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Rudolf Steiner

Anthroposophische Leitsätze


HIMMELSGESCHICHTE
MYTHOLOGISCHE GESCHICHTE
ERDGESCHICHTE
MYSTERIUM VON GOLGATHA

Im räumlichen Kosmos stehen einander gegenüber: Weltenweite und Erdenzentrum. In der Weltenweite sind die Sterne gewissermaßen «ausgestreut». Vom Erdenzentrum strahlen Kräfte nach allen Richtungen der Weltenweite.

So wie der Mensch in der gegenwärtigen kosmischen Epoche in der Welt darinnen steht, kann ihm das Sternenscheinen und Erdenkräftewirken nur als das Gesamtwerk der göttlich-geistigen Wesen, mit denen er in seinem Innern verbunden ist, erscheinen.

Aber es gab eine kosmische Zeit-Epoche, da waren dieses Scheinen und diese Erdenkräfte noch unmittelbare geistige Offenbarung der göttlich-geistigen Wesen. Der Mensch in seinem dumpfen Bewußtsein fühlte die göttlich-geistigen Wesen wirksam in seiner Wesenheit.

Dann kam eine andere Zeit-Epoche. Der Sternenhimmel löste sich als körperliches Wesen aus dem göttlich-geistigen Wirken heraus. Es entstand das, was man Weltengeist und Weltenleib nennen kann. Der Weltengeist ist eine Vielheit göttlich-geistiger Wesenheiten. Sie wirken in der älteren Epoche aus den Sternen-Orten auf die Erde herein. Was da von den Weltenweiten erglänzte, was vom Erdenzentrum als Kräfte erstrahlte, das war in Wirklichkeit Intelligenz und Wille der göttlich-geistigen Wesenheiten, die an der Erde und ihrer Menschheit schufen.

In der späteren kosmischen Epoche - nach der Saturn- und Sonnenentwickelung - wurde das Wirken von Intelligenz und Wille der göttlich-geistigen Wesen immer geistiginnerlicher. Worinnen sie ursprünglich wirksam-anwesend waren, das wurde «Weltenleib», harmonische Anordnung der Sterne im Weltenraume. Man kann, wenn man in geistgemäßer Weltanschauung auf diese Dinge zurückblickt, sagen: aus dem ursprünglichen Geist-Leib der weltschöpferischen Wesen ist Weltengeist und Weltenleib entstanden. Und der Weltenleib zeigt in Sternen-Anordnung und Sternenbewegung, wie einst das intelligente und willensgemäße Götterwirken war. Aber für die kosmische Gegenwart ist, was einst frei bewegliche Götterintelligenz und Götterwille in den Sternen war, in diesen gesetzmäßig-fest geworden.

Was also heute aus den Sternenwelten zu dem Menschen auf der Erde hereinscheint, ist nicht unmittelbarer Ausdruck von Götterwillen und Götterintelligenz, sondern stehengebliebenes Zeichen für das, was diese in den Sternen einst waren. In der Bewunderung aus der Menschenseele lösenden Himmels-Stern-Gestaltung kann man daher eine vergangene, aber nicht die gegenwärtige Götteroffenbarung sehen.

Aber dasjenige, was so im Sternenschein «vergangen» ist, in der Geist-Welt ist es «gegenwärtig». Und der Mensch lebt mit seinem Wesen in diesem «gegenwärtigen» Weltengeist.

Man muß in der Weltgestaltung zurückblicken auf eine alte kosmische Epoche, in der Weltengeist und Weltenleib als eine Einheit wirken. Man muß die mittlere Epoche ins Auge fassen, in der sie als Zweiheit sich entfalten. Und man muß in die Zukunft, die dritte Epoche, denken, in der der Weltengeist den Weltenleib wieder in seine Wirksamkeit übernehmen wird.

Für die alte Epoche wären Sternenkonstellation und Sternenlauf nicht zu «berechnen» gewesen, denn sie waren Ausdruck der freien Intelligenz und des freien Willens von göttlich-geistigen Wesen. In der Zukunft werden sie wieder nicht zu berechnen sein.

«Berechnung» hat nur eine Bedeutung für die mittlere kosmische Epoche.

