1900-1914
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Berlin
und in München - zwei entgegengesetzten Pole der
anthroposophischen Wirksamkeit
In dem folgenden wird die
Darstellung meines Lebensganges von einer Geschichte der
anthroposophischen Bewegung schwer zu trennen sein. Und
dennoch, ich möchte nur so viel aus der Geschichte der
Gesellschaft bringen, als für die Darstellung meines
Lebensganges notwendig ist. — Dies wird schon bei der
Namensnennung der tätigen Mitglieder in Betracht kommen. Ich
komme mit der Schilderung eben zu nahe an die Gegenwart heran,
als daß nicht Namensnennungen allzu leicht auf
Mißverständnisse stoßen könnten. Bei allem guten Willen
wird mancher, der einen andern genannt findet und sich nicht,
eine bittere Empfindung haben. — Ich werde im
wesentlichen mit Namen nur diejenigen Persönlichkeiten,
die außerhalb ihrer Wirksamkeit in der Gesellschaft im
geistigen Leben Zusammenhänge haben, nennen; dagegen nicht
diejenigen, die solche Zusammenhänge nicht in die
Gesellschaft mitgebracht haben.
In Berlin und in München waren
gewissermaßen die zwei entgegengesetzten Pole der
anthroposophischen Wirksamkeit zu entfalten. Es kamen ja an
die Anthroposophie Persönlichkeiten heran, die weder in der
naturwissenschaftlichen Weltanschauung noch in den
traditionellen Bekenntnissen dasjenige an geistigem Inhalt
fanden, was ihre Seelen suchen mußten. In Berlin konnte ein
Zweig der Gesellschaft und eine Zuhörerschaft für die
öffentlichen Vorträge nur aus den Kreisen derjenigen
Persönlichkeiten entstehen, die auch alles ablehnten, was an
Weltanschauungen im Gegensatze zu den traditionellen
Bekenntnissen sich gebildet hatte. Denn die Anhänger solcher
auf Rationalismus, Intellektualismus usw. begründeten
Weltanschauungen fanden in dem, was Anthroposophie zu geben
hatte, Phantastik, Aberglaube usw. Eine Zuhörer- und
Mitgliederschaft erstand, welche die Anthroposophie aufnahm,
ohne mit Gefühl oder Ideen nach anderem als nach dieser
gerichtet zu sein. Was man ihr von anderer Seite gegeben
hatte, das befriedigte sie nicht. Dieser Seelenstimmung mußte
Rechnung getragen werden. Und indem das geschah, vergrößerte
sich immer mehr die Mitglieder- wie auch die Zuhörerzahl bei
öffentlichen Vorträgen. Es entstand ein anthroposophisches
Leben, das gewissermaßen in sich geschlossen war und
wenig nach dem blickte, was sonst an Versuchen sich bildete,
in die geistige Welt Blicke zu tun. Die Hoffnungen lagen in
der Entfaltung der anthroposophischen Mitteilungen. Man
erwartete, im Wissen von der geistigen Welt immer weiter zu
kommen.
Anders war das in München. Da
wirkte in die anthroposophische Arbeit von vornherein das
künstlerische Element. Und in dieses ließ sich eine
Weltanschauung wie die Anthroposophie in ganz anderer Art
aufnehmen als in den Rationalismus und Intellektualismus. Das
künstlerische Bild ist spiritueller als der
rationalistische Begriff. Es ist auch lebendig und tötet das
Geistige in der Seele nicht, wie es der Intellektualismus tut.
Die tonangebenden Persönlichkeiten für die Bildung einer
Mitglieder- und Zuhörerschaft waren in München solche, bei
denen das künstlerische Empfinden in der angedeuteten Art
wirkte.
