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Rudolf Steiner

Anthroposophische Leitsätze


ZWEITE BETRACHTUNG: WIE DIE MICHAEL-KRÄFTE IN DIE ERSTE ENTFALTUNG DER BEWUSSTSEINSSEELE WIRKEN

In der Zeit während des Einschlages der Bewußtseinsseele in die Erdenentwickelung der Menschheit war es für die Wesen der dem Erdendasein nächsten geistigen Welt schwierig, an die Menschheit heranzukommen. Die Erdenereignisse nehmen eine Form an, die zeigt, daß Verhältnisse ganz besonderer Art notwendig sind, um dem Geistigen den Weg in das physische Leben der Menschheit möglich zu machen. Aber es zeigt andererseits diese Form auch wieder in oftmals klärendster Art, wie das eine Geistige da, wo die Mächte der Vergangenheit noch wirken und die Mächte der Zukunft schon zu wirken beginnen, sich energisch gegen ein anderes Geistiges seinen Weg in das Erdenleben der Menschheit sucht.

Da entwickelt sich zwischen 1339 und 1453 ein mehr als hundertjähriger verwirrender Krieg zwischen Frankreich und England. In dieser von einer gewissen, der Menschenentfaltung ungünstigen geistigen Strömung herrührenden Verwirrung finden Ereignisse ihre Hemmungen, die schneller die Bewußtseinsseele in die Menschheit eingeführt hätten, wenn die Hemmungen nicht dagewesen wären. Chaucer (der 1400 gestorben ist) hat die englische Literatur begründet. Man braucht nur daran zu denken, was von dieser Literaturbegründung für geistige Folgen in Europa ausgegangen sind, und man wird es bedeutsam finden, daß das Ereignis nicht frei sich gestalten konnte, sondern daß es in eine Kriegsverwirrung hineinfiel. Dazu kommt, daß schon vorher (1215) in England dasjenige politische Denken begonnen hatte, das durch die Bewußtseinsseele seine rechte Ausprägung erhalten kann. Auch die weitere Entwickelung dieses Ereignisses fällt in die Kriegshemmungen hinein.

Man hat es da mit einer Zeit zu tun, in der die geistigen Kräfte, die den Menschen so entwickeln wollen, wie er von ihnen übergeordneten göttlich-geistigen Mächten von Anfang an veranlagt ist, ihre Widersacher finden. Diese Widersacher wollen den Menschen in andere Bahnen einlenken, als die ihm vom Anbeginne gewiesenen sind. Er würde dann die Kräfte seines Anfangs für seine spätere Entwickelung nicht anwenden können. Seine kosmische Kindheit bliebe für ihn unfruchtbar. Sie würde zum verdorrenden Teile seiner Wesenheit. Die Folge davon wäre, daß der Mensch die Beute der luziferischen oder ahrimanischen Mächte werden könnte und ihm seine selbsteigene Entfaltung entfiele. Hätten es die Menschheits-Widersacher mit diesen ihren Bestrebungen nicht bloß bis zu Hemmungen, sondern bis zu einem vollen Erfolg gebracht, so hätte der Einschlag der Bewußtseinsseele unterbunden werden können.

Ein Ereignis, in dem das Einströmen des Geistigen in die Erdenereignisse besonders helleuchtend sich offenbart, ist das Auftreten und Schicksal der Jeanne d'Arc, der Jungfrau von Orleans (1412-1431). Was sie tut, hat für sie selbst die Impulse tief in den unterbewußten Untergründen der Seele. Sie folgt den dunklen Eingebungen der geistigen Welt. Auf der Erde herrscht Verwirrung, durch die das Bewußtseinszeitalter verhindert werden soll. Michael muß seine spätere Mission von der Geistwelt her vorbereiten. Er kann es da, wo seine Impulse in Menschenseelen aufgenommen werden. Die Jungfrau hat eine solche Seele. Er wirkt, wenn dies auch nur in minderem Grade möglich und für das äußere geschichtliche Leben weniger sichtbar ist, auch durch viele andere Seelen. In solchen Ereignissen, wie in dem Kriege zwischen England und Frankreich, findet er seine ahrimanische Gegnerschaft.