Und wie für Sternenkonstellation und Sternenlauf, so gilt dieses auch für die Wirksamkeit der vom Erdenzentrum in die Weltenweite strahlenden Kräfte. Da wird das, was «aus der Tiefe» wirkt, «berechenbar».

Aber alles strebt aus der älteren kosmischen Epoche der mittleren zu, in der das Räumliche und Zeitliche «berechenbar» wird und das Göttlich-Geistige als Intelligenz- und Willens-Offenbarung «hinter» dem «Berechenbaren» gesucht werden muß.

Nur in dieser mittleren Epoche sind die Bedingungen gegeben, in denen die Menschheit von einem dumpfen Bewußtsein zu einem hellen, freien Selbstbewußtsein, zu eigener freier Intelligenz und eigenem freien Willen fortschreiten kann.

Es mußte einmal die Zeit kommen, in der Kopernikus und Kepler den Weltenleib «berechneten». Denn aus den kosmischen Kräften, die mit der Herbeiführung dieses Augenblickes zusammenhängen, mußte das menschliche Selbstbewußtsein sich gestalten. In älterer Zeit wurde dieses Selbstbewußtsein veranlagt; dann kam die Zeit, wo es so weit war, die Weltenweite zu «berechnen».

Auf der Erde spielt sich die «Geschichte» ab. Die wäre nie gekommen, wenn die Weltenweite nicht zu «festen» Sternkonstellationen und Sternenlaufen geworden wäre. In dem «geschichtlichen Werden» auf Erden ist ein Abbild - aber ein durchaus gewandeltes - dessen vorhanden, was einst «Himmelsgeschichte» war.

Ältere Völker haben in ihrem Bewußtsein noch diese «Himmelsgeschichte», und sie blicken viel mehr auf diese als auf die «Erdengeschichte».

In der «Erdengeschichte» lebt Intelligenz und Wille der Menschen, erst im Zusammenhange mit dem kosmischen Götterwillen und der Götterintelligenz, dann selbständig.

In der «Himmelsgeschichte» lebten Intelligenz und Wille der mit der Menschheit zusammenhängenden göttlich-geistigen Wesen.

Blickt man zurück auf das geistige Leben der Völker, so ist in urferner Vergangenheit ein Bewußtsein des Zusammenseins und Zusammenwollens mit den göttlich-geistigen Wesenheiten so bei den Menschen vorhanden, daß deren Geschichte Himmelsgeschichte ist. Der Mensch erzählt, indem er über «Ursprünge» spricht, nicht irdische, sondern kosmische Vorgänge. Ja auch für seine Gegenwart erscheint ihm das, was in seiner Erden-Umgebung vorgeht, so unbedeutend gegenüber den kosmischen Vorgängen, daß er nur diese, nicht jenes beachtet.

Es gab eine Epoche, in der die Menschheit das Bewußtsein hatte, die Himmelsgeschichte in mächtigen Eindrücken zu schauen, in denen die göttlich-geistigen Wesen selbst vor der Seele des Menschen standen. Sie sprachen; und der Mensch vernahm die Sprache in Traum-Inspiration; sie offenbarten ihre Gestalten; und der Mensch schaute sie in Traum-Imagination.

Diese «Himmelsgeschichte», die eine lange Zeit die Menschenseelen erfüllte, wurde gefolgt von der mythischen Geschichte, die man heute vielfach für alte Dichtung hält. Sie verbindet Himmelsgeschehen mit Erdgeschehen. Es treten zum Beispiel «Heroen» auf, übermenschliche Wesen. Es sind das Wesen, die in der Entwickelung höher stehen als die Menschen. Diese haben zum Beispiel in einer gewissen Zeit die menschlichen Wesensglieder nur bis zur Empfindungsseele ausgestaltet. Der «Heros» aber hat bereits entwickelt, was im Menschen als Geistselbst einmal auftreten wird. Der «Heros» kann nicht innerhalb der Erdenverhältnisse unmittelbar sich verkörpern; aber er kann es dadurch, daß er in den Körper eines Menschen untertaucht und so sich fähig macht, als Mensch unter Menschen zu wirken. In «Eingeweihten» der älteren Zeit hat man solche Wesen zu sehen. Die Tatsachen im Weltgeschehen liegen bei alle dem so, daß nicht etwa die Menschheit sich in den aufeinanderfolgenden Epochen die Geschehnisse so «vorstellte»; sondern, was sich zwischen der mehr geistigen «unberechenbaren» und der körperlichen «berechenbaren» Welt abspielte, das wandelte sich. Nur das liegt vor, daß lange, nachdem die Weltverhältnisse sich schon gewandelt hatten, das menschliche Bewußtsein dieses oder jenes Volkes noch an einer «Weltanschauung» festhielt, die einer viel früheren Wirklichkeit entsprach. Zuerst geschah das so, daß das menschliche Bewußtsein, das nicht gleichen Schritt hält mit dem kosmischen Geschehen, das Alte wirklich noch schaute. Dann kam eine Zeit, wo das Schauen verblaßte und das Alte nur durch Tradition noch festgehalten wurde. So wird im Mittelalter traditionell ein Hereinspielen der Himmelswelt in die irdische noch vorgestellt, das nicht mehr geschaut wird, weil die Kraft des Bildschauens nicht mehr da ist.

