seinem Sohne zu vermählen. Denn es
kann geglaubt werden, daß Wilhelm tot sei. Schon ist das Hochzeitsfest
für den Sohn Gerhards im Gange; da erscheint auf demselben als
unbekannter Pilger - Wilhelm. Er war lange umhergeirrt, um seine Verlobte
zu suchen. Ihm wird nach dem selbstlosen Verzicht von Gerhards Sohn seine
Braut zurückgegeben. Einige Zeit bleiben beide noch bei Gerhard; dann
rüstet dieser ein Schiff aus, um sie nach England zu bringen. Als die
wieder zu Würden gekommenen Gefangenen Gerhard zunächst in England
begrüßen können, wollen sie ihn zum König wählen. Er aber kann
erwidern, daß er ihnen ihr rechtmäßiges Königspaar bringe. Auch sie
hatten ja Wilhelm für tot gehalten und wollten einen ändern König für
das Land wählen, in dem die Zustände während des Umherirrens Wilhelms
chaotisch geworden waren. - Der Kölner Kaufmann schlägt alles, was man
ihm an Würden und Reichtümern anbietet, aus und kehrt nach Köln
zurück, um dort weiter der einfache Kaufmann zu sein, der er vorher
gewesen. - Die Geschichte wird so eingekleidet, daß der sächsische
Kaiser, Otto der Erste, nach Köln reist, um den «guten Gerhard» kennen
zu lernen. Denn der mächtige Kaiser ist der Versuchung unterlegen, für
manches, was er getan hat, auf «irdischen Lohn» zu rechnen. Dadurch,
daß er Gerhard kennen lernt, wird ihm an einem Beispiel fühlbar, wie ein
einfacher Mann unsägliches Gutes tut - Hingabe aller Waren, die er
erstanden, um Gefangene zu befreien; Rückgabe der Braut des Sohnes an
Wilhelm; dann alles, was er verrichtet, um diesen wieder nach England zu
bringen und so weiter -, ohne irgendwelchen irdischen Lohn dafür zu
begehren, sondern alle Belohnung allein von dem Walten der Gottheit zu
erwarten. Der Mann heißt im Menschenmunde «der gute Gerhard»; der
Kaiser fühlt, daß er einen mächtigen religiösmoralischen Ruck erhält
durch die Bekanntschaft mit Gerhards Gesinnung.
Die Erzählung, deren Gerüst ich hier gegeben habe, um nicht über
etwas wenig Bekanntes bloß mit Namen zu deuten, zeigt nun von der
einen Seite ganz deutlich die Seelenverfassung des Zeitalters vor dem
Heraufkommen der Bewußtseinsseele in der Entwickelung der Menschheit.
Wer nämlich die Erzählung, wie sie Rudolf von Ems gibt, auf sich
wirken läßt, der kann fühlen, wie das Erleben der Erdenwelt seit jener
Zeit, in der Kaiser Otto gelebt (im zehnten Jahrhundert), sich gewandelt
hat.
Man sehe hin, wie in dem Zeitalter der Bewußtseinsseele die Welt vor
dem Seelenblicke des Menschen gewissermaßen «hell» für alles Erfassen
des physischen Seins und Werdens geworden ist. Gerhard fährt mit seinen
Schiffen gewissermaßen wie im Nebel. Er kennt nur immer ein Stückchen
von der Welt, mit der er in Verbindung kommen will. Man erfährt in Köln
nichts von dem, was in England vor sich geht, und muß jahrelang suchen
nach einem Menschen, der in Köln ist. Man lernt Leben und Besitz eines
solchen Menschen, wie der ist, zu dem Gerhard auf der Heimreise
verschlagen wird, erst kennen, wenn man durch das Schicksal unmittelbar an
den entsprechenden Ort herangebracht wird. Zu dem Durchschauen der
Weltverhältnisse von heute verhält sich das damalige wie das
Hineinblicken in eine sonnenerhellte weite Landschaft zu dem
Sich-Hintasten im dichten Nebel.
