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Das Gastmahl

(Symposion)

übersetzt von Franz Susemihl (1855)

Apollodoros und einige seiner Freunde

In der Erzählung des Apollodoros treten redend auf: Glaukon · Aristodemos · Sokrates · Agathon · Phaidros · Pausanias · Eryximachos · Aristophanes · Diotima · Alkibiades

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Du hast recht, Eryximachos, erwiderte Aristophanes lachend, und ich nehme mein Wort zurück.  Darum passe mir nun auch nicht auf; denn ich  fürchte für meine kommende Rede, nicht etwa daß  sie Lächerliches enthalten möge - denn das wäre  mir ein Gewinn und meiner Muse eigen -, sondern  vielmehr Verlachenswertes.

Nachdem du mir eins versetzt hast, Freund Aristophanes, denkst du mir nun zu entwischen. Nein,  sei auf deiner Hut und rede so, daß du Rechenschaft geben kannst: vielleicht werde ich dann,  wenn es mir ansteht, dich durchschlüpfen lassen. Allerdings, lieber Eryximachos, habe nun Aristophanes begönnen, gedenke ich auf eine andere  Weise als du und Pausanias zu reden. Mir nämlich  scheinen die Menschen die Macht des Eros durchaus nicht erkannt zu haben; denn hätten sie das, so  würden sie ihm wohl die größten Tempel und Altäre errichten und ihm die reichlichsten Opfer darbringen, während jetzt nichts von dem allen ihm  widerfährt, was doch vor allem andern geschehen  sollte. Denn er ist der menschenfreundlichste von  den Göttern, indem er den Menschen ein Helfer  und ein Arzt für diejenigen Übel ist, deren Heilung  dem Menschengeschlechte die größte Glückseligkeit gewähren dürfte. Ich will daher euch seine  Macht zu enthüllen versuchen, und ihr mögt wiederum andere hierüber belehren. Zuvörderst nun  muß ich euch über die menschliche Natur und die  Schicksale unterrichten, die sie erlitt.

Unsere ehemalige Naturbeschaffenheit nämlich  war nicht dieselbe wie jetzt, sondern von ganz anderer Art. Denn zunächst gab es damals drei Geschlechter unter den Menschen, während jetzt nur  zwei, das männliche und das weibliche; damals  kam nämlich als ein drittes noch ein aus diesen beiden zusammengesetztes hinzu, von welchem jetzt  nur noch der Name übrig ist, während es selber  verschwunden ist. Denn Mannweib war damals  nicht bloß ein Name, aus beidem, Mann und Weib, zusammengesetzt, sondern auch ein wirkliches  ebenso gestaltetes Geschlecht; jetzt aber ist es nur  noch ein Schimpfname geblieben. Ferner war damals die ganze Gestalt jedes Menschen rund,  indem Rücken und Seiten im Kreise herumliefen,  und ein jeder hatte vier Hände und ebenso viele  Füße und zwei einander durchaus ähnliche  Gesichter auf einem rings herumgehenden Nacken,  zu den beiden nach der entgegengesetzten Seite von einander stehenden Gesichtern aber einen gemeinschaftlichen Kopf, ferner vier Ohren und zwei  Schamteile, und so alles übrige, wie man es sich  hiernach wohl vorstellen kann. Man ging aber nicht nur aufrecht wie jetzt, nach welcher Seite man  wollte: sondern, wenn man recht schnell fortzukommen beabsichtigte, dann bewegte man sich,  wie die Radschlagenden die Beine aufwärtsgestreckt sich überschlagen, so, auf seine damaligen  acht Glieder gestützt, schnell im Kreise fort. Es  waren aber deshalb der Geschlechter drei und von  solcher Beschaffenheit, weil das männliche ursprünglich von der Sonne stammte, das weibliche  von der Erde, das aus beiden gemischte vom  Monde, da ja auch der Mond an der Beschaffenheit  der beiden anderen Weltkörper teil hat; eben deshalb waren sie selber und ihr Gang kreisförmig, um so ihren Erzeugern zu gleichen. Sie waren daher  auch von gewaltiger Kraft und Stärke und gingen  mit hohen Gedanken um, so daß sie selbst an die  Götter sich wagten; denn was Homeros von Ephialtes und Otos erzählt, das gilt von ihnen, daß sie  sich einen Zugang zum Himmel bahnen wollten,  um die Götter anzugreifen.

Zeus nun und die übrigen Götter hielten Rat,  was sie mit ihnen anfangen sollten, und sie wußten  sich nicht zu helfen; denn sie wünschten nicht, sie  zu töten und ihre ganze Gattung zugrunde zu richten, gleichwie sie einst die Giganten mit dem Blitze zerschmettert halten - denn damit wären ihnen  auch die Ehrenbezeugungen und Opfer von den  Menschen gleichzeitig zugrunde gegangen -, noch  auch durften sie sie ungestraft weiter freveln lassen. Endlich nach langer Überlegung sprach Zeus: »Ich  glaube ein Mittel gefunden zu haben, wie die Menschen erhalten bleiben können und doch ihrem  Übermut Einhalt geschieht, indem sie schwächer  geworden. Ich will nämlich jetzt jeden von ihnen in zwei Hälften zerschneiden, und so werden sie zu- gleich schwächer und uns nützlicher werden, weil  dadurch ihre Zahl vergrößert wird, und sie sollen  nunmehr aufrecht auf zwei Beinen gehen. Wenn sie uns aber dann auch noch fernerhin fortzufreveln  scheinen und keine Ruhe halten wollen, dann werde ich sie von neuem in zwei Hälften zerschneiden, so  daß sie auf einem Beine hüpfen müssen wie die  Schlauchtänzer.« Nachdem er das gesagt, schnitt er die Menschen entzwei, wie wenn man Beeren zerschneidet, um sie einzumachen, oder Eier mit Pferdehaaren. Wen er aber jedesmal zerschnitten hatte,  dem ließ er durch Apollon das Gesicht und die  Hälfte des Nackens umkehren nach der Seite des  Schnittes zu, damit der Mensch durch den Anblick  seiner Zerschnittenheit gesitteter würde, und befahl  ihm dann, das übrige zu heilen. Apollon kehrte  also das Gesicht um, zog die Haut von allen Seiten  nach dem, was jetzt Bauch heißt, hin und band sie  dann, indem er eine Öffnung ließ, welche man jetzt  bekanntlich Nabel nennt, wie einen Schnürbeutel  mitten auf demselben zusammen. Und die meisten  übrigen Runzeln glättete er und fügte so die Brust  zusammen, indem er sich dabei eines ähnlichen  Werkzeuges bediente, wie der Holzfuß der Schuhmacher, auf welchem sie die falten des Leders ausglätten: einige wenige aber ließ er zurück, nämlich  eben die um den Bauch und den Nabel, zum Denkzeichen der einst erlittenen Strafe.

Als nun so ihr Körper in zwei Teile zerschnitten  war, da trat jede Hälfte mit sehnsüchtigem Verlangen an ihre andere Hälfte heran, und sie schlangen  die Arme um einander und hielten sich umfaßt, voller Begierde, wieder zusammenzuwachsen, und so  starben sie vor Hunger und Vernachlässigung ihrer  sonstigen Bedürfnisse, da sie nichts getrennt von  einander tun mochten. Und wenn etwa die eine von  beiden Hälften starb und die andere noch übrig  blieb, dann suchte diese sich eine andere und umfaßte sie, mochte sie dabei nun auf die Hälfte eines  ganzen Weibes, also das, was wir jetzt Weib  nennen, oder eines ganzen Mannes treffen, und so  gingen sie zugrunde.

