1880
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Felix Koguzki und
Joseph Ennemoser
Es ist in
Niederösterreich, an einem Orte, von dem aus man, wenn man
nach Süden sieht, besonders schön im Abendrot die Berge
überschaut, den niederösterreichischen Schneeberg, den
Wechsel, diejenigen Berge, welche den Nordrand der Steiermark
bilden, ein kleines, sehr unscheinbares Häuschen. Über der
Eingangstür stand: «In Gottes Segen ist alles gelegen». Ich
selber war in diesem Häuschen nur ein einziges Mal während
meiner Jugendzeit. Dort aber wohnte ein Mann, der äußerlich
sehr unscheinbar war. Kam man in sein Häuschen, so war es
überall voll von Heilkräutern. Er war Heilkräutersammler.
Und diese Heilkräuter packte er sich an einem bestimmten Tage
der Woche in einen Ranzen, mit diesem Ranzen auf dem Rücken
fuhr er dann dieselbe Strecke nach Wien, die ich auch dazumal
zur Schule fahren mußte, und wir fuhren immer zusammen,
gingen dann noch ein Stückchen zusammen durch die Straße,
die vom Südbahnhof zur Stadt hineinführt, «auf der Wieden»
in Wien. Dieser Mann war gewissermaßen in allem, was er
sprach, man möchte sagen, die Verkörperung des in der
dortigen Gegend herrschenden Geistes, wie er sich aber als
solcher herrschender Geist aus der ersten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts, die damals noch nicht lange vorüber
war, erhalten hatte. Dieser Mann sprach eigentlich eine
Sprache, die ganz anders klang als die Sprache der übrigen
Menschen. Wenn er von den Baumblättern sprach, wenn er von
den Bäumen selbst sprach, namentlich aber, wenn er von der
wunderbaren Wesenhaftigkeit seiner Heilkräuter sprach, so
merkte man, wie dieses Mannes Seele zusammenhing mit alledem,
was den Geist der Natur gerade in jener Gegend ausmachte, was
aber auch den Geist der Natur im weiteren Umkreise bildete.
Dieser Mann war ein Weiser auf seine eigene Art, durch seine
eigene innere Wesenheit, und aus dieser inneren Wesenheit
sprach viel mehr, als sonst oftmals die innere Wesenheit eines
Menschen birgt. Dieser Mann, Felix hieß er mit seinem
Vornamen, der gewissermaßen ein geistiges Band zwischen
seiner Seele und der Natur hatte, er sprach sehr viel auch von
allerlei Lektüre. Denn außer den Heilkräutern, die
sozusagen sein kleines Häuschen ausstopften, hatte er eine
ganze Bibliothek von allerlei bedeutungsvollen Werken, die
aber im Grunde genommen alle verwandt waren in ihrem
Grundzuge, in ihrem Grundcharakter mit demjenigen, was der
Grundcharakter, der Grundzug seiner eigenen Seele war. Der
Mann war ein armer Kerl. Denn man verdiente durch den Handel
mit Heilkräutern, die man sich in den Bergen mühsam
zusammenholte, arg wenig, außerordentlich wenig. Aber dieser
Mann hatte ein außerordentlich zufriedenes Gesicht und war
innerlich außerordentlich weise. Er sprach oftmals von dem
deutschen Mystiker Ennemoser, der seine liebste
Lektüre bildete, und der ja in seinen Schriften vieles
enthält von dem, was durch den deutschen Geist, aber eben
durch den deutschen Geist gerade in den großen Zeiten
gegangen war, als noch lebendig waren die Gedankenimpulse
Lessings, Herders, Schillers, Goethes und derjenigen, die im
Hintergrunde standen. Denn hinter diesen Geistern stand da
eben die geistige Welt, die sie in ihrer Art in ihren
Schriften in das, was sie der Welt bekundeten, überfließen
ließen. - Das aber, was in der gestern an mich gekommenen
Nummer des «Reich» aus dem Nachlasse Ennemosers gedruckt
worden ist, war mir bis gestern völlig unbekannt. Es enthält
den Schlußabschnitt aus Joseph Ennemosers «Horoskop der
Weltgeschichte » - ich bemerke dazu: Ennemoser ist im Jahr
1854 gestorben - und ist aus seinem Nachlasse veröffentlicht.
