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Das Polaritätsprinzip

Die Geschlechtertrennung – eine Urpolarität

Die Geschlechtertrennung ist die unmittelbare Folge der luziferischen Versuchung, die dem Menschen die Sinne für die physische Welt geöffnet hat. Die Menschheit wird in Mann und Frau gespalten, die gleichsam die zwei Ur-Rassen darstellen. Polarität ist aber überhaupt die Grundvoraussetzung jeder sinnlichen Erscheinung. So erscheint beispielsweise das übersinnliche Licht nur an der ihr polar entgegengesetzten untersinnlichen Finsternis. Erst wo diese beiden nichtsinnlichen Qualitäten zusammenwirken erscheint die Farbe. In der Menschheitsentwicklung zeigt sich ebenso zuerst die Ur-Polarität der Geschlechter und später die verschiedenen Rassen.

Nur jene Wesensglieder, die mit der raum-zeitlichen Welt zusammenhängen, unterliegen der Geschlechtertrennung, also der physische und der ätherische Leib. Beide zusammen spiegeln diese Polarität deutlich wieder: dem männlichen physischen Leib ist ein weiblicher Ätherleib zugehörig, während umgekehrt dem weiblichen physischen Leib ein männlicher Ätherleib entspricht. Bezüglich dieser beiden unteren Wesensglieder ist jeder auf Erden inkarnierte Mensch unvollständig und bedarf der Ergänzung durch einen andersgeschlechtlichen Partner. Erst Mann und Frau gemeinsam nähern sich dem übersinnlichen Menschenideal. Auf Erden kann man sich diesem nur annähern, im Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt ist es Realität; wenn nach dem Tode der physische und der ätherische Leib abgestreift sind, kann von einer Geschlechtertrennung nicht mehr gesprochen werden. Im Laufe der verschiedenen Inkarnationen geht der Mensch dann wiederholt durch männliche und weibliche Inkarnationen hindurch, so daß insgesamt alle Einseitigkeiten ausgeglichen werden.

Ohne die luziferische Versuchung und die darauffolgende Geschlechtertrennung wäre die Menschheit niemals zum sinnlichen Bewußtsein erwacht – und damit auch nicht zum Ich-Bewußtsein. Denn Bewußtsein entsteht nur dort, wo sich das einheitliche geistige Wesen in der Polarität erscheint. Nicht nur wird der Mann der Frau gegenübergestellt, sondern das Ich muß nun auch der sinnlichen Welt entgegentreten. In dem der Mensch nun allmählich beginnt räumlich zu erleben, wird er sich langsam seines Ich bewußt: das Subjekt fühlt sich dem Objekt, der Natur gegenübergesetzt.

Zum räumlichen Bewußtsein fügt sich das zeitliche Erleben hinzu. Zunächst fühlt sich das gegenwärtige Ich als beständige Wiederholung des früheren Ich; die ursprüngliche Zeitauffassung ist also zyklisch und geht erst allmählich, weil sie sich mit der räumlichen Anschauung durchdringt, in den linear fortschreitenden Zeitbegriff über. Das geschichtliche Bewußtsein beginnt, wodurch das gegenwärtige Ich auf seine Vergangenheit zurückblickt und seine Zukunft plant. Die mythologische Welterfahrung geht so allmählich in das Verstandesdenken über. (siehe insbes. GA 138 / 92ff)

Das räumliche Erleben hängt eng mit dem Bau des physischen Leibes zusammen, die zeitliche Erfahrung mit dem Ätherleib. Daher dominiert naturgemäß beim Mann ursprünglich das räumliche Erleben, bei der Frau die anfängliche zyklische Zeitauffassung. Das männliche Bewußtsein ist daher nach außen hin auf die räumliche Umwelt orientiert und drängt zur Ortsveränderung. Das Nomadenwesen der frühen Menschheit liegt darin begründet. Der Mann will in die Welt hinaus, um sich mit ihr zu vereinen um so wieder heil, d.h. ein Ganzes zu werden. Daß Ich und Welt voneinander geschieden werden, ist die Voraussetzung für jede bewußte Erkenntnis; die aktiv herbeigeführte Wiedervereinigung bedeutet ihren Vollzug. Dem entspricht auf leiblicher Ebene vollkommen der Zeugungsakt, wie es schon die Bibel treffend erzählt: "Und Adam erkannte sein Weib." Jeder Erkenntnisakt ist ein vergeistigter Zeugungsakt.