Von dem luziferischen Widersacher, den er in dieser Zeit gefunden hat, ist in der vorigen Betrachtung gesprochen. Aber dieser Widersacher zeigt sich ja auch ganz besonders darinnen, wie die Ereignisse sich abspielten, die dem Auftreten der Jungfrau von Orleans folgten. Man sieht an diesen Ereignissen, daß die Menschen keine Stellung mehr gewinnen konnten gegenüber einem Eingreifen der Geistwelt in die Geschicke der Menschheit, das begriffen und auch von den Menschen in ihren Willen aufgenommen werden konnte, als noch imaginatives Verstehen vorhanden war. Die Stellung zu solchem Eingreifen ist mit dem Aufhören des Wirkens der Verstandes- oder Gemütsseele unmöglich geworden; die Stellung, die der Bewußtseinsseele entspricht, war damals noch nicht gefunden; sie ist auch heute noch nicht errungen.

So ist es denn gekommen, daß damals die Gestaltung Europas von der geistigen Welt aus zustande gekommen ist, ohne daß die Menschen ein Verständnis für das hatten, was geschieht, und ohne daß, was sie vermochten, einen nennenswerten Einfluß auf diese Gestaltung hat haben können.

Man braucht ja nur sich vorzustellen, was im fünfzehnten Jahrhundert geschehen wäre, wenn es keine Jungfrau von Orleans gegeben hätte, und man wird die Bedeutung dieses aus dem Geiste bedingten Ereignisses wohl einsehen. - Es gibt ja auch Persönlichkeiten, die eine solche Erscheinung materialistisch erklären wollen. Mit ihnen ist eine Verständigung deshalb unmöglich, weil sie das offenbar Geistige im materialistischen Sinne willkürlich umprägen.

Deutlich zeigt sich nun auch in gewissen geistigen Bestrebungen der Menschheit, wie diese den Weg zum Göttlich-Geistigen nicht mehr ohne Schwierigkeiten findet, auch wenn sie ihn intensiv sucht. Es sind Schwierigkeiten, die in den Zeitaltern nicht vorhanden waren, in denen noch mit Imaginationen Einsicht geschaffen werden konnte. Man hat, um das hier Gemeinte richtig zu beurteilen, nur nötig, die als philosophische Denker auftretenden Persönlichkeiten im klaren Lichte zu sehen. Ein Philosoph kann nicht nach seiner Wirkung auf sein Zeitalter allein betrachtet werden, nicht darnach, wie viele Menschen seine Ideen aufgenommen haben. Er ist vielmehr der Ausdruck, die offenbare Wesenheit für sein Zeitalter. Was der große Teil der Menschheit unbewußt als Seelenverfassung, als unbewußte Gefühle und Lebensantriebe in sich trägt, das bringt der Philosoph in seine Ideen. Er zeigt, wie das Thermometer den Wärmezustand seiner Umgebung, so den Seelenzustand seines Zeitalters an. Die Philosophen sind ebensowenig die Ursachen der Seelenverfassung ihrer Zeitalter wie die Thermometer die der Wärmeverfassung ihrer Umgebung.

Man sehe unter diesen Voraussetzungen auf den Philosophen René Descartes, der wirkte, als das Bewußtseinszeitalter schon im Gange war. (Er lebte 1596 bis 1650.) Die schmale Stütze seiner Verbindung mit der Geistwelt (dem wahren Sein) ist das Erlebnis «Ich denke, also bin ich». Im Zentrum des Selbstbewußtseins, des Ich, sucht er die Realität zu empfinden; und zwar nur so viel, als ihm die Bewußtseinsseele sagen kann.

Und über alles übrige Geistige sucht er auf dem intellektualistischen Wege sich klar zu werden, indem er untersucht, wieviel Bürgschaft die Gewißheit des eigenen Selbstbewußtseins über die Gewißheit von anderem gibt. Er fragt überall gegenüber den Wahrheiten, die ihm geschichtlich überliefert sind: sind sie so klar wie das «Ich denke, also bin ich»? Und kann er das bejahen, so nimmt er sie an.