Da erbarmte sich Zeus und erfand einen andern  Ausweg, indem er ihnen die Geschlechtsglieder  nach vorne versetzte; denn bisher trugen sie auch  diese nach außen und erzeugten und gebaren nicht  in einander, sondern in die Erde wie die Zikaden.  So verlegte er sie also nach vorne und bewirkte dadurch die Erzeugung in einander, nämlich in dem  Weiblichen durch das Männliche, zu dem Zwecke,  daß, wenn dabei ein Mann auf ein Weib träfe, sie  in der Umarmung zugleich erzeugten und so die  Gattung fortgepflanzt würde; wenn dagegen ein  Mann auf einen Mann träfe, sie wenigstens von  ihrem Zusammensein eine Befriedigung hätten und  so, von dieser gesättigt, inzwischen ihren Geschäften nachgingen und für ihre übrigen Lebensverhältnisse Sorge trügen. Seit so langer Zeit ist demnach  die Liebe zu einander den Menschen eingeboren  und sucht die alte Natur zurückzuführen und aus  zweien eins zu machen und die menschliche  Schwäche zu heilen.

Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke  von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie  die Schollen, zwei aus einem geworden sind. Daher sucht denn jeder beständig seine andere Hälfte. Soviele nun unter den Männern ein Schnittstück von  jener gemischten Gattung sind, welche damals  mannweiblich hieß, die richten ihre Liebe auf die  Weiber, und die meisten Ehebrecher sind von dieser Art, und ebenso wiederum die Weiber, welche  mannsüchtig und zum Ehebruch geneigt sind. Soviele aber von den Weibern ein Schnittstück von  einem Weibe sind, die richten ihren Sinn nur wenig auf die Männer, sondern wenden sich weit mehr  den Frauen zu, und die mit Weibern buhlenden  Weiber stammen von dieser Art. Die Männer endlich, welche ein Stück von einem Mann sind, die  gehen dem Männlichen nach, und solange sie noch  Knaben sind, lieben sie, als Schnittlinge der männlichen Gattung, die Männer und haben ihre Freude  daran, neben den Männern zu ruhen und von Männern umschlungen zu werden, und es sind dies gerade die trefflichsten von den Knaben und Jünglingen, weil sie die mannhaftesten von Natur sind.  Manche nennen sie freilich schamlos, aber mit Unrecht: denn nicht aus Schamlosigkeit tun sie dies,  sondern aus mutigem, kühnem und mannhaftem  Geistestriebe, mit welchem sie dem ihnen Ähnlichen in Liebe entgegenkommen. Ein Hauptbeweis  hierfür ist der, daß solche allein, wenn sie herangewachsen sind, Männer werden, die sich den Staatsgeschäften widmen. Sind sie aber Männer geworden, dann pflegen sie die Knaben zu lieben; auf  Ehe und Kindererzeugung dagegen ist ihr Sinn von  Natur nicht gerichtet, sondern sie werden nur vom  Gesetze dazu gezwungen; vielmehr würde es ihnen  genügen, ehelos mit einander das Leben zuzubringen. Kurz, ein solcher wird jedenfalls ein Knabenliebhaber, sowie ein Freund seines Liebhabers,  indem er immer dem ihm Verwandten anhängt. Wenn nun dabei einmal der liebende Teil, der  Knabenliebhaber sowie alle andern, auf seine wirkliche andere Hälfte trifft, dann werden sie von wunderbarer Freundschaft, Vertraulichkeit und Liebe  ergriffen und wollen, um es kurz zu sagen, auch  keinen Augenblick von einander lassen. Und diese,  welche ihr ganzes Leben mit einander zubringen,  sind es, welche doch auch nicht einmal zu sagen  wüßten, was sie von einander wollen. Denn dies  kann doch wohl nicht die Gemeinschaft des Liebesgenusses sein, um dessen willen der eine mit dem  andern so eifrig zusammenzusein wünscht: sondern nach etwas anderem trachtet offenbar die Seele von beiden, was sie nicht zu sagen vermag, sondern nur ahnend zu empfinden und in Rätseln anzudeuten.  Und - wenn zu ihnen, - während sie dasselbe  Lager teilten, Hephaistos mit seinen Werkzeugen  hinanträte und sie fragte: »Was wollt ihr Leute  denn eigentlich von einander?« und, wenn sie es  ihm dann nicht zu sagen vermöchten, sie von  neuem fragte: »Ist es das etwa, was ihr wünscht,  möglichst an demselben Orte mit einander zu sein  und euch Tag und Nacht nicht von einander zu  trennen? Denn wenn es euch hiernach verlangt, so  will ich euch in eins verschmelzen und zusammen- schweißen, so daß ihr aus zweien einer werdet und  euer ganzes Leben als wie ein Einziger gemeinsam  verlebt, und, wenn ihr sterbt, auch euer Tod ein gemeinschaftlicher sei, und ihr dann wiederum auch  dort im Hades einer statt zweier seid. Darum seht  zu, ob dies euer Begehr ist, und ob dies euch befriedigen würde, wenn ihr es erlangtet«; - wenn  sie, sage ich, dies hörten, dann würde gewißlich  kein Einziger es ablehnen oder zu erkennen geben,  es sei etwas anderes, was er wünschte; sondern  jeder würde gerade das gehört zu haben glauben,  wonach er schon lange Begehr trug: vereinigt und  verschmolzen mit seinem Geliebten aus zweien  eins zu werden.

Der Grund hiervon nämlich liegt darin, daß dies  unsere ursprüngliche Naturbeschaffenheit ist, und  daß wir einst ungeteilte Ganze waren. Und so führt  die Begierde und das Streben nach dem Ganzen  den Namen Liebe. Und vor Zeiten, wie gesagt,  waren wir eins; nun aber sind wir um unserer Ungerechtigkeit willen getrennt worden von dem Gott, wie die Arkader von den Lakedaimoniern. Und es  steht daher zu fürchten, wenn wir uns nicht gesittet  betragen gegen die Götter, daß wir dann von neuem zerspaltet werden und so von Ansehen herumlaufen müssen wie die auf den Grabsteinen ausgehauenen  Reliefs: mitten durch die Nase durchgesägt wie halbierte Marken.

Deswegen muß man jedermann antreiben, ehrfürchtig gegen die Götter zu sein, damit wir diesem Geschicke entgehen und dagegen dasjenige erlangen, zu welchem uns Eros Führer und Hort ist.  Dem handle niemand entgegen; es handelt dem  aber entgegen, wer sich den Göttern verhaßt macht. Denn wenn wir mit der Gottheit uns befreunden  und versöhnen, so werden wir den uns eigentlich  angehörigen Liebling finden und erlangen, was  jetzt nur von wenigen erreicht wird. Und Eryximachos möge mir dies nicht, um meine Rede ins Lächerliche zu ziehen, so aufnehmen, als ob ich damit auf den Pausanias und Agathon anspiele - denn  vielleicht gehören auch diese in der Tat zu den wenigen und sind ihrem Ursprunge nach die Hälften  eines Mannes -; ich habe vielmehr alle, Männer  und Frauen, im Sinn, wenn ich sage, daß so unser  Geschlecht glückselig sein würde, wenn wir das  Ziel der Liebe erreichten und jeder den ihm eigentümlichen Liebling erlangte und mit ihm in die alte  Natur zurückkehrte. Wenn aber dies das Höchste  ist, so muß notwendig in unsern jetzigen Zuständen das diesem Zunächstliegende das Beste sein; dies  aber ist, einen Liebling zu finden, der nach unserem Sinne geartet ist; und dem Gott, der uns dies  gewährt, müssen wir mit Fug und Recht lobsingen,  dem Eros, welcher uns für die Gegenwart die größte Hilfe bereitet, indem er uns zu dem uns Verwandten hinleitet, für die Zukunft aber die größten  Hoffnungen in uns erregt, er werde, wenn wir die  Ehrfurcht gegen die Götter bewahren, zu dieser ursprünglichen Natur uns zurückführen und durch  Heilung unserer Schwäche uns glücklich und selig  machen.