Das weibliche zyklisch-zeitliche Bewußtsein ist nach innen zu orientiert und sucht den Augenblick als Ewigkeit zu bewahren. Die Frau will die ganze Welt in sich aufnehmen um dadurch wieder heil zu werden: zu erkennen bedeutet daher auch immer eine vergeistigte Empfängnis. Das heißt aber nicht weniger, als daß in jedem wirklichen Erkenntnisakt die Ehe zwischen den vergeistigten männlichen und weiblichen Kräften vollzogen werden muß. Jeder Mann muß sich daher geistig erringen, was ihm physisch-ätherisch mangelt, und umgekehrt jede Frau. Nur so können wir überhaupt einmal künftig der Auferstehungsleiblichkeit teilhaftig werden, denn diese ist rein geistiger Natur und daher notwendig ungeschlechtlich männlich-weiblich zugleich; durch sie wird der für die Ich-Entwicklung notwendig gewesene Sündenfall überwunden und die Geschlechtertrennung aufgehoben. Die christliche Ein-Ehe ist die dazu nötige Vorübung.

In vorchristlicher Zeit war die Polygamie weit verbreitet und durchaus berechtigt, noch hatten wir es ja mit dem Gruppen-Ich und noch nicht mit einzelnen individuellen Menschen zu tun. Heute hingegen kann sie nur als eine der freien Individualität widerstrebende Kraft angesehen werden, die aber von dem immer stärker heranwachsenden Egoismus heftig geschürt wird. Tatsächlich wird dadurch die Beziehung zwischen den Geschlechtern vielfältig durcheinandergebracht. Single-Dasein, Homosexualität, Emanzentum, aber auch das kirchlich verordnete unfreiwillige Zölibat haben eines gemeinsam: sie sind entscheidende Impulse die das freie Individuum an seiner notwendigen Entfaltung hindern. Alle diese sog. "alternativen Lebensformen" halten in Wahrheit die fruchtbringende künftige Entwicklung auf!

Gerade deshalb kann sich die moderne christliche Ein-Ehe aber auch nicht in dem viel zitierten "traditionellen Rollenbild" erschöpfen, denn dann hält man nur krampfhaft den alten Ur-Gegensatz fest, der aber gerade geistig immer mehr überwunden werden muß. Jeder freie Mensch muß selbst entscheiden können, was ihm mangelt und was er geistig hinzu gewinnen muß. Nicht grundlos üben sich in den Waldorfschulen Buben und Mädchen gemeinsam im Werken und Handarbeiten. So müßte im Grunde jede Ehe für sich eine "alternative Lebensform" darstellen, in der einander die Partner je nach ihren individuellen Bedürfnissen ergänzen; eine "genormte" Rollenverteilung kann es künftig nicht mehr geben.

Die Ur-Familie als Quelle der Menschheit

Die Partnerschaft zwischen Mann und Frau erschöpft sich nicht in ihrer wechselseitigen Ergänzung, sie führt auch zur Zeugung der Nachkommenschaft. Für die Familie gilt also das mathematische Paradoxon 1 + 1 = 3 (oder mehr). Diese Vervielfältigung ist aber das Grundprinzip jeder schöpferischen Tätigkeit. Auf geistiger Ebene entspricht ihr die kreative Erkenntnistätigkeit, die nicht bloß bereits vorhandene Ideen kombiniert, sondern schöpferisch neue erschafft. Aufgabe der Familie ist es, das Ich in die Erdenwelt hereinzuführen; Aufgabe der Erkenntnis ist es, Geistiges im wachen Erdenbewußtsein aufleuchten zu lassen.