Mit dem, was man heute «geschichtlich» gelten läßt, hat das nichts
zu tun, was in Verbindung mit dem «guten Gerhard» erzählt wird. Um so
mehr aber mit der Gemütsstimmung und der ganzen geistigen Lage des
Zeitalters. Diese, nicht die einzelnen Ereignisse der physischen
Welt, werden in Imaginationen dargestellt.
In dieser Darstellung spiegelt sich, wie der Mensch sich nicht nur als
ein Wesen fühlt, das als ein Glied in der Kette der Ereignisse der
physischen Welt lebt und tätig ist, sondern wie er in sein irdisches
Dasein geistige, übersinnliche Wesen hineinwirken und mit ihnen seinen
Willen in Zusammenhang fühlt.
Die Erzählung vom «guten Gerhard» zeigt, wie das Dämmerdunkel, das
in bezug auf das Durchschauen der physischen Welt dem Zeitalter der
Bewußtseinsseele vorangegangen ist, den Blick in das Erschauen der
geistigen Welt gewiesen hat. Man sah nicht in die Weiten des
physischen Daseins, man sah um so mehr in die Tiefen des geistigen.
Aber so, wie einst ein dämmerhaftes (traumhaftes) Hellsehen der
Menschheit die geistige Welt gezeigt hatte, war es in dem gekennzeichneten
Zeitalter nicht mehr. Die Imaginationen waren da; aber sie traten
innerhalb einer Auffassung der Menschenseele auf, die schon stark nach dem
Gedanklichen hindrängte. Das bewirkte, daß man nicht mehr wußte, wie
die Welt, die sich in Imaginationen offenbarte, sich zu der des physischen
Daseins verhält. Deshalb erschienen die Imaginationen Leuten, die schon
eindringlicher sich an das Gedankliche hielten, als willkürliche
«Erdichtungen» ohne Wirklichkeit.
Man wußte nicht mehr, daß man durch die Imagination in eine Welt
blickt, in der man mit einem ganz ändern Teile seines Menschenwesens
steht als in der physischen. So standen in der Darstellung beide Welten
nebeneinander; und beide trugen durch die Haltung der Erzählung einen
Charakter, daß man meinen konnte, die geistigen Geschehnisse, die man
erzählte, hätten sich so wahrnehmbar zwischen den physischen abgespielt,
wie diese selbst wahrnehmbar sind.
Dazu kam, daß man die physischen Ereignisse in vielen dieser
Erzählungen durcheinander warf. Personen, deren Leben Jahrhunderte
voneinander entfernt liegt, treten als Zeitgenossen auf; Geschehnisse
werden an unrichtige Orte oder in unrichtige Zeitpunkte versetzt.
Es werden Tatsachen der physischen Welt so von der menschlichen Seele
angeschaut, wie man nur das Geistige anschauen kann, für das Zeit und
Raum eine andere Bedeutung als für das Physische haben; die physische
Welt wird in Imaginationen statt in Gedanken dargestellt; dafür wird die
geistige Welt so in die Erzählung verwoben, wie wenn man es nicht mit
einer anderen Daseinsform, sondern mit dem Fortgang physischer Tatsachen
zu tun hätte.
Eine nur an das Physische sich haltende Geschichts-Erfassung denkt, man
habe die alten Imaginationen des Orients, Griechenlands und so weiter
übernommen und dichterisch mit den geschichtlichen Stoffen verwoben, die
die Menschen damals beschäftigten. Man hatte ja in den Schriften Isidors
von Sevilla aus dem siebenten Jahrhundert eine förmliche Sammlung alter
«Sagenmotive».
Doch dies ist eine äußerliche Betrachtungsweise. Sie hat etwas
Bedeutsames nur für denjenigen, der keinen Sinn für die menschliche
Seelenverfassung hat, die sich mit ihrem Dasein noch im unmittelbaren
Anschluß an die geistige Welt weiß und die dieses Wissen in
Imaginationen auszudrücken sich gedrängt fühlt. Wird dann statt der
eigenen Imagination eine geschichtlich überlieferte verwendet, in die man
sich eingelebt hat, so ist das nicht das Wesentliche. Dieses liegt darin,
daß die Seele nach der geistigen Welt hin orientiert ist, so daß sie ihr
eigenes Tun und das Naturgeschehen in diese Welt eingegliedert sieht.