Dies, sprach er, lieber Eryximachos, ist meine  Rede über den Eros, sehr verschieden von der deinigen. Wie ich dich nun schon bat, so ziehe sie  nicht ins Lächerliche, damit wir auch von den übrigen hören, was ein jeder sagen wird, nämlich jeder  von beiden, denn nur Agathon und Sokrates sind  noch übrig.

Wohl, ich will dir Gehör geben - so, erzählte  Aristodemos, habe Eryximachos geantwortet -;  denn auch mir ist deine Rede zu Dank gesprochen.  Und wenn ich nicht wüßte, daß Sokrates und Agathon stark sind in Sachen der Liebe, so würde ich  gar sehr fürchten, daß es ihnen an Stoffgebrechen  möge, da schon so viel und mancherlei vorgetragen worden ist; nun aber bin ich trotzdem guten Mutes. Sokrates aber habe ihm eingeworfen: Du hast eben  deine Sache gut gemacht, mein Eryximachos; wenn du aber da ständest, wo ich jetzt, oder vielmehr  wohl, wohin ich werde zu stehen kommen, wenn  auch Agathon erst gesprochen hat, dann würdest du gar sehr fürchten und in der größten Not sein,  ebensogut wie jetzt ich selber.

Du willst es mir antun, lieber Sokrates, habe  Agathon erwidert, und mich durch den Gedanken in Verwirrung bringen, als ob die Zuhörerschaft große Erwartungen von der Vortrefflichkeit meiner Rede  hegte.

Ich müßte sehr vergeßlich sein, Freund Agathon, nachdem ich deinen Mut und deine Zuversicht gesehen habe, womit du die Bühne mit deinen Schauspielern betratest und einer so großen Zuschauer -  und Zuhörerschar ins Auge blicktest, um ihr deine  Reden zur Schau zu stellen, und nicht im mindesten außer Fassung warst, - wenn ich nun dennoch hinterher glauben sollte, du werdest in Verwirrung geraten vor uns wenigen Leuten.

Aber wie, lieber Sokrates? habe Agathon entgegnet, hältst du mich für so erfüllt von meinem Theatersiege, daß ich nicht wissen sollte, daß für einen  Verständigen wenige Einsichtige mehr zu fürchten  sind als viele Einsichtslose?

Ich würde nicht recht daran tun, habe Sokrates  erwidert, lieber Agathon, wenn ich von dir etwas so Ungeschicktes glaubte; vielmehr weiß ich recht  wohl, daß, wenn du auf einige träfest, die du für  Kundige hieltest, du diesen größere Beachtung  schenken würdest als der großen Menge. Ich weiß  nur nicht, ob wir solche sind; denn auch wir waren  ja damals zugegen und gehörten mit zur großen  Menge; wenn du aber auf andere, wirkliche Kundige träfest, dann würdest du dich gewiß vor ihnen  schämen, wenn du etwa glaubtest, etwas Tadelnswertes zu tun. Oder meinst du nicht?

Du hast ganz recht, erwiderte Agathon.

Aber vor der großen Menge würdest du dich  etwa nicht scheuen, wenn du glaubtest, etwas Tadelnswertes zu tun?

Da sei aber Phaidros eingefallen und habe gesagt: Mein lieber Agathon, wenn du dem Sokrates  Rede stehst, so wird ihm nichts mehr daran liegen,  ob etwas von dem, was wir uns jetzt hier vorgenommen haben, wirklich zur Ausführung kommt,  wenn er nur einen hat, mit dem er ein Gespräch  führen kann, zumal wenn es ein so schöner Mann  ist. Ich höre nun zwar den Sokrates auch gern sich  unterreden: jetzt aber habe ich die Verpflichtung,  für die Lobreden auf den Eros Sorge zu tragen und  von einem jeden unter euch eine solche  entgegenzunehmen; wenn ihr so eurer Pflicht gegen den Gott genügt habt, dann möget ihr beide immerhin Gespräche mit einander führen! Gut gesagt,  Phaidros, habe Agathon erwidert, und mich soll  nichts mehr abhalten zu reden; denn zu einem  Wechselgespräche mit Sokrates wird auch späterhin öfter noch Zeit sein.

Ich will nun zuerst bemerken, wie ich glaube  reden zu müssen, und dann erst wirklich reden. Es  scheinen mir nämlich alle voraufgehenden Redner  nicht sowohl den Gott verherrlicht, als die Menschen um der Güter willen glücklich gepriesen zu  haben, von denen ihnen der Gott der Urheber ist;  wie aber seine eigene Beschaffenheit ist, kraft der  er ihnen diese Geschenke gewährte, hat keiner gesagt. Es gibt aber nur ein einziges richtiges Verfahren bei jeglicher Lobrede, wovon immer sie handeln mag, daß man nämlich darlegt, wie der in  Rede stehende Gegenstand, und sodann, wie seine  Wirkungen beschaffen sind. So gebührt es denn  auch uns, zuerst den Eros, wie er an sich beschaffen ist, und sodann seine Gaben zu preisen. So behaupte ich denn, daß zwar alle Götter  glückselig sind, aber doch Eros, wenn es ohne Frevel und ungestraft zu sagen vergönnt ist, der glückseligste von allen, weil er der schönste und beste  ist.

Der schönste ist er aber aus folgenden Gründen:  Zuerst ist er der jüngste von den Göttern, o Phaidros. Den besten Beweis hierfür liefert er selbst,  indem er in flüchtiger Eile das Alter flieht, welches  doch offenbar schnell ist; wenigstens ereilt es uns  schneller, als es sollte. Das haßt nun Eros seiner  Natur nach und nähert sich ihm auch nicht einmal  von weitem. Mit der Jugend aber ist er immer verbunden und gehört selber zu ihr; denn der alte  Spruch hat recht, daß gleich und gleich sich gern  gesellt. Wenn ich nun dem Phaidros auch viel anderes zugestehe, so doch dies nicht, daß Eros älter  als Kronos und Iapetos sei; sondern ich sage, daß  er der jüngste von den Göttern ist und ewig jung,  und daß jene alten Begebnisse unter den Göttern,  von denen Hesiodos und Parmenides erzählen,  unter der Herrschaft der Notwendigkeit geschehen  sind und nicht unter der des Eros, wenn anders sie  überhaupt die Wahrheit erzählen. Denn Verstümmelungen und Fesselungen und so viele andere Gewalttaten wären nicht unter ihnen vorgekommen,  wäre Eros schon unter ihnen gewesen; sondern  Freundschaft und Frieden hätten geherrscht, so wie  nun, seitdem Eros unter den Göttern das Szepter  führt.