Bild und Aufgabe der Familie haben sich im Laufe der menschheitlichen Entwicklung bedeutsam gewandelt. Anfangs gab es noch kein individuelles Ich, das sich in einem einzelnen Menschen hätte verkörpern können. Ein gemeinsames Gruppen-Ich durchgeistigte die ganze Familie. Fruchtbare Familien konnten ihr gemeinsames Ich durch die Fülle der Nachkommenschaft intensiver in die irdische Welt hereinführen als solche, die nur wenige Nachkommen hervorgebracht hatten. Fruchtbarkeit war also nötig, um das irdische Ich-Bewußtsein zu entwickeln: "Seid fruchtbar und mehret euch!"

Das Gruppen-Ich weilt zunächst noch fast ganz in der geistigen Welt und ist kaum für die Sinneswelt erwacht; es ist noch beinahe träumend in sie verwoben, Sinnliches und Geistiges durchdringen einander beinahe ungeschieden. Je mehr sich die Familie zur Sippe erweitert, um so enger wird das Gruppen-Ich an die Erdenwelt gebunden und um so stärker erwacht das sinnliche Bewußtsein. Das Familienoberhaupt ist der herausragende Sprecher dieses Gruppen-Ichs und diese Fähigkeit geht allmählich auf den erstgeborenen Sohn über. Da alle Sippenmitglieder einem einzigen gemeinsamen Ich angehören, ist die Blutsliebe selbstverständlich. Anders als in dem bekannten Christuswort gilt hier: "Liebe deinen Nächsten als dich selbst."

Wie der einzelne Mensch, so durchläuft auch die Sippe verschiedene Entwicklungsstadien von der Jugendzeit über die Reife bis hin zum Alter, um endlich auszusterben oder in anderen jugendkräftigeren Sippen aufzugehen. Das sonst unverständliche "biblische" Alter eines Methusalem oder anderer erklärt sich dadurch: nicht der einzelne Mensch, sonder die ganze Sippe mit ihrem gemeinsamen Gruppen-Ich ist gemeint.

Von einer Reinkarnation des einzelnen individuellen Ichs kann in diesem frühen Zeitalter streng genommen nicht gesprochen werden. Solange die Sippe auf Erden existiert, strömt das gemeinsame Ich durch die aufeinanderfolgenden Generationen; es ist an die Vererbungsströmung gebunden, in denen die Mondenkräfte Jahves wirken. Sie verhindern, daß das leibliche Gefäß durch den luziferischen Einfluß verdorben wird. Auch gab es damals noch nicht die persönliche Unsterblichkeit; das gemeinsame Ich lebte in den Nachkommen fort. Eine Anschauung, an der die Sadduzäer noch in nachchristlicher Zeit festhalten wollten. In weiterer Konsequenz wird daraus die materialistische Auffassung, die Geist und Seele überhaupt leugnet und bloß an das leibliche Fortleben glaubt, das durch die Generationen vererbt wird. Dazu werden Traditionen und Gebräuche, also mehr oder weniger abstrahierte Bildekräfte weitergegeben. Der Mensch wird damit auf seine physisch-ätherische Leiblichkeit reduziert, was noch zusätzlich durch jene puritanische Lebensauffassung verschärft wird, die die astralen Triebkräfte nicht verwandeln, sondern ausschalten möchte.

An der Blutsbindung hielt im allerhöchsten Maße das jüdische Volk fest, und das mit gutem Grund: es bereitete den Weg zu jener Leiblichkeit, die fähig war den Christus, das Menschheits-Ich vollkommen in sich aufzunehmen. Darin bestand geradezu die Aufgabe der gesamten vorchristlichen Zeit. Wird dieser Weg aber noch in nachchristlicher Zeit beschritten, muß die Menschheit im Materialismus versinken. Daher hat sich der Christus von Anfang an energisch gegen die bloße Blutsbindung ausgesprochen. Das beginnt bereits mit der Hochzeit zu Kana und wird in dem scheinbar paradoxen Ausspruch deutlich: "Wer nicht verläßet Vater und Mutter, kann nicht mein Jünger sein!" Anstelle der Blutsverwandtschaft muß immer mehr die seelisch-geistig begründete Wahlverwandtschaft treten.