Ist bei einem solchen menschlichen Denken nicht aller Anschauung, die auf die Dinge der Welt orientiert ist, der Geist ausgetrieben? Die Offenbarung dieses Geistes hat sich auf die kleinste Stütze im Selbstbewußtsein zurückgezogen; alles andere erweist sich unmittelbar ohne Geistesoffenbarung. Es kann auf das außer dem Selbstbewußtsein Liegende nur mittelbar durch den Intellekt in der Bewußtseinsseele ein Licht dieser Geistesoffenbarung geworfen werden.

Der Mensch dieses Zeitalters läßt gewissermaßen den noch fast leeren Inhalt seiner Bewußtseinsseele in intensiver Sehnsucht nach der Geistwelt strömen. Ein dünner Strahl geht dahin.

Die Wesen der an die Erdenwelt unmittelbar angrenzenden Geistwelt und die Menschenseelen auf Erden kommen schwer zueinander. Michaels übersinnliche Vorbereitung seiner späteren Mission wird nur unter den größten Hemmungen von der Menschenseele miterlebt.

Man vergleiche, um das Wesen der Seelenstimmung zu erfassen, die in Descartes zum Ausdrucke kommt, diesen Philosophen mit Augustinus, der der äußeren Formulierung nach dieselbe Stütze für das Erleben der geistigen Welt geltend macht wie Descartes. Nur geschieht es bei Augustinus aus der vollen imaginativen Kraft der Verstandes- oder Gemütsseele. (Er lebte 354 bis 430.) Man findet Augustinus mit Descartes mit Recht verwandt. Nur ist der Intellekt des Augustinus noch der Rest des Kosmischen, der bei Descartes der schon in die einzelne Menschenseele einziehende. Gerade an dem Fortgang des Geistesstrebens von Augustinus zu Descartes kann man sehen, wie der kosmische Charakter der Gedankenkräfte sich verliert, und wie dieser dann in der Menschenseele wieder auftritt. Man schaut aber zugleich, wie Michael und die Menschenseele unter Schwierigkeiten sich so zusammenfinden, daß Michael im Menschen leiten kann, was er einst im Kosmos geleitet hat.

Es sind gegen dieses Zusammenfinden die luziferischen und ahrimanischen Kräfte am Werke. Die luziferischen wollen am Menschen nur das zur Entfaltung kommen lassen, was ihm in seiner kosmischen Kindheit eigen war; die ahrimanischen als Gegner und doch mit ihnen zusammenwirkend möchten die in späteren Weltaltern erlangten Kräfte allein entwickeln und die kosmische Kindheit verdorren lassen.

Unter solchen gesteigerten Widerständen wurde von den Menschenseelen Europas das verarbeitet, was an geistigen Impulsen durch die Kreuzzüge an alten Weltanschauungsideen vom Osten nach dem Westen geströmt war. Die Michael-Kräfte lebten ja ganz stark in diesen Ideen. Die kosmische Intelligenz, deren Verwaltung das alte geistige Erbgut Michaels war, beherrschte diese Weltanschauungen.

Wie konnten sie aufgenommen werden, da eine Kluft lag zwischen den Kräften der Geist-Welt und den Menschenseelen? Sie fielen in die erst leise werdende Bewußtseinsseele. Einerseits begegneten sie dem Hindernis, das in der noch schwach entwickelten Bewußtseinsseele gegeben war. Sie übertönten deren Wirksamkeit, lahmten sie. Aber anderseits auch auf ein noch von Imagination getragenes Bewußtsein stießen sie nicht mehr. Die Menschenseele konnte sie nicht mit voller Einsicht mit sich verbinden. Man nahm sie entweder ganz oberflächlich oder abergläubisch auf.

In diese Geistesverfassung muß geschaut werden, wenn die Gedankenbewegungen, die an Namen von Wicliff, Huß und andere einerseits, an die Bezeichnung «Rosenkreuzerwesen» andrerseits sich anschließen, verstanden sein wollen.

Davon soll im weiteren gesprochen werden.

(Die Fortsetzung dieser zweiten und die dritte Betrachtung folgen.)

Goetheanum, 30. November 1924.

Lit.: GA 26

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