Jung ist er also, neben seiner Jugend aber auch  zart. Ja, es bedarf eines Dichters wie Homer, um  seine Zartheit zu zeichnen. Denn Homer sagt, daß  die Ate eine Göttin sei und zart, wenigstens ihre  Füße seien zart, indem er singt:

Leicht schweben die Füß' ihr; nimmer dem  Grund auch
Nahet sie: nein, hoch wandelt sie her auf den  Häuptern der Männer.

So scheint er mir ihre Zartheit an einem herrlichen Belege klarzumachen, nämlich, daß sie nicht  auf dem Harten wandelt, sondern auf dem Weichen. Eben desselben Beleges wollen auch wir uns  nun beim Eros bedienen für seine Zartheit. Denn  nicht auf der Erde wandelt er, noch auf den Schädeln, die auch nicht so weich sind, sondern in dem  Weichsten von allem wandelt und wohnt er. Denn  in den Gemütern und Seelen der Götter und der  Menschen hat er seine Wohnung gegründet, und  ferner auch wiederum nicht in allen Seelen der  Reihe nach; sondern wo er eine trifft, die ein hartes  Gemüt hat, die flieht er, wo er aber eine trifft, die  ein weiches hat, die bewohnt er. Da er nun aber mit seinen Füßen wie mit seinem ganzen Sein nur das  Weichste von dem Weichsten berührt, so muß er  notwendig zart sein.

So ist er denn der Jüngste und der Zarteste, dazu  aber auch geschmeidig in seinem Äußern. Denn er  würde nicht imstande sein, sich so, wie er tut, über- all anzuschmiegen und sich heimlich in jede Seele  hineinzuschleichen und wieder herauszuschleichen, wenn er ungelenk wäre. Ein gewichtiges Zeugnis  für seine ebenmäßige und geschmeidige Körperbildung legt aber auch sein edler Anstand ab, der eingestandenermaßen dem Eros vorzugsweise vor  allen zukommt; denn nur mit der Anmut verträgt  sich die Liebe.

Die Schönheit seiner Farbe ferner erhellt aus  dem Verweilen des Gottes unter Blüten; denn in  einem blütenarmen oder verblühten Leibe oder  Geiste, oder was es sonst sein mag, da verweilt  Eros nicht; wo aber ein blütenreicher und duftiger  Ort ist, da weilt er und ruht er.

Für die Schönheit des Gottes zeugt nun dies  alles schon hinlänglich, und noch vieles andere  ließe sich sagen; über die Tugend des Eros aber  haben wir nunmehr zu reden. Das Größte ist, daß  Eros weder Unrecht tut noch Unrecht erleidet,  weder an einem Gott, noch von einem Gott, weder  an einem Menschen, noch von einem Menschen.  Denn gewaltsam leidet er weder selbst, wenn er  etwas leidet - denn Gewalt berührt den Eros  nicht -, noch tut er anderen, was er tut; denn freiwillig dient jeder in jedem dem Eros. Was man  aber freiwillig dem zugesteht, dem Annehmen und  Ablehnen freisteht, das erklären die Könige der  Staaten, die Gesetze, für gerecht.

Neben seiner Gerechtigkeit ist er aber auch der  höchsten Besonnenheit voll. Denn darin stimmen  alle überein, Besonnenheit heiße: die Lüste und  Begierden beherrschen; und über den Eros siege  keine andere Lust; unterliegen sie ihm aber, so sind sie ja die Beherrschten, und er ist ihr Herrscher;  wenn er aber über die Lüste und Begierden  herrscht, dann sollte er danach doch wohl ganz vorwiegend besonnen sein.

Doch auch an Tapferkeit kann sich mit dem Eros Ares selber nicht messen. Denn nicht der Kriegsgott hält den Liebesgott gefangen, sondern der Gott der Liebe den Gott des Krieges, nämlich der Liebe  zu Aphrodite, wie erzählt wird. Wer aber gefangen  hält, ist überlegen dem, der gefangen gehalten wird. Wer aber dem Tapfersten unter allen übrigen überlegen ist, der muß doch wohl der Allertapferste  sein.

Über die Gerechtigkeit und Besonnenheit und  Tapferkeit des Gottes haben wir nun also gesprochen; dagegen fehlt noch die Weisheit; soweit es  möglich ist, müssen wir daher auch hier nicht zurückzubleiben versuchen. Und zuvörderst nun,  damit auch ich meine Kunst zu Ehren bringe, wie  Eryximachos die seinige, ist der Gott ein so fertiger Dichter, daß er auch andere dazu macht; denn wohl jeder wird zum Dichter, den die Liebe berührt,  wenn er auch zuvor den Musen fremd war. Dies  können wir wohl zum Beweise dafür gebrauchen,  daß Eros selber ein schaffender Geist ist überhaupt  in allen Künsten der Musen. Denn was einer selber  nicht hat, das kann er auch keinem andern geben,  und was einer selber nicht weiß, das kann er auch  keinen anderen lehren. Aber auch die schöpferische Zeugung aller lebendigen Wesen, - wer wollte  leugnen, daß sie der Weisheit des Eros entspringt,  daß diese es ist, durch welche dies Lebende erzeugt und geboren wird? Ferner in der Ausübung aller  anderen Künste, wissen wir da nicht, daß, wer den  Gott zum Lehrmeister hatte, zu Ruhm und Glanz  gelangte, während der, den Eros nicht berührte, im  Dunkel blieb? So erfand ja Apollon die Kunst des  Bogenschießens und des Heilens und des Weissagens, aus Eifer und Liebe zur Sache getrieben, so  daß also auch er hierin ein Schüler des Eros war,  und die Musen die der Musik, und Hephaistos die  des Schmiedens, und Athene die des Webens, und  Zeus die der Leitung der Götter und Menschen.  Deshalb wurden auch die Angelegenheiten der Götter geordnet, seitdem die Liebe unter ihnen erwuchs, nämlich die Liebe zum Schönen; denn im  Häßlichen waltet Eros nicht; zuvor aber geschahen, wie ich schon im Anfang bemerkte, viele Gewalttaten unter den Göttern, wie man sagt, weil die Gewalt der Notwendigkeit unter ihnen herrschte; seitdem dagegen dieser Gott geboren war, da erwuchs  aus der Liebe zum Schönen alles Gute für Götter  und Menschen.

So scheint mir denn Eros erstlich selbst der  schönste und Beste zu sein, sodann auch allen anderen ähnliche Vorzüge zu verleihen, mein Phaidros. Und ich fühle mich getrieben, auch in Versen  dies auszusprechen, daß er der ist, welcher gewährt

Süßen Frieden den Menschen und spiegelnde Glätte  der Meerflut,
Ruhe von brausenden Stürmen, und friedlichen  Schlummer dem Lager.

Er befreit uns von der Entfremdung und erfüllt  uns mit Vertraulichkeit; denn er ist es, welcher alle  Zusammenkünfte solcher Natur unter uns veranstaltet, indem er bei den Festen, Reigentänzen und  Opfern unser Führer ist, Mildheit uns gewährend,  von der Wildheit uns entleerend, freigebig mit  Wohlwollen, unergiebig an Übelwollen, huldvoll  den Guten, gern gesehen den Weisen, bewundernswürdig den Göttern, erstrebenswert den  Nichtbesitzenden, behaltenswert den Besitzern, des Wohllebens, der Pracht, der Kostbarkeit, der  Anmut, des Reizes, des Verlangens Vater, achtsam  für Gute, achtlos für Schlechte, im Wanken, im  Bangen, im Verlangen, in Gedanken der beste Vorstand, Beistand, Helfer und Retter, aller Götter und Menschen Zier, der schönste und beste Führer, dem jedermann folgen muß, schön lobsingend und einstimmend in den schönen Gesang, mit welchem er  aller Götter und Menschen Sinne bezaubert. Dies ist meine Rede, lieber Phaidros, die ich  dem Gotte weihe, in welcher sich der Scherz mit  dem nötigen Ernste, soweit meine Kräfte reichen,  vereinigt.

