiner Seele hat durchmachen müssen.
Nachdem ich auseinandergesetzt hatte, wie sich die Glieder der
Menschenwesenheit: physischer Leib, Ätherleib - als
Vermittler der Lebenserscheinungen -, Astralleib - als
Vermittler der Empfindungs- und Willenserscheinungen — und
der «Ich-Träger» im allgemeinen zu einander verhalten,
teilte ich die Tatsache mit, daß der Ätherleib des Mannes
weiblich; der Ätherleib der Frau männlich ist. Damit war
innerhalb der Anthroposophie ein Licht geworfen auf eine
Grundfrage des Daseins, die gerade damals viel behandelt
worden ist. Man erinnere sich nur an das Buch des
unglücklichen Weininger: «Geschlecht und Charakter» und an
die damalige Dichtung.
Aber die Frage war in die
Tiefen der Menschenwesenheit geführt. Mit seinem physischen
Leib ist der Mensch ganz anders in die Kräfte des Kosmos
eingefügt als mit seinem Ätherleib. Durch den physischen
Leib steht der Mensch in den Kräften der Erde; durch den
Ätherleib in den Kräften des außerirdischen Kosmos.
Männlich und Weiblich wird an die Weltgeheimnisse
herangeführt.
Für mich war diese Erkenntnis
etwas, das zu den erschütterndsten inneren Seelen-Erlebnissen
gehörte. Denn ich empfand immer von neuem, wie man sich
geduldig-wartend einer geistigen Anschauung nähern muß, und
wie man dann, wenn man die «Reife des Bewußtseins» erlebt,
mit den Ideen zugreifen muß, um die Anschauung in den Bereich
der menschlichen Erkenntnis hereinzuversetzen.
TB 636 (XXXVII.), S
340 ff
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