Es war die Mondenkraft Jahves, die das leibliche Gefäß so durchformt hatte, daß dadurch der Astralleib und das Ich immer stärker individualisiert wurden. Auf untergeordneter Ebene wird schon der Astralleib im Tierreich individualisiert: jede einzelne Tierart verfügt über ihren eigenen typischen Astralleib, der jedoch in unzähligen Exemplaren vorliegt. Erst die Menschenbildung schließt diesen Prozeß ab, indem nun jeder einzelne Mensch über seinen eigenen in sich geschlossenen Astralleib verfügt, der überdies ein Abbild des ganzen Tierkreises, also ein vollständiger Mikrokosmos ist, was bei keiner einzigen Tierart der Fall ist. Der Mensch ist in diesem Sinne das höchste aller Tiere, er vollendet die tierische Entwicklung und ist damit zugleich das Urbild, aus dem sich alle Tiergattungen ableiten lassen und dessen jeweils einseitige Ausprägung sie darstellen. Zugleich weist der Mensch über das Tierreich hinaus, denn durch seinen allseitig veranlagten, den ganzen Kosmos umfassenden Astralleib wird er fähig das Ich in sich aufzunehmen, was dem Tier ewig verwehrt bleiben muß. Es kann sich daher niemals individualisieren, sondern muß stets Gruppen-Ich bleiben.

Nur in der Sinneswelt kann der Mensch zur freien Individualität heranreifen. Und doch wirkt dieselbe Sinnlichkeit auch wiederum der Individualisierung des Astralleibes entgegen, denn dieser neigt gleichsam dazu, durch die Sinne davonzufließen und sich in der allgemeinen Weltenastralität aufzulösen. Was wir im Erdenleben an sinnlichen Begierden in uns erwecken, das muß im nachtodlichen Leben im Läuterungsfeuer abgestreift und unserem Astralleib entrissen werden. Nur der wirklich individualisierte Teil des Astralleibes kann in der geistigen Welt selbständig erhalten bleiben – und auch weitergegeben werden. In diesem Sinne kann man in vorchristlicher Zeit von Seelenwanderung sprechen, nicht aber von echter Reinkarnation, denn diese bezieht sich auf das individuelle Ich und nicht auf die astralen Seelenkräfte. Von Reinkarnation im weiteren Sinne kann man nur bezüglich des Gruppen-Ichs der einzelnen Sippen sprechen: stirbt eine Familie physisch aus, so kann sich ihr Gruppen-Ich später in einer anderen Familie wiederverkörpern.

Die durch die nachtodliche Läuterung ausgeschiedenen Splitter des Astralleibes wirken gestaltend an der äußeren Natur mit; auf die Tiere von innen, auf die Pflanzen und sogar die Mineralien von außen. Das diese Astralkräfte sich auf die sinnliche Welt beziehen, sind sie auch mit den sinnlich verkörperten Naturreichen eng verwandt. Der Mensch kann sich zwar niemals in einem Tier oder gar in einer Pflanze wiederverkörpern, aber die von ihm ausgeschiedenen astralen Kräfte sind in ihnen sehr wohl wirksam. Von diesem Standpunkt aus besehen wird auch die Seelenwanderungslehre des Pythagoras verständlich.

Umgekehrt verliert der menschliche Astralleib durch diese Läuterung seine Ganzheitlichkeit. Er hat Teile seines Wesens an die sinnliche Welt abgegeben und kann sie daher auch nur dort wiederfinden. So entsteht im nachtodlichen Leben schließlich ein brennender Durst nach irdischem Dasein, der nur dadurch dauerhaft gelöscht werden kann, daß die sinnlichen Begierden im Erdensein immer mehr vergeistigt werden. Das ist der Kern der buddhistischen Lehre.