Als Agathon geendet, sagte Aristodemos, sei ein  allgemeiner Beifallsjubel unter den Anwesenden  darüber ausgebrochen, wie würdig der junge Mann  seiner selbst und des Gottes gesprochen. Da habe  denn Sokrates den Eryximachos angesehen und ihn  gefragt: Scheint dir nun, Sohn des Akumenos,  meine vorher gehegte Furcht grundlos gewesen zu  sein? Oder habe ich nicht vielmehr soeben ganz  recht prophezeit, daß Agathon wundervoll sprechen, ich aber in Verlegenheit kommen würde? Das eine, habe Eryximachos erwidert, scheinst  du richtig vorausgesagt zu haben, daß Agathon gut  reden werde; das andere aber, daß du in  Verlegenheit geraten werdest, glaube ich noch  nicht.

Und Sokrates habe ihm eingeworfen: Du Glücklicher, wie sollte ich denn wohl nicht in Verlegenheit sein und jeder andere an meiner Stelle, wenn  ich nach einem so schönen und so reichhaltigen  Vortrage noch einen neuen halten soll? Das übrige  ist freilich nicht alles gleich sehr bewundernswert - aber am Schlusse die Schönheit der Ausdrücke und Wendungen, welchen Zuhörer hätte die wohl nicht  in Staunen versetzt? Ich wenigstens, wenn ich bedachte, daß ich selber auch nichts annähernd so  Schönes zu bieten imstande sein werde, wäre vor  Scham beinahe weggelaufen, wenn ich nur gekonnt hätte. Denn an den Gorgias erinnerte mich die  Rede, und so ging es mir ganz nach den Worten  des Homeros: ich fürchtete, es möge Agathon am  Schluß das Haupt des gewaltigen Redners Gorgias  (wie ein Gorgonenhaupt) gegen meine Rede wen- den und mich stumm wie einen Stein machen. Und  da bemerkte ich erst, wie lächerlich mein Versprechen gewesen war, auch meinerseits in eurer Reihe  dem Eros eine Lobrede zu halten, und meine Behauptung, in Sachen der Liebe stark zu sein, da ich  doch nichts davon wußte, wie man es bei einer  Lobrede auf jeden lebendigen Gegenstand anzufangen hat. Denn ich glaubte in meiner Einfalt, man  brauche nur die Wahrheit zu sagen, über dasjenige, was man gerade loben will, und dies müsse die  Grundlage bilden; hieraus aber müsse man das  Schönste auswählen und es möglichst angemessen  ordnen. Und ich dachte mir wunder was Großes  damit, wie schön ich sprechen würde, da ich ja die  wahre Aufgabe jeder Lobrede zu kennen meinte.  Nun aber ist nicht dies, wie es scheint, die richtige  Weise; sondern man muß vielmehr dem Gegenstande das Größte und Schönste zuschreiben, mag es  sich nun damit wirklich so verhalten oder nicht.  Geschieht es auch mit Unrecht, so kommt doch darauf gar nichts an. Wir sind nämlich, wie es scheint, vorher dahin übereingekommen, daß jeder von uns  sich nur den Anschein geben soll, den Eros zu preisen, nicht aber ihn wirklich zu preisen. Deshalb,  denke ich, sucht ihr daher alle mögliche Beredsamkeit hervor und häuft sie auf den Eros und behauptet, er sei so oder so beschaffen und so großer  Güter Urheber, um ihn als den Schönsten und Besten erscheinen zu lassen, nämlich den Unkundigen, denn den Kundigen doch wohl schwerlich.  Und so klingt denn euer Lob recht schön und erhaben! Ich dagegen kannte hiernach die Art, wie man  loben muß, nicht, und ohne sie zu kennen, versprach ich euch, selber gleichfalls den Eros zu  loben, wenn die Reihe an mir wäre. So gab euch  also nur die Zunge das Versprechen und nicht der Geist. So fahre es denn hin! Denn nicht werde ich  in dieser Weise weiter loben, denn ich vermöchte  es nicht, gewiß nicht. Aber die Wahrheit will ich  euch vortragen, wenn ihr wollt, in meiner Weise,  und nicht in der eurer Reden, damit ich nicht Lachen errege. Siehe nun zu, lieber Phaidros, ob dir  auch mit einer solchen Rede gedient ist, die dir  über den Eros die Wahrheit anzuhören gibt, aber in einer solchen Wahl der Ausdrücke und Stellung der Redewendungen, wie sie sich ihr gerade darbieten  wollen!

Aristodemos erzählte nun, daß Phaidros und die  übrigen ihn hierauf aufgefordert hätten, so zu  reden, wie er selber es für gut fände. So erlaube denn, habe er fortgefahren, lieber  Phaidros, daß ich erst den Agathon nach einer Kleinigkeit frage, um in Übereinstimmung mit ihm sodann meine Rede beginnen zu können!

Wohl, ich erlaube es dir, habe Phaidros erwidert: frage ihn nur!

Hierauf habe denn Sokrates ungefähr folgendermaßen begonnen:

Allerdings, mein lieber Agathon, scheinst du mir deine Rede vortrefflich angelegt zu haben mit deiner Bemerkung, daß man zuerst von dem Eros an  sich zeigen müsse, wie er beschaffen ist, und dann  erst von seinen Werken. Diesem Eingang stimme  ich mit Freuden bei. Wohlan denn, sage mir von  Eros, da du seine übrigen Eigenschaften gar schön  und herrlich entwickelt hast, auch noch dieses: Ist  die Liebe in dieser ihrer Beschaffenheit Liebe von  etwas oder von nichts; Ich meine damit nicht die  Abstammung, als ob ich dich fragen wollte, ob  Eros von einer Mutter oder von einem Vater her  ist - denn das wäre eine lächerliche Frage, ob Eros  von mütterlicher oder von väterlicher Seite her die  Liebe ist -, sondern wie wenn ich dir über »Vater«  dieselbe Frage vorlegte: Ist der Vater Vater von  etwas oder nicht? Du würdest mir nämlich dann  doch wohl sagen, wenn du richtig antworten wolltest, daß er als Vater dies von einem Sohne oder  einer Tochter ist, oder nicht?

Gewiß, habe Agathon erwidert.

Ist es nun nicht mit der Mutter ebenso?

Auch das habe er zugestanden.

Beantworte mir demnach noch einige Fragen,  habe Sokrates fortgefahren, damit du noch besser  begreifst, was ich will: Wenn ich dich nämlich  fragte: Wie weiter? Wie steht es mit dem Bruder?  Ist er das, was er ist, nicht eben dadurch, daß er  Bruder von etwas ist? Oder nicht?

Er sei es, habe jener erwidert.

Und zwar von einem Bruder oder einer  Schwester, nicht wahr?

Auch das habe er zugegeben.

Versuche nun danach, hätte Sokrates weiter gesprochen, mir auch über die Liebe zu antworten: Ist sie die Liebe von nichts oder von etwas?