Ich möchte Ihnen zur Einleitung der heutigen Besprechung
einiges aus diesen Ausführungen Ennemosers vorlesen:
«... Der die deutschen
Gauen mit Schnee und Eis bedeckende Winter mag
noch lange dauern, bis der wahre Frühling kommt, allein er
wird kommen, der Samen der Freiheit ist gesät, und er wird
aufgehen, das Naturgesetz wird weder List noch Heeresmacht
aufheben. Wie einst dem rohen Stamm der germanischen
Nation die Idee des Christentums eingepflanzt und in
seinem Leben aufgenommen wurde, so wird dieser lebenskräftige
Stamm erst noch die grünen Zweige aus sich zu frischen
Blüten entfalten; wie der Leib der Kirche im deutschen
Baustile bereits in seinen Umrissen vollendet ist, worin das
fertige Glaubensdogma gepredigt wird, so werden auch die noch
fast überall fehlenden Türme mit dem Weihrauch der wahren
Andacht gen Himmel steigen, und es wird das immer geistige
Leben und die Organisation der persönlichen Beziehungen zum
Göttlichen erst noch zum selbstbewußten Verständnisse
ausreifen, das symbolische Gebälke muß erst noch in die
lebendige Bewegung der Zweckbestimmungen aufgehen, die Schwere
der Kirche muß gelichtet, die Stabilität des Dogma von der
Sonderheit in die Strömung des allgemein Menschlichen
geleitet werden; wie die Freiheit sich innerhalb der Gesetze
der Gerechtigkeit bewegen soll, so muß die Religion mit dem
Lichte der Wissenschaft eine erleuchtete Wahrheit, und die
Kunst eine Pflegerin der geistigen Schönheit am natürlichen
Stoffe werden!
Ist es nicht
ein utopischer Traum und wird Deutschland auch nur entfernt
ein solches Erfordernis zu erfüllen imstande sein? Deutschland
wird seinen Beruf erfüllen, oder auf das
allerschmählichste untergehen und mit ihm die europäische
Kultur. Die Entscheidung naht, die Zeit drängt, es weht
der Wind von Osten und Westen, es kann ein Sturm losbrechen!
Der Stamm der alten Politik steht auf faulen Wurzeln, der
Kalkül der Diplomaten möchte wohl zuschanden werden, ihre
Kunst ist zur verzerrten, von niemand verstandenen Künstelei
geworden. Kann man von den Disteln Feigen, von den Dornen
Trauben lösen? Das wahre Leben der Freiheit sproßt nur auf
den grünen Zweigen des Rechts und aus der warmen Quelle der
Nächstenliebe! Oder kann die Unnatur bestehen und die in alle
Glieder ausgeschlagene Disharmonie wieder zur alten Ordnung
der abgewelkten Leiber umkehren?
Es will Abend
werden, die erste Zeit ist vergangen, aber Deutschlands
Ende ist noch nicht gekommen; bisher hatte es kindische
Anschlage, es kommt eine zweite Zeit, darin wird es das
< Kindische> ablegen und <männliche> Anschläge
haben. Die Zeit eines Volkes ist erst dann zu Ende, wenn es
keine Fragen mehr hat und sich um des Lebens höhere Güter
nicht kümmert, oder wenn es unfähig ist, sich auf die
Lösung der Zeitfragen einzulassen! Der Deutsche hat
nichts weniger als seine Spannkraft verloren, der Sinn ist
klar, der Mut fest, und wer zweifelt an der Kraft des Armes?
Überall wirken lebendige Geister, nicht als Nachbildner, -
Originale stellen sie auf. Der wahre Hunger der Deutschen ist
die Sehnsucht nach einer höheren Freiheit des Geistes; der
Durst und das Verlangen nach dem Lichte der Wahrheit und des
Rechtes sind die Haupttriebfedern, die rüstigen Hände an
Werke zu legen, die alle noch unvollendet sind, ein Ziel zu
erstreben, das der Menschheit noch ferne liegt. Oder soll der
Strom wieder zurückfließen an die Quellen seines Ursprungs?
Sollen die Völker wieder zu Familien-Fideikommissen der
Fürsten werden oder handelt es sich um Staats- und
Völkerrechte? Es waltet ein höheres Gesetz in der Natur und
Geschichte, dem sich kein Volk zu entziehen vermag, keines
kann über sein Ziel hinaus, keines aber auch die Ordnung des
Ganzen stören und dahinter zurückbleiben, als wohin seine
Fähigkeit und der Geist der Sprache es treibt! Und die
Reaktion, wird sie nicht das Rad wieder in das alte Geleise
lenken? Eitle Toren, die sich nur an ihren Jugendträumen
ergötzen! Das vielseitig hervorbrechende Feuer kannst du
dämpfen, die innere einmal entzündete Glut aber nicht mehr
löschen; die Reaktion wird selbst das Mittel zur Freiheit,
der Druck bringt die beschleunigte Bewegung, der Haß der
Parteien wirkt stärker als die Liebe auf die Begebenheiten
der Zukunft; es bedarf vielleicht nur irgendeines zündenden
Funkens, und die unterdrückte Geisteskraft der ganzen Nation
bricht in hellen Flammen der Begeisterung aus. <Nescit vox
missa reverti>, die Geister des Lebens schlummern unter
dünner Decke, keine freie Handlung kann der Geist wieder
zurücknehmen, fremde Geister, Stimmungen und irdische Mächte
wirken allein oder zusammen auf den menschlichen Willen, und
treiben ihn mit unwiderstehlicher Macht zu Taten, die nach
göttlicher Anordnung zur Vereinigung der Gegensätze, zur
Versöhnung der Parteien und zur endlichen Erfüllung des
Berufes führen!»