Durch die Jahve-Strömung wurden allmählich alle Leibesglieder so durchformt, daß sie ein geeignetes Gefäß für das herabsteigende Ich werden konnten. Niemals wurde aber in vorchristlicher Zeit die Ich-Kraft vollständig in den Erdenleib aufgenommen. Ein Teil verblieb stets im Schoße der geistigen Welt, noch völlig unbedarft vom irdischen Ich-Bewußtsein. Damit ist auf jene Seele hingedeutet, die sich zur Zeitenwende in dem nathanischen Jesusknaben verkörpern sollte.

Die beiden Jesus-Knaben – eine Entwicklungsnotwendigkeit

Die vorchristliche irdische Entwicklung diente dazu, das leibliche Gefäß zu bereiten, das fähig war, das Menschheits-Ich vollkommen in sich aufzunehmen. Physischer Leib und Ätherleib wurden durch die Jahve-Kräfte so durchformt, daß das Ich einmal in ihnen leben konnte. Durch die physischen Vererbungskräfte und durch die von den Ätherkräften getragene Tradition wurden sie davor bewahrt, von den Widersachern vorzeitig zerstört zu werden. Trotzdem machte sich der luziferische Einfluß, die Erbsünde, immer stärker bemerkbar. Luzifer ergreift den Astralleib, der zunächst in dem physisch-ätherischen Gefäß individualisiert werden sollte. Und eben dieser immer stärker und eigenständiger werdende und von luziferischen Kräften durchsetzte Astralleib begann den Leib immer mehr zu deformieren und eröffnete dadurch den ahrimanischen Mächten die Möglichkeit den Ätherleib und indirekt auch den Physischen Leib zu ergreifen.

In der ur-persischen Epoche ist der Astralleib weitgehend individualisiert, und konsequent spricht Zarathustra nun von der drohenden ahrimanischen Gefahr, die in das physisch-ätherische Gefäß Jahves einzieht, wenn der Astralleib selbst nicht reinster Ausdruck der geistigen Sonnenkräfte, der Großen Aura (Ahura Mazdao) wird. Der Astralleib des Zarathustra selbst erstrahlte in diesem lautersten geistigen Sonnengold, er ist der Goldstern (Zoro-aster). So wie die Sternenwelt insgesamt, d.h. der Tierkreis, sichtbarer Abglanz der Weltenastralität ist, so ist ein spezieller Stern, nämlich unsere Sonne, das Zentrum von dem die individualisierten Astralkräfte ausstrahlen.

Wie aber steht es mit dem Ich in vorchristlicher Zeit? Es ist zunächst ein Gruppen-Ich, das an den Sippenzusammenhang gebunden ist. Kein einzelner Mensch kann das Ich noch vollkommen verkörpern. Nicht einmal die Sippe als ganzes vermag das, denn weil das Ich in mehrere Menschen hineinragt und sie zugleich miteinander verbinden muß, bleibt notwendig ein Teil seines Wesens in der geistigen Welt. Und da dieser Teil überhaupt noch keine irdische Individualisierung durchgemacht hat, umspannt er die ganze Menschheit. Dieses vom irdischen Sündenfall unberührt gebliebene Wesen wurde zur Zeitenwende als nathanischer Jesusknabe geboren.

Wir müssen also in vorchristlicher Zeit zwei getrennte Entwicklungslinien annehmen: eine irdische, durch die die drei Leibesglieder vollendet werden und dadurch dem Ich-Bewußtsein den Weg bahnen, und eine himmlische, die das eigentliche Ich umfaßt, das aber zunächst noch ein Gruppen-Ich ist. Durch das leibliche Gefäß werden Astralleib und Ich immer mehr individualisiert. Das rein geistige Ich taucht dabei immer stärker in den Leib ein und erwacht allmählich zum Bewußtsein seiner selbst; der größte Teil menschlicher Ich-Kraft verbleibt aber noch in den geistigen Welten. Noch ist das Ich nicht wirklich verkörpert, sonder bloß inkorporiert. Das Leibesgefäß, das den physischen, den ätherischen und den astralischen Leib umfaßt, ist von der Ich-Kraft gleichsam nur "besessen" aber nicht von ihr voll durchgestaltet. Von Reinkarnation kann zu diesen Zeiten, wie bereits erwähnt, nicht wirklich gesprochen werden. Dafür aber bleiben in sich vollendete Leibesglieder erhalten, was der Seelenwanderung entspricht. Das gilt allerdings nur für sehr hoch entwickelte Erdenmenschen wie beispielsweise Zarathustra. Er kann daher seinen Astralleib an Hermes, den großen Eingeweihten der ägyptisch-chaldäischen Zeit weitergeben und seinen Ätherleib an Moses.