Freilich ist sie die Liebe zu dem...

Das behalte jetzt noch bei dir im Gedächtnis, sei ihm Sokrates ins Wort gefallen, welches ihr Gegen- stand ist! Jetzt dagegen sage mir nur so viel: Begehrt die Liebe eben diesen Gegenstand, auf welchen sie gerichtet ist, oder nicht?

Freilich, habe er entgegnet.

Diesen Gegenstand nun, welchen sie begehrt und liebt, begehrt und liebt sie den, indem sie ihn besitzt, oder indem sie ihn nicht besitzt?

Indem sie ihn nicht besitzt, wie es scheint, sei  die Antwort gewesen.

Siehe doch zu, habe ihn Sokrates berichtigt, ob  es nicht statt des bloßen Scheines wirklich notwendig so ist, daß das Begehrende das begehrt, wessen  es ermangelt, oder, wenn es ihm nicht mangelt,  dann es auch gar nicht begehrt. Mir nämlich  scheint dies ganz wunderbar notwendig zu sein, lieber Agathon; wie aber dir?

Auch mir scheint es so, habe dieser geantwortet. Wohl gesprochen. Wünscht nun wohl jemand,  wenn er schon groß ist, noch groß, oder, wenn er  stark ist, noch stark zu sein?

Das ist nach dem Zugestandenen unmöglich. Nämlich wer dies schon ist, der dürfte dessen  wohl nicht mehr ermangeln.

Du hast recht. -

Zwar könnte wohl gewissermaßen, habe Sokrates sich selber eingewandt, der Starke stark und der Schnelle schnell und der Gesunde gesund zu sein  wünschen. Wenigstens könnte wohl jemand von  diesen und allen entsprechenden Fällen solches  glauben, daß die so Beschaffenen und im Besitz  dieser Dinge Befindlichen dennoch das, was sie besitzen, auch zugleich begehren. Damit wir uns also  nicht täuschen lassen, führe ich dies noch weiter  aus: Es besitzen nämlich diese, wenn du darauf  achtest, Agathon, das von ihnen Besessene zur Zeit ganz notwendigerweise wirklich, gleichviel, ob sie  es wünschen oder nicht, und wer könnte dann noch  danach begehren? Wenn nun aber doch jemand  sagte: »Ich, der ich gesund bin, wünsche auch gesund zu sein, und ich, der ich reich bin, wünsche  auch reich zu sein und trage Begehr nach eben  dem, was ich besitze«, so würden wir ihm entgegnen: »Nämlich du, guter Mann, der du Reichtum  besitzest und Gesundheit und Stärke, wünschest  diese auch für die Zukunft zu besitzen; denn gegenwärtig hast du sie, du magst wollen oder nicht.  Prüfe also, wenn du dies sagst: 'Ich begehre das  Vorhandenene', - ob du damit wohl etwas anderes  sagen willst als dies: 'Ich wünsche, daß das jetzt  Vorhandene es mir auch in Zukunft sei'.« Müßte er das nicht zugeben?

Agathon hätte dies eingeräumt, erzählte Aristodemos.

Sokrates aber habe fortgefahren: Dieser Wunsch  nun aber, daß ihm dies auch für die Zukunft erhalten bleibe, besagt der wohl etwas anderes, als dasjenige lieben, was ihm noch nicht in seiner Gewalt  steht und was er noch nicht besitzt?

Gewiß nicht, habe jener geantwortet.

Also auch dieser so gut wie jeder andere Begehrende begehrt nach dem, was noch nicht in seiner  Gewalt steht und für ihn noch nicht vorhanden ist  und was er nicht besitzt und was er nicht ist und  wessen er ermangelt, und von dieser Art ist alles  das, worauf Begierde und Liebe gerichtet sind?

Jawohl, habe die Antwort gelautet.

Wohlan, habe Sokrates gesagt, verständigen wir  uns noch einmal über das Bisherige: Erstens ist  also die Liebe Liebe zu etwas, und zweitens zu  dem, woran sie Mangel leidet.

Ja, war die Antwort.

Jetzt erinnere dich ferner, welches nach deiner  Rede der Gegenstand der Liebe war, oder, wenn du willst, will ich dich daran erinnern. Ich glaube  nämlich, du sagtest ungefähr so, daß die Verhältnisse unter den Göttern geordnet worden wären  durch die Liebe zum Schönen, denn zum Häßlichen gäbe es keine Liebe. Sagtest du nicht so ungefähr?

Ich tat es, versetzte Agathon.

Und ganz recht tatest du daran, mein Freund, erwiderte Sokrates. Wenn sich dies nun so verhält, so wäre die Liebe Liebe zur Schönheit, nicht aber zur  Häßlichkeit?

Das gestand er zu.

Räumten wir nun nicht soeben ein, daß sie dasjenige liebe, was sie entbehrt und nicht besitzt?

Ja, sprach Agathon.

Folglich entbehrt Eros der Schönheit und besitzt  sie nicht.

Notwendigerweise, entgegnete er.

Wie nun, was der Schönheit entbehrt und sie  keineswegs besitzt, das nennst du trotzdem schön?

Gewiß nicht.

Willst du also auch nun noch behaupten, daß  Eros schön sei, wenn dem also ist?

Und Agathon habe gesagt: Fast scheine ich, lieber Sokrates, von dem, was ich vorher sagte, selber nichts verstanden zu haben.

Und doch sprachst du schön, mein Agathon, erwiderte Sokrates. Aber eine Kleinigkeit beantworte mir noch: Scheint dir das Gute nicht auch schön zu  sein?

Allerdings.

Wenn also Eros des Schönen ermangelt, das  Gute aber schön ist, so dürfte er auch des Guten ermangeln?

Ich kann dir, lieber Sokrates, nicht widersprechen, habe Agathon erwidert; sondern möge es sich so verhalten, wie du sagst!

Nicht doch, warf ihm Sokrates ein, sondern der  Wahrheit vermagst du nicht zu widersprechen,  mein teurer Agathon; mit dem Sokrates würde dir  dies dagegen ein Leichtes sein. Und so will ich  denn auch dich von nun ab unangefochten lassen  und will vielmehr die Ansichten über den Eros,  welche ich von einer Mantineierin, der Diotima,  hörte, die in diesen sowie in vielen anderen Dingen weise war und den Athenern einst bei Gelegenheit  eines Opfers vor dem Ausbruche der Pest einen  zehnjährigen Aufschub dieser Krankheit erwirkte,  und die auch mich in betreff der Liebe belehrte, - also ihre Äußerungen will ich jetzt meinesteils, so  gut ich vermag, mit Anknüpfung an das, worüber  ich mit Agathon übereingekommen bin, euch wiederzugeben versuchen. Man muß nämlich in der  Tat, wie du auseinandersetztest, mein Agathon, zuerst, was Eros an sich und wie er beschaffen ist,  und sodann seine Wirkungen erörtern. Es scheint  mir nun am leichtesten, dies so zu tun, wie es einst  die Fremde durch vorgelegte Fragen mit mir durch- ging. Denn auch ich äußerte mich gegen sie ungefähr auf ähnliche Weise, wie eben Agathon gegen  mich, daß Eros ein großer Gott wäre und zu den  Schönen gehöre, und sie widerlegte mich wiederum mit eben denselben Gründen, wie ich ihn, dahin,  daß er meinen eigenen Worten zufolge weder schön noch gut sei. Ich aber hielt ihr entgegen: Was soll  das heißen, Diotima? Ist also Eros häßlich und  schlecht?

