1862
1863
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Pottschach
Als
ich einundeinhalbes Jahr alt war, wurde mein Vater nach Mödling
bei Wien versetzt. Dort blieben meine Eltern ein halbes Jahr. Dann
wurde meinem Vater die Leitung der kleinen Südbahnstation Pottschach
in Niederösterreich, nahe der steirischen Grenze, übertragen. Ich
verlebte da die Zeit von meinem zweiten bis zu meinem achten Jahre.
Eine wundervolle Landschaft umschloß meine Kindheit. Der Ausblick
ging auf die Berge, die Niederösterreich mit Steiermark verbinden:
Der «Schneeberg», Wechsel, die Raxalpe, der Semmering. Der Schneeberg
fing mit seinem nach oben hin kahlen Gestein die Sonnenstrahlen
auf, und was diese verkündeten, wenn sie vom Berge nach dem kleinen
Bahnhof strahlten, das war an schönen Sommertagen der erste Morgengruß.
Der graue Rücken des «Wechsel» bildete dazu einen ernst stimmenden
Kontrast. Das Grün, das von überall her in dieser Landschaft freundlich
lächelte, ließ die Berge gleichsam aus sich hervorsteigen. Man hatte
in der Ferne des Umkreises die Majestät der Gipfel, und in der unmittelbaren
Umgebung die Anmut der Natur.
Auf dem kleinen
Bahnhofe aber vereinigte sich alles Interesse auf den
Eisenbahnbetrieb. Es verkehrten zwar damals in dieser Gegend
die Züge nur in größeren Zeitabständen; aber wenn sie
kamen, waren zumeist eine Anzahl von Menschen des Dorfes, die
Zeit hatten, am Bahnhof versammelt, um Abwechslung in das
Leben zu bringen, das ihnen sonst anscheinend eintönig
vorkam. Der Schullehrer, der Pfarrer, der Rechnungsführer des
Gutshofes, oft der Bürgermeister erschienen da.
Ich glaube,
daß es für mein Leben bedeutsam war, in einer solchen
Umgebung die Kindheit verlebt zu haben. Denn meine Interessen
wurden stark in das Mechanische dieses Daseins hineingezogen.
Und ich weiß, wie diese Interessen den Herzensanteil in der
kindlichen Seele immer wieder verdunkeln wollten, der nach der
anmutigen und zugleich großzügigen Natur hin ging, in die
hinein in der Ferne diese dem Mechanismus unterworfenen
Eisenbahnzüge doch jedesmal verschwanden.
TB 636 (I.),
S 8 f
Der
Pfarrer von St. Valentin
In
all das hinein spielte der Eindruck von einer Persönlichkeit,
die von einer großen Originalität war: die des Pfarrers von
St. Valentin, einem Orte, der in etwa dreiviertel Stunden von
Pottschach aus zu Fuß erreicht werden konnte. Dieser Pfarrer
kam gerne in mein Elternhaus. Er machte fast täglich seinen
Spaziergang zu uns und hielt sich stets längere Zeit auf. Er
war der Typus des liberalen katholischen Geistlichen,
tolerant, leutselig. Ein robuster, breitschultriger Mann. Er
war witzig, sprach gerne in Schnurren und liebte es, wenn die
Menschen um ihn lachten. Und man lachte noch weiter über das,
was er gesagt hatte, wenn er schon lange fort war. Er war ein
Mann des praktischen Lebens; und er gab auch gern gute
praktische Ratschläge. Ein solcher hat in meiner Familie
dauernd fortgewirkt. Die Bahngleise in Pottschach waren an den
Seiten begleitet mit Akazienbäumen (Robinien). Wir gingen
einmal den schmalen Gehweg, der längs dieser Baumreihe
führte. Da sagte er: «Ach, welch schöne Akazienblüten sind
da.» Und flugs schwang er sich auf einen der Bäume und
pflückte eine große Menge dieser Blüten. Dann breitete er
sein sehr großes rotes Taschentuch aus — er schnupfte
leidenschaftlich -, wickelte sorgfältig die Beute ein und
nahm das «Binkerl» unter den Arm. Dann sagte er: «Sie haben
es gut, daß Sie soviel Akazien haben.» Mein Vater war
erstaunt und erwiderte: «Ja, was können uns die nützen?»
«Waaas», sagte der Pfarrer, «wissen Sie denn nicht, daß
man die Akazienblüten backen kann wie den Holunder, und daß
sie viel besser schmecken, weil sie ein viel feineres Aroma
haben.» Und von der Zeit an gab es oft, wenn dazu Gelegenheit
war, von Zeit zu Zeit auf unserem Familientisch «gebackene
Akazienblüten».