Indem das Ich den Astralleib ergreift und zu durchformen beginnt, wird nach und nach die Empfindungsseele herausgebildet. Eine ganz neue Phase in der menschheitlichen Entwicklung beginnt damit in der ägyptisch-chaldäischen Zeit. Die Rassenbildung, die auf der alten Atlantis begonnen hatte wird endgültig abgelöst durch die Völkerentwicklung. Die individuelle Seele reift im Schoße der Volksseele heran. Die ersten beiden nachatlantischen Kulturen, in denen der Äther- und der Astralleib ausreifen, bilden die Übergangsphase, die von den Rassen zu den Völkern führt. Eine individuelle Seele ist um so reifer, je mehr sie von der Volksseele in sich aufzunehmen vermag.

Der Astralleib, der bislang durch das leibliche Gefäß individualisiert wurde, wird nun zunehmend durch das Ich geprägt, das aber noch im Schoße des Volksgeistes ruht. Und der Volksgeist selbst wirkt gestaltend bis in den Ätherleib hinein, kaum aber in den physischen Leib. Ein typischer Vertreter seines Volksgeistes ist der jüdisches Prophet Elias, der später als Johannes der Täufer wiedergeboren wurde.

Je länger eine Sippe auf Erden gelebt hat, desto mehr irdische Erfahrungen hat das Gruppen-Ich gesammelt. Wenn sich die Lebenskraft der Sippe zu erschöpfen beginnt und sie allmählich ausstirbt, umfaßt sie auch immer weniger einzelne Mitglieder. Das irdische Bewußtsein des Gruppen-Ich wird dadurch zwar immer weniger umfassend, aber auch immer wacher und individueller. Seinen Höhepunkt erreicht es im letzten männlichen Nachkommen, nach dem die Sippe endgültig ausstirbt. Die Betonung liegt hier deswegen auf dem männlichen Prinzip, weil der starre physische Leib des Mannes zunächst am stärksten das Ich-Bewußtsein prägen konnte, wohingegen der weich bildsame weibliche Leib in vorchristlicher Zeit vor allem den Geburtskräften diente. Es ist der (unverheiratete) Sohn der Witwe, in dem sich das Ich-Bewußtsein am allerstäksten individualisieren konnte. Von hier aus konnte das Ich die Seele immer individueller zu prägen beginnen.

Je enger also der Personenkreis wurde, in dem sich das Gruppen-Ich ausleben konnte, desto schärfer wurde also sein Erdenbewußtsein. Dieses Prinzip wurde in der Geschwisterehe der ägyptischen Pharaonen vorbereitet. Auch dadurch wurde das Ich bereits auf einen allerengsten Menschenkreis konzentriert. Darauf fußt jenes Einweihungsprinzip, das unmittelbar mit der menschlichen Seelenentwicklung zusammenhängt und auf das uns die Isis und Osiris-Legende hinweist. Isis ist die Witwe ihres Gemahls und Bruders Osiris und gebiert das Horus-Kind, also den Sohn der Witwe, der zugleich die in der Seele geborene Ich-Kraft darstellt.

So sind es zunächst zwei ganz verschiedene Einweihungsarten, die für die Seelenentwicklung wichtig sind und die einander ergänzen. Die Eingeweihten in den Volksgeist dehnen die Seele soweit aus, daß sie zu einem vollkommen Ausdruck der Volksseele wird, wobei aber das eigentlich individuelle Element zurücktritt. Was früher nur Sippenbewußtsein war, breitet sich nun über das ganze Volk aus – oder im Idealfall auf die ganze Menschheit, wie es bei dem nathanischen Jesus-Knaben der Fall ist: seine Seele ist Ausdruck des allgemein Menschlichen schlechthin.

