Forum für Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Goetheanistische Naturwissenschaft | ||||
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Rudolf SteinerAnthroposophische LeitsätzeGNOSIS UND ANTHROPOSOPHIEAls das Mysterium von Golgatha sich vollzog, war die «Gnosis» die Denkart des Teiles der Menschheit, der zunächst ein erkenntnismäßiges, nicht bloß ein empfindendes Verständnis dem größten Einschlag in die Erdenentwickelung der Menschen entgegenbringen konnte. Will man die Seelenverfassung verstehen, in der die Gnosis innerhalb des Menschen lebte, so muß man ins Auge fassen, daß das Zeitalter dieser Gnosis dasjenige der Entfaltung der Verstandes- oder Gemütsseele ist. In dieser Tatsache kann man auch die Ursache für das fast völlige Verschwinden der Gnosis aus der Menschheitsgeschichte finden. Dieses Verschwinden ist wohl, solange es nicht begriffen ist, eines der erstaunlichsten Vorkommnisse im Werdegang der Menschheit. Der Entfaltung der Verstandes- oder Gemütsseele ging diejenige der Empfindungsseele und dieser die des Empfindungsleibes voraus. Werden die Tatsachen der Welt durch den Empfindungsleib wahrgenommen, so lebt alle Erkenntnis des Menschen in den Sinnen. Die Welt wird farbig, tönend und so weiter wahrgenommen; aber in den Farben, Tönen, in den Wärmezuständen wird eine Welt von geistigen Wesenheiten gewußt. Von «Stoff», an dem Farben, Wärmezustände und so weiter erscheinen, redet man nicht; man redet von geistigen Wesenheiten, die sich durch das offenbaren, was die Sinne wahrnehmen. Eine besondere Entfaltung eines «Verstandes», der neben der Sinneswahrnehmung im Menschen lebte, gibt es in diesem Zeitalter noch nicht. Der Mensch gibt sich entweder mit seinem Wesen an die Außenwelt hin, dann offenbaren sich ihm durch die Sinne die Götter. Oder er zieht sich in seinem Seelenleben von der Außenwelt zurück, dann fühlt er in seinem Innern ein dumpfes Lebensgefühl. Ein bedeutsamer Umschwung tritt ein, wenn sich die Empfindungsseele entfaltet. Die Offenbarung des Göttlichen durch die Sinne dämmert ab. An die Stelle tritt das Wahrnehmen der gewissermaßen entgöttlichten Sinneseindrücke, der Farben, Wärmezustände und so weiter. Im Innern offenbart sich das Göttliche in geistiger Form, in Bild-Ideen. Und der Mensch nimmt die Welt von zwei Seiten her wahr: von außen durch die Sinnes-Eindrücke, von innen durch die ideenhaften Geist-Eindrücke. Der Mensch muß nun dazu kommen, die Geist-Eindrücke so bestimmt, so gestaltet wahrzunehmen, wie er vorher die durchgöttlichten Sinnes-Eindrücke wahrgenommen hat. - Solange das Zeitalter der Empfindungsseele waltet, kann er das. Denn aus seinem inneren Wesen steigen ihm die Ideenbilder in vollgestalteter Art auf. Er ist von innen erfüllt mit einem sinnlichkeitsfreien Geist-Inhalt, der ein Abbild des Welt-Inhaltes ist. Haben sich ihm früher die Götter im sinnlichen Kleide geoffenbart; sie offenbaren sich ihm jetzt im Geist-Kleide. Das ist das Zeitalter der eigentlichen Entstehung und des Lebens der Gnosis. Eine wunderbare Erkenntnis lebt, der sich der Mensch teilhaftig weiß, wenn er sein inneres Wesen in Reinheit entfaltet, so daß der göttliche Inhalt durch dasselbe sich offenbaren kann. Vom vierten bis ins erste Jahrtausend vor dem Eintritte des Mysteriums von Golgatha herrscht bei dem in der Erkenntnis vorgeschrittensten Teile der Menschheit diese Gnosis. Dann beginnt das Zeitalter der Verstandes- oder Gemütsseele. Von selbst steigen jetzt aus dem Innern des Menschenwesens die Welt-Götter-Bilder nicht mehr auf. Der Mensch muß innerlich Kraft anwenden, um sie aus seiner Seele zu holen. Die Außenwelt mit ihren Sinnes-Eindrücken wird zur Frage. Indem der Mensch die innerliche Kraft anwendet, die Welt-Götter-Bilder aus sich zu holen, erhält er Antworten. Aber die Bilder sind blaß im Verhältnis zu ihrer früheren Gestalt. Es ist dies die Seelenverfassung der Menschheit, die in Griechenland sich in wunderbarer Art entfaltet hat. Der Grieche fühlte sich in der sinnenfälligen Außenwelt, und er fühlte in dieser die Zaubergewalt, die die innere Kraft zum Entfalten der Weltbilder anregte. Auf philosophischem Felde entfaltete sich diese Seelenverfassung im Platonismus. Aber hinter alle