Doch ist in der Erzählungsart der Zeit vor demAnbruch des
Bewußtseinszeitalters Verirrung zu bemerken.
In dieser Verirrung schaut die geistgemäße Beobachtung das Wirken der
luziferischen Macht.
Was die Seele drängt, Imaginationen in ihren Erlebnisgehalt
aufzunehmen, das entspricht weniger den Fähigkeiten, die sie in der
Vorzeit - durch ein traumhaftes Hellsehen - hatte, sondern schon mehr
denjenigen, die im achten bis vierzehnten nachchristlichen Jahrhundert
vorhanden waren. Diese Fähigkeiten drängten schon mehr nach einer
gedanklichen Erfassung des sinnlich Wahrgenommenen hin. Beide Fähigkeiten
sind in der Übergangszeit nebeneinander vorhanden. Die Seele ist
hineingestellt zwischen die alte Orientierung, welche auf die Geisteswelt
geht und die die physische nur wie im Nebel sieht, und die neue, die auf
das physische Geschehen geht und in der das geistige Anschauen verblaßt.
In dieses schwankende Gleichgewicht der Menschenseele wirkt die
luziferische Macht hinein. Sie möchte den Menschen verhindern, die volle
Orientierung in der physischen Welt zu finden. Sie möchte ihn in
geistigen Regionen, die ihm in der Vorzeit angemessen waren, mit seinem
Bewußtsein erhalten. Sie möchte in sein traumhaft imaginatives
Weltanschauen nicht rein Gedankliches, das auf das Erfassen des physischen
Daseins gerichtet ist, einfließen lassen. Sie kann sein
Anschauungsvermögen in unrechter Art wohl von der physischen Welt
zurückhalten. Sie kann aber das Erleben der alten Imaginationen nicht in
der rechten Art aufrecht erhalten. So läßt sie ihn in Imaginationen
sinnen, ohne ihn seelisch ganz in die Welt versetzen zu können, in denen
Imaginationen vollgültig sind.
Im Anbruche des Bewußtseinszeitalters waltet Luzifer so, daß durch
ihn der Mensch in die an die physische zunächst angrenzende
übersinnliche Region auf eine ihm nicht entsprechende Art versetzt wird.
Man sehe dies ganz anschaulich an der «Sage» vom «Herzog Ernst»,
die zu den beliebtesten des Mittelalters gehörte und die im weiten
Umkreise überall erzählt wurde.
Der Herzog Ernst kommt in Zwiespalt mit dem Kaiser, der ihn ungerecht
durch Krieg zugrunde richten will. Der Herzog fühlt sich gedrängt, dem
unmöglichen Verhältnis mit dem Reichshaupte dadurch zu entgehen, daß er
an der Kreuzzugsbewegung nach dem Orient teilnimmt. In den Erlebnissen,
die er nun durchmacht, bis die Reise ihn nach dem Ziele führt, wird
«sagenhaft» das Physische mit dem Geistigen in der angedeuteten Art
verwoben. Der Herzog gelangt zum Beispiel auf seinem Wege zu einem Volke,
das den Kopf gestaltet hat wie Kraniche; er wird an den «Magnetberg» mit
den Schiffen verschlagen, von dem diese magnetisch angezogen werden, so
daß Menschen, die in die Nähe des Berges kommen, nicht wieder zurück
können, sondern elendig umkommen müssen. Der Herzog Ernst und sein
Gefolge machen sich dadurch los, daß sie sich in Häute einnähen, von
Greifen, die gewohnt sind, die nach dem Magnetberg verschlagenen Menschen
zur Beute sich zu holen, auf einen Berg sich bringen lassen und dort nach
dem Durchschneiden der Häute in Abwesenheit der Greife entkommen. Die
weitere Wanderung führt dann zu einem Volke, dessen Ohren so lang sind,
daß sie wie eine Kleidung um den ganzen Körper geschlagen werden
können; zu einem ändern, dessen Füße so groß sind, daß sich die
Leute, wenn es regnet, auf den Boden legen können und die Füße als
Schirme über sich breiten können. Er kommt zu einem Zwergen-, einem
Riesenvolke und so weiter. Dergleichen vieles wird in Verbindung mit der
Kreuzzugsreise des Herzogs Ernst erzählt. Die «Sage» läßt nicht in
der rechten Art fühlen, wie überall da, wo Imaginationen eintreten, die
Hinorientierung auf eine geistige Welt stattfindet, wie da Dinge durch
Bilder erzählt werden, die in der Astralwelt sich abspielen und die mit
Wille und Schicksal der Erdenmenschen zusammenhängen.