Sie aber sprach: Frevle nicht! Oder glaubst du,  was nicht schön ist, das sei deshalb auch notwendigerweise schon häßlich?

Freilich glaube ich das.

Auch was nicht weise ist, sei deshalb schon unwissend? Oder weißt du nicht, daß es ein Mittleres  zwischen Weisheit und Unverstand gibt?

Und was wäre dies?

Wenn man sich das Richtige vorstellt, ohne daß  man Gründe für seine Richtigkeit anzugeben vermag, weißt du nicht, daß dies einerseits noch kein  Wissen ist - denn wie könnte etwas der Gründe  Entbehrendes ein Wissen sein? -, andererseits aber auch keine Unwissenheit - denn wie sollte es wohl  Unwissenheit sein, wenn man doch im Besitze des  Richtigen ist? So ist also doch wohl die richtige  Vorstellung ein solches Mittelding zwischen Einsicht und Unwissenheit.

Du hast recht, erwiderte ich.

Halte es also nicht für notwendig, daß das Nichtschöne häßlich und das Nichtgute schlecht und  böse sein müsse! So nimm denn auch vom Eros,  wenn du selber zugestehst, daß er nicht gut und  nicht schön sei, deshalb um nichts mehr an, daß er  häßlich und schlecht sein müsse, sondern nur, daß  er ein Mittleres zwischen beiden sei, sprach sie.

Und doch, warf ich ein, stimmen alle darin überein, daß er ein großer Gott sei.

Meinst du alle Unwissenden, fragte sie, oder  auch alle Wissenden?

Alle ohne Ausnahme.

Aber wie sollte doch, erwiderte sie lachend,  Freund Sokrates, von denen geurteilt werden können, daß er ein großer Gott sei, die ihn nicht einmal für einen Gott halten!

Wer sind die? fragte ich.

Einer bist du, war ihre Antwort, und eine andere  ich.

Wie meinst du das? erwiderte ich.

Und sie sprach: Ganz einfach. Sage mir nämlich  nur: Hältst du nicht alle Götter für glückselig und  schön? Oder würdest du wagen zu behaupten, daß  irgend einer von ihnen dies nicht sei?

Beim Zeus, nein, entgegnete ich.

Nennst du aber nicht glückselig diejenigen, welche das Gute und Schöne besitzen?

Allerdings.

Nun hast du aber doch zugestanden, daß Eros  aus Mangel am Guten und Schönen nach eben diesem strebt, dessen er ermangelt.

Das habe ich.

Wie sollte er also wohl ein Gott sein, da er des  Guten und Schönen unteilhaftig ist?

Freilich kann er dies dann nicht sein, wie es  scheint.

Siehst du nun, sagte sie, daß auch du den Eros  nicht für einen Gott hältst?

Was wäre denn also Eros? wandte ich ein: etwa  ein Sterblicher?

Keineswegs.

Aber was denn?

Ganz nach dem Vorigen, ein Mittelwesen zwischen Sterblichem und Unsterblichem.

Was heißt das, Diotima?

Ein großer Dämon, lieber Sokrates; denn alles  Dämonische ist eben das Mittelglied zwischen Gott und Mensch.

Welche Aufgabe hat es denn?

Dolmetsch und Bote zu sein von den Menschen  bei den Göttern und von den Göttern bei den Menschen, von den einen für ihre Gebete und Opfer,  von den andern für ihre Befehle und ihre Vergeltungen der Opfer, und so die Kluft zwischen beiden auszufüllen, so daß durch seine Vermittlung das  All sich mit sich selber zusammenbindet. Und dadurch hat auch die gesamte Weissagekunst ihren  Fortgang und die Kunst der Priester in bezug auf  Opfer und Weihungen und Besprechungen, und die gesamte Wahrsagerei und Zauberei. Nämlich nicht  unmittelbar tritt die Gottheit mit dem Menschen in  Berührung, sondern durch seine Vermittlung geht  aller Verkehr und alle Zwiesprache der Götter mit  den Menschen im Wachen wie im Schlafe. Und wer dieser Dinge kundig ist, der ist ein dämonenbeseelter (und daher dem Höheren zustrebender), wer  aber irgend eines anderen in Künsten oder Gewerben kundig ist, der ist bloß ein handwerksmäßiger  Mann. Solcher Dämonen gibt es nun viele und von  mannigfacher Art; einer von Ihnen ist aber auch  Eros.

Von welchem Vater und welcher Mutter stammt  er denn her? fuhr ich fort.

Das ist weitläufiger auseinanderzusetzen; indessen will ich es dir trotzdem mitteilen. Als nämlich  Aphrodite geboren war, hielten die Götter einen  Schmaus, und mit den anderen auch Poros  (Erwerb, Betrieb), der Sohn der Metis (Weisheit).  Als sie aber gespeist hatten, da kam Penia  (Armut), um sich etwas zu erbetteln, da es ja festlich herging, und stand an der Türe. Porös nun  begab sich, trunken vom Nektar - denn Wein gab  es damals noch nicht -, in den Garten des Zeus und schlief in schwerem Rausche ein. Da macht Penia  ihrer Bedürftigkeit wegen den Anschlag, ein Kind  vom Porös zu bekommen: sie legt sich also zu ihm  hin und empfing den Eros. Deshalb ist Eros der  Begleiter und Diener der Aphrodite, weil er an  ihrem Geburtsfeste erzeugt ward und zugleich von  Natur ein Liebhaber des Schönen ist, da ja auch  Aphrodite schön ist. Als Sohn des Porös und der  Penia nun ist dem Eros folgendes Los zuteil geworden: Erstens ist er beständig arm, und viel fehlt  daran, daß er zart und schön wäre, wie die meisten  glauben, sondern er ist rauh und nachlässig im Äußern, barfuß und obdachlos, und ohne Decken  schläft er auf der bloßen Erde, indem er vor den  Türen und auf den Straßen unter freiem Himmel  übernachtet, gemäß der Natur seiner Mutter stets  der Dürftigkeit Genösse. Von seinem Vater her  aber stellt er wiederum dem Schönen und Guten  nach, ist mannhaft, verwegen und beharrlich, ein  gewaltiger Jäger und unaufhörlicher Ränkeschmied, der stets nach der Wahrheit trachtet und  sie sich auch zu erwerben versteht, ein Philosoph  sein ganzes Leben hindurch, ein gewaltiger Zauberer, Giftmischer und Sophist; und weder wie ein  Unsterblicher ist er geartet noch wie ein Sterblicher, sondern an demselben Tage bald blüht er und  gedeiht, wenn er die Fülle des Erstrebten erlangt  hat, bald stirbt er dahin; immer aber erwacht er  wieder zum Leben vermöge der Natur seines Vaters; das Gewonnene jedoch rinnt ihm immer wieder von dannen, so daß Eros weder Mangel leidet  noch auch Reichtum besitzt und also vielmehr zwischen Weisheit und Unwissenheit in der Mitte  steht. Es verhält sich nämlich damit folgendermaßen: Keiner der Götter philosophiert oder begehrt  weise zu werden, denn sie sind es bereits; auch  wenn sonst jemand weise ist, philosophiert er  nicht. Ebensowenig philosophieren wiederum die  Unverständigen, noch begehren sie weise zu werden. Denn das eben ist das Verderbliche am Unverstand, daß man, ohne schön, gut und verständig zu  sein, dennoch sich selber genug dünkt. Wer nun  nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch  dessen nicht, wessen er nicht zu bedürfen glaubt.