dem stand die Mysterien weit. In ihr wurde treu aufbewahrt, was von Gnosis aus dem Zeitalter der Empfindungsseele vorhanden war. Die Seelen wurden für dieses treuliche Aufbewahren geschult. Auf dem Wege der gewöhnlichen Entwickelung erstand die Verstandes- oder Gemütsseele. Durch besondere Schulung wurde die Empfindungsseele belebt. So gab es hinter dem gewöhnlichen Kulturleben gerade im Zeitalter der Verstandes- oder Gemütsseele ein reich entwickeltes Mysterienwesen. In diesem lebten die Welt-Götter-Bilder auch insofern, als sie zum Inhalte eines Kultus gemacht wurden. Man schaut in das Innere dieser Mysterien und erblickt die Welt im Abbilde der wunderbarsten Kultusverrichtungen. Die Menschen, die das erlebten, sie waren diejenigen, die auch das Mysterium von Golgatha, als es sich vollzog, in seinem tiefen kosmischen Zusammenhange durchschauten. Aber es war ein Mysterienleben, das sich ganz abseits hielt von dem Weltgetriebe, um in Reinheit die Geist-Bilder-Welt zu entfalten. Und für Menschenseelen wurde diese Entfaltung immer schwieriger. Da stiegen in den höchsten Mysterienstätten Geist-Wesen aus dem geistigen Kosmos, die den Anstrengungen der um Erkenntnis ringenden Menschen zu Hilfe kamen. So entfalteten sich die Impulse des Zeitalters der Empfindungsseele unter dem Einfluß der «Götter» selbst weiter. Es entstand eine Mysterien-Gnosis, von der die wenigsten auch nur etwas ahnten. Neben ihr war das vorhanden, was von den Menschen mit der Verstandes- oder Gemütsseele aufgenommen werden konnte. Es war die exoterische Gnosis, von der Bruchstücke auf die Nachwelt gekommen sind. In der esoterischen Mysteriengnosis wurden die Menschen immer unfähiger, sich zur Entfaltung der Empfindungsseele zu erheben. Es ging diese esoterische Weisheit immer mehr an die bloße Pflege der «Götter» über. Und das ist ein Geheimnis der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit, daß in ihr gewissermaßen «göttliche Mysterien» von den ersten christlichen Jahrhunderten an bis ins Mittelalter wirkten. In diesen «göttlichen Mysterien» bewahrten Engelwesen im irdischen Dasein, was Menschen nicht mehr bewahren konnten. So waltete die Mysterien-Gnosis, während man an der Ausrottung der exoterischen Gnosis arbeitete. Der Welt-Bild-Inhalt, der in der Mysterien-Gnosis auf geistige Art von geistigen Wesen bewahrt wurde, solange er im Werdegang der Menschheit wirken sollte: er konnte dem bewußten Begreifen der Menschenseele nicht erhalten werden. Aber der Gefühlsgehalt sollte bewahrt werden. Und dieser sollte im rechten kosmischen Augenblicke der dazu vorbereiteten Menschheit gegeben werden, damit unter seiner Seelenwärme die Bewußtseinsseele später auf neue Art in das Geistesreich eindringen könne. Geisteswesen haben so die Brücke gebaut zwischen dem alten Welt-Inhalt und dem neuen. In Andeutungen ist dieses Geheimnis der Menschheitsentwickelung vorhanden. Die heilige Jaspisschale des Grales, derer sich Christus bediente, als er das Brot brach, in die Joseph von Arimathia das Blut aus der Jesuswunde aufgefangen hat, die also das Geheimnis von Golgatha barg, wurde - so lautet die Legende - von Engeln in Verwahrung genommen, bis sie sie nach Erbauung der Gralsburg durch Titurel auf die vorbereiteten Menschen niedersenken konnten. Geistwesen bargen die Welt-Bilder, in denen die Geheimnisse von Golgatha lebten. Sie senkten, weil das nicht möglich war, nicht den Bild-Inhalt, wohl aber den Gefühlsgehalt in Menschengemüter, als die Zeit dazu gekommen war. Nur Anregung, aber eben kräftigste Anregung, kann dieses Einpflanzen des Gefühlsinhaltes alter Erkenntnis sein, daß in unserem Zeitalter sich aus der Bewußtseinsseele im Lichte von Michaels Wirksamkeit ein neues volles Verständnis des Mysteriums von Golgatha entwickele. Anthroposophie strebt dieses neue Verständnis an. Aus der gegebenen Schilderung ersieht man, daß sie keine Erneuerung der Gnosis sein kann, die zu ihrem Inhalt die Erkenntnisart der Empfindungsseele hatte, daß sie aber einen ebenso reichen Inhalt aus der Bewußtseinsseele auf völlig neue Art holen muß. Goetheanum, Januar 1925.
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Wolfgang
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