Und so ist es mit der schönen «Rolandsage», in der Karls des Großen
Zug gegen die Heiden nach Spanien verherrlicht wird. Da wird sogar in
Anlehnung an die Bibel gesagt, daß, damit Karl der Große ein von ihm
erstrebtes Ziel erreichen könne, die Sonne sich in ihrem Laufe hemme, so
daß ein Tag so lang werde wie sonst zwei.
Und in der «Nibelungensage» sieht man, wie diejenige Form, die sich
in nordischen Ländern erhalten hat, das Anschauen des Geistigen reiner
aufrecht erhält, während in Mitteleuropa die Imaginationen an das
physische Leben nahe herangebracht werden. An der nordischen Form der
Erzählung ist ausgedrückt, daß sich die Imaginationen auf eine «astralische
Welt» beziehen; in der mitteleuropäischen Gestalt des Nibelungenliedes
gleiten die Imaginationen in das Anschauen der physischen Welt hinein.
Auch die in der Herzog-Ernst-Sage auftretenden Imaginationen beziehen
sich ja in Wirklichkeit auf das, was zwischen den Erfahrungen in
der physischen Sphäre in einer «astralischen Welt» erlebt wird, der der
Mensch ebenso angehört wie der physischen.
Wendet man auf all das den Geistesblick, so schaut man, wie das
Eintreten in das Bewußtseinszeitalter das Herauswachsen aus einer
Entwickelungsphase bedeutet, in der die luziferischen Mächte über die
Menschheit siegen würden, wenn nicht durch die Bewußtseinsseele mit
ihrer Kraft der Intellektualität ein neuer Entwickelungseinschlag in das
Menschenwesen käme. Die Hinorientierung auf die geistige Welt, die in die
Bahnen der Verirrung einlenken will, wird durch die Bewußtseinsseele
gehindert; der Menschenblick wird herausgeholt in die physische Welt.
Alles, was nach dieser Richtung geschieht, entzieht die Menschheit der sie
beirrenden luziferischen Macht.
Da ist Michael schon von der geistigen Welt aus für die Menschheit
tätig. Er bereitet vom Übersinnlichen aus sein späteres Werk vor. Er
gibt der Menschheit Impulse, die das vorzeitige Verhältnis zur
geistig-göttlichen Welt bewahren, ohne daß dieses Bewahren einen
luziferischen Charakter annimmt.
Dann, im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, dringt Michael
mit der Tätigkeit, die er vom fünfzehnten bis in das neunzehnte
Jahrhundert vorbereitend vom Übersinnlichen aus geübt hat, in die
physische Erdenwelt selbst vor.
Die Menschheit mußte eine Zeitlang die geistige Entwickelung daraufhin
durchmachen, daß sie sich von dem Verhältnisse zur geistigen Welt
befreit, das ein unmögliches zu werden drohte. Darauf lenkte diese
Entwickelung durch die Michael-Mission in Bahnen ein, die den Fortgang der
Erdenmenschheit wieder in ein Verhältnis zur geistigen Welt bringen, das
ihr heilsam ist.
So steht Michael in seinem Wirken zwischen dem luziferischen Weltbild
und dem ahrimanischen Weltverstand. Das Weltbild wird bei ihm
weisheitsvolle Weltoffenbarung, die den Weltverstand als
göttliches Weltenwirken enthüllt. In diesem Weltenwirken lebt
des Christus Sorge für die Menschheit, das so aus Michaels Weltoffenbarung
dem Menschenherzen sich enthüllen kann.
(Die zweite und dritte Betrachtung folgen.)
Goetheanum, 23.November 1924.