Pauline v. Kalckreuth
und Sophie Stinde
Das brachte nun auch mit sich,
daß in Berlin ein einheitlicher Zweig der Gesellschaft von
vornherein sich gestaltete. Die Interessen derjenigen, die
Anthroposophie suchten, waren gleichartig. In München
gestalteten die künstlerischen Empfindungen in einzelnen
Kreisen individuelle Bedürfnisse, und ich trug in solchen
Kreisen vor. Zu einer Art Mittelpunkt dieser Kreise bildete
sich derjenige allmählich aus, der sich um die Gräfin
Pauline v. Kalckreuth und Frl. Sophie Stinde, die während des
Krieges Verstorbene, gruppierte. Dieser Kreis veranstaltete
auch meine öffentlichen Vorträge in München. Das immer
tiefer gehende Verständnis dieses Kreises erzeugte in ihm ein
schönstes Entgegenkommen für dasjenige, was ich zu sagen
hatte. Und so entfaltete sich die Anthroposophie innerhalb
dieses Kreises in einer Art, die aus der Sache heraus als eine
sehr erfreuliche bezeichnet werden konnte. Ludwig Deinhard,
der ältere Theosoph, der Freund Hübbe-Schleidens, stellte
sich sehr bald sympathisch in diesen Kreis hinein. Und das war
sehr wertvoll.
Frau von
Schewitsch
Der Mittelpunkt eines andern
Kreises war Frau von Schewitsch. Sie war eine interessante
Persönlichkeit, und deshalb wohl war es auch, daß gerade bei
ihr auch ein Kreis sich zusammenfand, der weniger auf
Vertiefung ging wie der eben geschilderte, sondern mehr auf
das Kennenlernen der Anthroposophie als einer Geistesströmung
unter den andern der damaligen Gegenwart.
In dieser Zeit hatte ja auch
Frau von Schewitsch ihr Buch: «Wie ich mein Selbst fand»
erscheinen lassen. Es war ein eigenartiges starkes Bekenntnis
zur Theosophie. Auch das trug dazu bei, daß diese Frau der
interessante Mittelpunkt des geschilderten Kreises werden
konnte.
Für mich - und auch für viele
Kreisteilnehmer - war Helene von Schewitsch ein bedeutsames
Stück Geschichte. Sie war ja die Dame, wegen der Ferdinand
Lassalle gegen einen Rumänen im Duell sein frühzeitiges Ende
gefunden hat. Sie hat dann später eine Schauspielerlaufbahn
durchgemacht und war in Amerika mit H. P. Blavatsky und Olcott
befreundet worden. Sie war eine Weltdame, deren Interessen in
der Zeit, in der meine Vorträge bei ihr stattfanden, stark
vergeistigt auftraten. Die starken Erlebnisse, die sie gehabt
hat, gaben ihrem Auftreten und dem, was sie vorbrachte, ein
außerordentliches Gewicht. Durch sie hindurch, möchte ich
sagen, konnte ich auf das Wirken Lassalles und dessen Epoche
sehen, durch sie auf manches Charakteristische im Leben H. P.
Blavatskys. Was sie sagte, war subjektiv gefärbt, von der
Phantasie vielfach willkürlich geformt; aber, wenn man das in
Rechnung zog, so konnte man das Wahre durch manche Verhüllung
doch sehen, und man hatte die Offenbarung einer doch
ungewöhnlichen Persönlichkeit vor sich.
Josef Müller
Andere Münchner Kreise waren
in andrer Art gestaltet. Ich gedenke oft einer
Persönlichkeit, die mir in mehreren dieser Kreise
entgegentrat, eines außerhalb des engeren Verbandes der
Kirche stehenden katholischen Geistlichen, Müller. Er war ein
feiner Kenner Jean Pauls. Er gab eine recht anregende
Zeitschrift «Renaissance» heraus, in der er einen freien
Katholizismus verteidigte. Er nahm von Anthroposophie so viel,
als ihn bei seinen Anschauungen interessieren konnte, war aber
immer wieder skeptisch. Er machte Einwendungen, aber in einer
so liebenswürdigen und zugleich elementarischen Art, daß
durch ihn oftmals ein schöner Humor in die Diskussionen kam,
die sich an die Vorträge anschlössen.