Das sind die
Sätze eines Mannes, der im Jahre 1854 gestorben ist. Ich
mußte auch denken, als ich das eine Mal den guten Felix in
seinem Häuschen besuchte, daß ich damals auch noch aufsuchte
die Wohnung der Schulmeisters-Witwe jenes Schulmeisters, der
schon vor einigen Jahren gestorben war, die ich aber aufsuchte
aus Gründen, weil jener niederösterreichische Schulmeister
auch eine höchst interessante Persönlichkeit war. Die Witwe
hatte noch eine reiche Literatur, die er in seiner Bibliothek
gesammelt hatte. Alles war da zu finden, was deutsche
Gelehrsamkeit über deutsche Sprache, über Mythen- und
Legendenwesen gesammelt und aufgeschrieben hat, um es zu versenken
in die Kräfte des deutschen Volkes. Der einsame Schulmeister
hatte niemals Gelegenheit gehabt bis dahin, an die
Öffentlichkeit zu treten, bis zu seinem Tode nicht;
erst nach seinem Tode hat jemand einiges aus seinem Nachlaß
ausgegraben. Noch immer aber sind mir nicht zu Gesicht
gekommen jene langen Tagebücher, die jener einsame
Schulmeister geführt hat, in denen Perlen der Weisheit
standen. Ich weiß nicht, was aus diesen Tagebüchern geworden
ist. Dieser einsame Schulmeister wirkte auf der einen Seite
unter seinen Kindern; aber auf der anderen Seite, wenn er aus
der Schulstube hinausging, versenkte er sich - wie mancher
solcher Mensch aus der alten Zeit der deutschen Entwickelung -
in das, was auf solche Art als Substanz des deutschen Wesens
fortlebte. Man mußte, wenn man dann, hinweggehend von
solchen, wiederum nach Wien hineinfuhr, so recht sehen, wie
zusammenfließen uralte Zeit und neueste Zeit. In dieser
neuesten Zeit leben wir drinnen, und an uns ist es, diese
neueste Zeit etwas zu verstehen, sie zu verstehen, um in ihr
die Möglichkeit zu finden, soweit es an uns ist, mitzutun in
den großen Aufgaben, die von dieser Zeit aus der Menschheit
gestellt werden.
GA 192,
22.6.1919
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1886
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Die Familie Fehr
Das Haus Specht
wurde vom Winter 1885/86 an auch zum Ausgangspunkt der
Ausflüge Steiners m das gesellige Leben Wiens. Da wäre
zunächst der kleine Kreis gleichaltriger Freunde zu nennen.
Zu diesem Kreis gehörten Walter Fehr, seine Schwestern
Johanna und Radegunde, Josef Köck und einige andere. Zur
Familie Fehr hatte Steiner auf merkwürdige Weise ein
besonderes Verhältnis gewonnen. Zunächst entspann sich eine
Freundschaft mit Walter Fehr, den Steiner wegen seiner offenen
und treuen Art und seines sicheren Urteils schätzte. Walter
Fehr führte Steiner in seine Familie ein. Der Vater der
Geschwister Fehr war offensichtlich ein gelehrter Sonderling.
Steiner bekam ihn nie zu Gesicht, obwohl er neben dem Zimmer
lebte, in dem Steiner seine Freunde besuchte. Durch die
Schilderungen der Kinder und durch Bücher aus der Bibliothek
des Vaters gewann Steiner nach einiger Zeit cm Bild dieses
Menschen. Als der Vater starb, baten die Geschwister Fehr
Rudolf Steiner, ihrem Vater die Grabrede zu halten;
offensichtlich erkannten sie m dem gleichaltrigen Freund den
zu dieser Aufgabe berufenen Menschen. Steiners Worte bewegten
die Geschwister tief, und sie fanden, daß ihr Freund ein
treues Bild des Vaters entworfen hatte.
Während
Steiner mit Walter Fehr und seinen Freunden literarische
Fragen diskutierte und recht intensiv feucht-fröhliche Feste
feierte, entstand zwischen ihm und der jüngeren Schwester
Radegunde eine wechselseitige tiefe Zuneigung: «Wir liebten
einander und wußten beide das wohl ganz deutlich; aber
konnten auch beide nicht die Scheu davor überwinden, uns zu
sagen, daß wir uns liebten. Und so lebte die Liebe zwischen
den Worten, die wir miteinander sprachen, nicht in denselben.»
(28/120) Die recht ärmlichen Verhältnisse, in denen beide
damals lebten, verboten weitergehende Pläne, und Steiner
konnte dem «sehr geehrten Fräulein» nur brieflich seine
«tief-freundschaftlichen Empfindungen» versichern und sagen,
daß sein Gefühl für Radegunde «unauslöschlich» sei
(38/168). Die Hoffnungen, die in Gundi, wie sie genannt wurde,
lebten, zerrannen langsam, nachdem Rudolf Steiner nach Weimar
entschwunden war. Sie starb 1903, fünfunddreißigjährig, in
Wien. Eine Erinnerung an dieses Verhältnis verbirgt sich
möglicherweise im ersten Bilde des Dramas Die Pforte der
Einweihung in den Worten, in denen Johannes Thomasius der
Freundin gedenkt, die er verließ und die, ihrer
Lebenshoffnung beraubt, dahinsiechte.
Lindenberg
(1997), S 138
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