Und im Erdbereich entwickeln sich die Völker so, daß sie in verschiedener Zeitenlänge den einen oder andern Weltanschauungsinhalt festhalten, so daß nebeneinander Weltanschauungen leben, die ihrem Wesen gemäß nacheinanderliegen. - Nur rühren die verschiedenen Weltanschauungen der Völker nicht allein von dieser Tatsache her, sondern auch davon, daß nach ihren Anlagen die verschiedenen Völker verschiedenes schauten. So sahen die Ägypter die Welt, in der Wesen sind, welche auf dem Wege der Menschwerdung vorzeitig stehen geblieben und nicht Erdenmenschen geworden sind; und sie sahen den Menschen nach seinem Erdenleben in alle dem, was er mit solchen Wesen zu tun hat. Die chaldäischen Völker sahen mehr, wie außerirdische geistige Wesen - gute und böse - in das Erdenleben eintraten, um da zu wirken.

Auf die alte, einer ganz langen Zeitepoche angehörige eigentliche «Himmelsgeschichte» folgt die «mythologische» Geschichte, die kürzer, aber im Verhältnis zur späteren eigentlichen «Geschichte» doch noch lange ist.

Die Menschen verlassen - wie ich schon charakterisiert habe - nur schwer in ihrem Bewußtsein die alten Anschauungen, in denen Götter und Menschen zusammenwirkend vorgestellt werden. - So ist «eigentliche Erdgeschichte» längst - seit Entfaltung der Verstandes- oder Gemütsseele - vorhanden. Der Mensch «denkt» noch im Sinne dessen, was gewesen ist. Erst da, wo die ersten Keime der Bewußtseinsseele sich entwickeln, beginnt man damit auf die «eigentliche Geschichte» zu blicken.

Und in dem, was losgelöst vom Göttlich-Geistigen als Menschlich-Geistiges Geschichte wird, kann von den Menschen die freie Intelligenz und der freie Wille erlebt werden.

So verläuft das Weltgeschehen, in das der Mensch ein-verwoben ist, zwischen dem voll Berechenbaren und dem Wirken der freien Intelligenz und des freien Willens. In allen Zwischennuancen des Zusammenwirkens von beidem offenbart sich das Weltgeschehen.

Der Mensch vollbringt sein Leben zwischen Geburt und Tod so, daß ihm im Berechenbaren die leibliche Grundlage zur Entfaltung des innerlichen geistig-seelischen freien Unberechenbaren geschaffen wird. Sein Leben zwischen Tod und neuer Geburt durchläuft er im Unberechenbaren, doch so, daß ihm da als in dem «Inneren» des geistig-seelischen Seins das Berechenbare sich gedanklich entfaltet. Er wird dadurch - aus diesem Berechenbaren heraus - der Aufbauer seines kommenden Erdenlebens.

In der «Geschichte» lebt sich auf Erden das Unberechenbare aus, in das sich aber das Berechenbare, wenn auch im schwachen Maße eingliedert.