Ich will mit den
Charakteristiken, die ich von Berlin und München als den
entgegengesetzten Polen des anthroposophischen Wirkens gebe,
nichts über den Wert des einen oder andern Poles sagen; es
traten da eben Verschiedenheiten bei Menschen auf, die man im
Arbeiten zu berücksichtigen hatte, die in ihrer Art
gleichwertig sind - wenigstens hat es keine Bedeutung, sie vom
Gesichtspunkte des Wertes aus zu beurteilen.
Der Theosophische
Kongreß in München 1907
Die Art des Münchner Wirkens
führte dazu, daß der Theosophische Kongreß, der 1907 von
der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft
veranstaltet werden sollte, in München stattfand. Diese
Kongresse, die vorher in London, Amsterdam, Paris abgehalten
wurden, enthielten Veranstaltungen, die theosophische Probleme
in Vorträgen oder Diskussionen behandelten. Sie waren den
gelehrten Kongressen nachgebildet. Auch die administrativen
Fragen der Theosophischen Gesellschaft wurden behandelt.
An alledem wurde in München
manches modifiziert. Den großen Konzertsaal, der für die
Tagung dienen sollte, ließen wir — die Veranstalter — mit
einer Innendekoration versehen, die in Form und Farbe
künstlerisch die Stimmung wiedergeben sollte, die im Inhalt
des mündlich Verhandelten herrschte. Künstlerische Umgebung
und spirituelle Betätigung im Räume sollten eine harmonische
Einheit sein. Ich legte dabei den allergrößten Wert darauf,
die abstrakte, unkünstlerische Symbolik zu vermeiden und die
künstlerische Empfindung sprechen zu lassen.
In das Programm des Kongresses
wurde eine künstlerische Darbietung eingefügt. Marie von
Sivers hatte Schures Rekonstruktion des eleusinischen Dramas
schon vor langer Zeit übersetzt. Ich richtete es sprachlich
für eine Aufführung ein. Dieses Drama fügten wir dem
Programm ein. Eine Anknüpfung an das alte Mysterienwesen,
wenn auch in noch so schwacher Form, war damit gegeben —
aber, was die Hauptsache war, der Kongreß hatte
Künstlerisches in sich. Künstlerisches, das auf den Willen
hinwies, das spirituelle Leben fortan nicht ohne das
Künstlerische in der Gesellschaft zu lassen. Marie von Sivers,
welche die Rolle der Demeter übernommen hatte, wies in ihrer
Darstellung schon deutlich auf die Nuancen hin, die das
Dramatische in der Gesellschaft erlangen sollte. - Außerdem
waren wir in einem Zeitpunkt, in dem die deklamatorische und
rezitatorische Kunst durch Marie von Sivers in dem
Herausarbeiten aus der inneren Kraft des Wortes an dem
entscheidenden Punkte angekommen war, von dem aus auf diesem
Gebiete fruchtbar weitergegangen werden konnte.
Ein großer Teil der alten
Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft aus England,
Frankreich, namentlich aus Holland waren innerlich unzufrieden
mit den Erneuerungen, die ihnen mit dem Münchner Kongreß
gebracht worden sind. — Was gut gewesen wäre, zu verstehen,
was aber damals von den wenigsten ins Auge gefaßt wurde, war,
daß mit der anthroposophischen Strömung etwas von einer ganz
ändern inneren Haltung gegeben war, als sie die bisherige
Theosophische Gesellschaft hatte. In dieser inneren Haltung
lag der wahre Grund, warum die anthroposophische
Gesellschaft nicht als ein Teil der theosophischen
weiterbestehen konnte. Die meisten legten aber den Hauptwert
auf die Absurditäten, die im Laufe der Zeit in der
Theosophischen Gesellschaft sich herausgebildet haben und die
zu endlosen Zänkereien geführt haben.
TB 636 (XXXVIII.), S
345 ff
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