Die Söhne der Witwe prägen der menschlichen Seele den Stempel der Individualität auf. Sie wird dadurch unabhängig von Rasse, Volk und Familie; sie ist eine wahrhaft heimatlose Seele, prädestiniert nur sich selbst, d.h. ihrem individuellen Ich verantwortlich zu sein. Der salomonische Jesus-Knabe, der wiedergekommene Zarathustra, ist der vollkommenste Repräsentant dieser Strömung.

Dem Volkseingeweihten droht seine Individualität völlig zu entschwinden, während der Sohn der Witwe Gefahr läuft, im krassesten Egoismus zu versinken, wie es etwa bei den späteren römischen Cäsaren der Fall war. Nur ein vollkommen geläuterter Astralleib, der "Goldstern", kann ihn davor bewahren. Beide Einweihungsrichtungen bereiten den Herabstieg des Menschheits-Ichs, des Christus, aus den geistigen Welten vor. Aber erst durch –den konkreten Zusammenfluß beider Strömungen in einem einzigen Menschen, d.h. durch die Vereinigung des salomonischen und des nathanischen Jesus, konnte sich der Christus bei der Jordan-Taufe als individuelles menschliches Ich verkörpern. Und dieser Inkarnationsprozeß benötigt die vollen 3 Jahre, die der Christus auf Erden gelebt hat und vollendet sich erst mit dem Mysterium von Golgatha, wo der Christus nun in die ganze Erde übergeht und sich mit ihr verbindet. So konnte die gewaltige kosmisch-geistige Kraft des Christus bis in den physischen Menschenleib hinein wirken und ihn zur Auferstehung führen. Dadurch wurde aber überhaupt erst die Voraussetzung dafür geschaffen, daß sich von nun an das einzelne individuelle menschliche Ich in der Erdenwelt verkörpern konnte.

In vorchristlicher Zeit war es Jahve, der den menschlichen Leib vor den schlimmsten Verfallserscheinung bewahrt und ihn zur Blüte geführt hatte. Von nun an wird er durch das auf Erden wirkende Christus-Prinzip abgelöst. Das Vererbungsprinzip und die Erbsünde werden nun gleichermaßen überwunden. Die Seele wird nun nicht mehr durch den naturgegebenen Leib individualisiert, sondern unmittelbar durch das rein geistige, aber auf Erden verkörperte menschliche Ich. Und die individuelle Seele beginnt in der Folge auch den Leib immer individueller auszuprägen. Dadurch werden endlich Egoismus, Volkstum und Rasse überwunden – aber nur wenn sich das einzelne Individuum freiwillig mit der Christuskraft durchdringt.

Durch den Christus ist der vollendete Mensch in die Erdenentwicklung getreten, vorbildlich für die ganze weitere Entfaltung des Menschengeschlechts. Und dadurch unterscheidet sich der Christus selbst von allen Eingeweihten: "In dem Christus haben wir die eine einzige Individualität, die alles, was sie getan hat, was sie gesprochen hat, was von ihr ausgegangen ist in die Menschheitsentwicklung, durch den physischen Leib und nicht auf dem Umwege durch höhere Leiber gegeben hat." (GA 133/S 45) Er hat jenes Ziel bereits verwirklicht, zu dem sich die Menschheit erst noch hin entwickeln muß. Seine reale Präsenz auf Erden hat bewiesen, daß dieses Ziel erreichbar ist, wenngleich es auch für uns noch in der Ferne liegt. Der Wiederaufstieg ins Geistige mit allen Früchten des Erdenlebens kann beginnen. Geschlechtertrennung, Rassen, Völker und das einzelne Ego sind notwendige Folgen der vorchristlichen Entwicklung, die das Christus-Mysterium überhaupt erst möglich gemacht haben, die aber auch noch weit über die Zeitenwende hinaus fortwirken, ja sogar fortwirken müssen. Sie werden nur durch eine wahrhafte "Imitatio Christi", durch eine rechte Nachfolge Christi allmählich überwunden werden.

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