Wer sind denn also, Diotima, fragte ich, die Philosophierenden, wenn es doch weder die Weisen  noch die Unwissenden sind?

Das ist doch nun wohl auch einem Kinde klar,  erwiderte sie, daß es die zwischen beiden in der  Mitte Stehenden sind, und zu ihrer Zahl gehört nun wiederum auch Eros. Denn gewiß zählt doch die  Weisheit zu dem Allerschönsten; die Liebe aber ist  auf alles Schöne gerichtet: folglich ist Eros ein Philosoph; als Philosoph aber steht er in der Mitte  zwischen einem Weisen und einem Unwissenden.  Ursache auch hiervon ist ihm seine Geburt: denn er stammt von einem weisen und erfindungsreichen  Vater, aber von einer unweisen und ungeschickten  Mutter. So ist die Natur dieses Dämons beschaffen, mein lieber Sokrates; daß du dir aber den Eros  ganz anders vorstellst, ist gar nicht zu verwundern.  Du meintest nämlich, wie ich aus deinen Äußerungen schließen zu können glaube, daß Eros das Geliebte und nicht das Liebende sei. Deswegen, denke ich, erschien dir Eros so überaus schön. Denn das  Liebenswürdige ist in der Tat das wahrhaft Schöne, Zarte, Vollendete und Seligzupreisende; das Liebende aber trägt eine ganz andere Gestalt an sich,  und zwar die, welche ich soeben mit dir betrachtet  habe.

Und ich versetzte: Sei es denn, Freundin, gewiß  hast du recht. Aber welchen Nutzen gewährt denn  Eros in dieser seiner Beschaffenheit den Menschen?

Darüber will ich nun zunächst, sagte sie, lieber  Sokrates, dich zu belehren versuchen. Es ist nun  also Eros von solcher Beschaffenheit und Herkunft, und die Liebe ist, wie du sagst, auf das Schöne gerichtet. Wenn nun aber jemand uns fragte: »Inwiefern ist denn die Liebe auf das Schöne gerichtet, o  Sokrates und Diotima?« - was würden wir ihm  antworten? Doch ich will es noch deutlicher ausdrücken: Wer des Schönen begehrt, was ist dem  dabei der eigentliche Zweck seines Begehrens? Daß es ihm zuteil werde, war meine Antwort. Diese Erwiderung, wandte sie ein, bedarf einer  neuen Frage: Was wird denn dem damit zuteil, welchem das Schöne zuteil wird?

Auf diese Frage, gestand ich, habe ich durchaus  nicht mehr sogleich eine rechte Antwort zur Hand.

Nun, erwiderte sie, wie, wenn jemand statt des  Schönen das Gute setzte und dich dann fragte:  Wohlan, Sokrates, wer das Gute liebt, was begehrt  der eigentlich damit?

Daß es ihm zuteil werde, war meine Entgegnung.

Und was wird jenem zuteil, dem das Gute zuteil  wird?

Das, erwiderte ich, kann ich leichter beantworten: er wird glückselig.

Denn durch den Besitz des Guten, fügte sie  hinzu, sind die Glückseligen glückselig. Und nun  bedarf es nicht mehr der weiteren Frage: Was erstrebt derjenige eigentlich damit, welcher glückselig zu sein wünscht? Sondern hier scheint die Antwort am Ziele angelangt zu sein.

Sehr wahr, bemerkte ich.

Diesen Wunsch und diese Liebe aber - hältst du sie nicht für etwas allen Menschen Gemeinsames,  und glaubst du nicht, daß jedermann das Gute für  immer zu besitzen wünscht? Oder wie meinst du?

So wie du sagst, war meine Erwiderung: ich  halte sie allen für gemeinsam.

Warum sagen wir, fuhr sie fort, lieber Sokrates,  denn nicht von allen, daß sie lieben, wenn sie doch  alle dasselbe und stets begehren, sondern nur von  einigen, von andern aber nicht?

Das nimmt mich selber wunder, sprach ich.

Laß es dich nicht wundern, berichtigte sie: wir  nehmen nämlich von der Liebe nur eine besondere  Art ab und benennen sie mit dem Namen des Ganzen, Liebe; für die übrigen Arten aber bedienen wir uns anderer Benennungen.

Wie zum Beispiel? fragte ich.

Zum Beispiel im folgenden Falle: Du weißt  doch, daß Dichten eigentlich alles Schaffen bezeichnet, und daß das Schaffen etwas gar Vielfältiges ist. Denn allem demjenigen, was die Ursache  dafür ist, daß irgend etwas aus dem Nichtsein in  das Sein übergeht, legen wir eine schaffende Tätigkeit bei, so daß eigentlich auch die Werke sämtlicher Künste Dichtungen und ihre Meister Dichter  heißen müßten.

Du hast recht.

Nichtsdestoweniger, fuhr sie fort, weißt du aber  doch auch, daß sie nicht Dichter genannt werden,  sondern andere Bezeichnungen empfangen, daß  vielmehr von der ganzen Gattung ein kleiner Teil,  nämlich der, der auf Tonkunst und Silbenmaß sich  bezieht, ausgeschieden und mit dem Namen belegt  wird, der vielmehr dem Ganzen zukommen sollte.  Denn nur dieser heißt Dichtkunst, und die ihn innehaben, heißen Dichter.

Du hast recht, sprach ich.

So ist es demnach nun auch mit der Liebe. Im  weiteren Sinne umfaßt sie alles, was Streben nach  dem Guten und der Glückseligkeit heißt, diese  Liebe, die so stark und listenersinnend ist in einem  jeden; aber die, welche sich in vielfacher Art auf  anderen Wegen ihr zuwenden, sei es nämlich der  Liebe zum Gelderwerb oder zu Leibesübungen  oder zur Philosophie, von denen gebraucht man  weder den Ausdruck 'lieben' noch 'Liebhaber'. Du scheinst recht zu haben, bemerkte ich. Nun geht zwar eine Rede, fuhr sie fort, daß die- jenigen lieben, welche ihre andere Hälfte suchen;  meine eigene Rede aber sagt, daß die Liebe weder  auf die Hälfte noch auf das Ganze gerichtet ist,  wenn es nicht eben, lieber Freund, etwas Gutes ist.  Denn die Menschen sind bereit, sich ihre eigenen  Hände und Füße abschneiden zu lassen, wenn  ihnen diese, ob auch immer ihre eigenen, so doch  zum Übel zu sein scheinen. Denn niemand liebt,  wie ich denke, das Eigene als solches, es müßte  denn jemand das Gute als das Angehörige und  wahrhafte Eigentum bezeichnen, das Schlechte aber als das Fremdartige. Nichts anderes nämlich lieben  die Menschen als das Gute; oder scheint es dir anders?

Nein, beim Zeus, antwortete ich.

Das darf man also ohne weiteres sagen, fragte  sie, daß die Menschen das Gute lieben?

Ja, erwiderte ich.

Wie weiter? Müssen wir nicht noch hinzusetzen, daß ihre Liebe auf den Besitz des Guten gerichtet  ist?

Das müssen wir.

Aber auch nicht bloß auf den Besitz, sondern auf den dauernden Besitz?

Auch das müssen wir hinzufügen.

Die Liebe ist also mit einem Worte auf den dauernden Besitz des Guten gerichtet.

Sehr richtig bemerkt, entgegnete ich.

 

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