Gegen die Ordnung, die durch die mit dem Menschen seit Urbeginn verbundenen göttlich-geistigen Wesen zwischen Unberechenbarem und Berechenbarem festgelegt ist - gegen deren Harmonisierung des Kosmos durch «Maß, Zahl und Gewicht» —, stellen sich die luziferischen und ahrimanischen Wesen. Luzifer kann mit der Art, die er seinem Wesen gegeben hat, nichts Berechenbares vereinigen. Sein Ideal ist kosmische unbedingte Intelligenz- und Willenswirkung.

Diese luziferische Tendenz, sie ist angemessen der Weltenordnung in den Gebieten, in denen freies Geschehen herrschen soll. Und da ist Luzifer der berechtigte geistige Helfer der Menschheits-Entfaltung. Ohne seine Hilfe könnte in das Geistig-Seelische des Menschen, das sich auf der Grundlage des berechenbaren Leiblichen aufbaut, Freiheit nicht einziehen- Aber Luzifer möchte diese Tendenz auf den ganzen Kosmos ausdehnen. Und da wird seine Tätigkeit zum Kampfe gegen die göttlich-geistige Ordnung, zu der der Mensch ursprünglich gehört.

Da tritt Michael ein. Er steht mit dem eigenen Wesen im Unberechenbaren; aber er bewirkt den Ausgleich zwischen dem Unberechenbaren und dem Berechenbaren, das er als Weltgedanke in sich trägt, den er von seinen Göttern empfangen hat.

Anders stehen die ahrimanischen Mächte in der Welt. Sie sind der völlige Gegensatz der göttlich-geistigen Wesen, mit denen der Mensch ursprünglich verbunden ist. Diese sind gegenwärtig rein geistige Mächte, die in sich vollkommene freie Intelligenz und vollkommen freien Willen tragen, die aber in dieser Intelligenz und diesem Willen die weise Einsicht von der Notwendigkeit des Berechenbaren, Unfreien als Weltgedanken schaffen, aus dessen Schöße der Mensch als freies Wesen sich entfalten soll. Und sie sind mit allem Berechenbaren, mit dem Weltgedanken, im Kosmos in Liebe verbunden. Diese Liebe strömt von ihnen durch das Weltall.

In vollem Gegensatz dazu lebt in dem gierigen Begehren der ahrimanischen Mächte der kalte Haß auf alles in Freiheit sich Entfaltende. Ahrimans Streben geht dahin, aus dem, was er von der Erde in den Weltenraum strömen läßt, eine kosmische Maschine zu machen. Sein Ideal ist «einzig und allein» «Maß, Zahl und Gewicht». Er wurde in den der Menschenentwickelung dienenden Kosmos hereingerufen, weil «Maß, Zahl und Gewicht», sein Gebiet, entfaltet werden mußte.

Nur wer die Welt geistig-körperlich überall begreift, der begreift sie wirklich. Das muß bis in die Natur hinein mit Bezug auf solche Mächte wie die göttlich-geistigen in Liebe wirkenden und die in Haß wirkenden ahrimanischen beachtet werden. Man muß in der naturhaften Weltenwärme, die mit dem Frühling einsetzt und gegen den Sommer zu wirkt, die naturhafte Liebe der göttlich-geistigen Wesen wahrnehmen; man muß in dem wehenden Froste des Winters die Wirkung Ahrimans gewahr werden.

Im Hochsommer webt sich Luzifers Kraft in die naturhafte Liebe, die Wärme, hinein. In der Weihnachtszeit wendet sich die Kraft der göttlich-geistigen Wesen, denen der Mensch ursprünglich verbunden ist, gegen den Frost-Haß Ahrimans. Und gegen den Frühling zu mildert fortdauernd naturhafte göttliche Liebe naturhaften Ahriman-Haß.

Das Erscheinen dieser alljährlich auftretenden göttlichen Liebe ist die Zeit der Erinnerung, da das freie Gottes-Element in das berechenbare Erd-Element mit dem Christus eingetreten ist. Christus wirkt in völliger Freiheit in dem Berechenbaren; damit macht er unschädlich, was nur das Berechenbare begehrt, das Ahrimanische.

Das Ereignis von Golgatha ist die freie kosmische Tat der Liebe innerhalb der Erdengeschichte; sie ist auch nur erfaßbar für die Liebe, die der Mensch zu diesem Erfassen aufbringt.

Goetheanum, um Weihnachten 1924.

 

Lit.: GA 26

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