TB 636 (I.),
S 9 f
Die Geburt der
Geschwister
In Pottschach
wurden meinen Eltern noch eine Tochter und ein Sohn geboren.
Eine weitere Vergrößerung der Familie fand nicht statt.
Eine sonderbare
Eigenheit hatte ich als ganz kleiner Junge. Es mußte von dem
Zeitpunkte an, da ich selbständig essen konnte, sehr auf mich
acht gegeben werden. Denn ich hatte die Meinung ausgebildet,
daß ein Suppenteller oder eine Kaffeetasse nur zum einmaligen
Gebrauch bestimmt sei. Und so warf ich denn jedesmal, wenn ich
unbeachtet war, nach eingenommenem Essen, Teller oder Tasse
unter den Tisch, daß sie in Scherben zerbrachen. Kam dann die
Mutter heran, dann empfing ich sie mit dem Ausruf: «Mutter,
ich bin schon fertig.»
Es kann
dies bei mir nicht Zerstörungswut gewesen sein. Denn meine
Spielsachen behandelte ich mit peinlicher Sorgfalt und hielt
sie lange in gutem Zustande. Unter diesen Spielsachen fesselten
mich besonders diejenigen, deren Art ich auch heute für
besonders gut halte. Es waren Bilderbücher mit beweglichen
Figuren, die unten an Fäden gezogen werden können. Man
verfolgte kleine Erzählungen an diesen Bildern, denen man
einen Teil ihres Lebens dadurch selbst gab, daß man an den
Fäden zog. Vor diesen Bilderbüchern saß ich oft stundenlang
mit meiner Schwester. Ich lernte an ihnen auch, wie von
selbst, die Anfangsgründe des Lesens.
TB 636 (I.),
S 10
Die Dorfschule in
Pottschach
Mein Vater war
darauf bedacht, daß ich früh lesen und schreiben lernte. Als
ich das schulpflichtige Alter erreicht hatte, wurde ich in die
Dorfschule geschickt. Der Schullehrer war ein alter Herr, dem
das Schule-Halten eine lästige Beschäftigung war. Mir aber
war das Unterrichtet-Werden von ihm auch eine lästige
Beschäftigung. Ich glaubte überhaupt nicht, daß ich durch
ihn etwas lernen könne. Denn er kam mit seiner Frau und
seinem Söhnlein oft in unser Haus. Und dieses Söhnlein war
nach meinen damaligen Begriffen ein Schlingel. Da hatte ich es
mir denn in den Kopf gesetzt: wer einen solchen Schlingel zum
Sohn hat, von dem kann man nichts lernen. Nun aber kam auch
noch etwas «ganz Schreckliches» vor. Einmal machte sich
dieser Schlingel, der auch in der Schule war, den Spaß, mit
einem Holzspan in alle Tintenfässer der Schule zu tauchen und
rings um sie Kreise aus Tintenklecksen zu bilden. Der Vater
bemerkte dies. Die Mehrzahl der Schüler waren schon fort.
Ich, der Lehrersohn und noch ein paar Buben waren
zurückgeblieben. Der Schullehrer war außer sich, schimpfte
fürchterlich. Ich war überzeugt, er würde sogar
«brüllen», wenn er nicht ständig heiser gewesen wäre.
Trotz seines Tobens ging ihm durch unser Benehmen ein Licht
darüber auf, wer der Übeltäter war. Aber da kam es doch
anders. Die Lehrerwohnung stieß an das Schulzimmer. Die
«Frau Oberlehrerin» hatte die Aufregung gehört, kam herein,
hatte wilde Augen und fuchtelte mit den Armen. Für sie war es
klar, daß ihr Söhnlein das Ding nicht gedreht haben konnte.
Sie beschuldigte mich. Ich lief davon. Mein Vater wurde
wütend, als ich die Sache nach Hause brachte. Und als die
Lehrersleute wieder zu uns kamen, da kündigte er ihnen mit
der größten Deutlichkeit die Freundschaft und erklärte:
«Mein Bub darf keinen Schritt
mehr in Ihre Schule machen.» Und
nun übernahm mein Vater selbst den Unterricht. Und so saß
ich denn stundenlang neben ihm in seiner Kanzlei, und sollte
schreiben und lesen, während er zwischendurch die
Amtsgeschäfte verrichtete.
Ich konnte auch
bei ihm kein rechtes Interesse zu dem fassen, was durch den
Unterricht an mich herankommen sollte. Für das, was mein
Vater schrieb, interessierte ich mich. Ich wollte nachmachen,
was er tat. Dabei lernte ich so manches. Zu dem, was von ihm
zugerichtet wurde, daß ich es zu meiner Ausbildung tun
sollte, konnte ich kein Verhältnis finden. Dagegen wuchs ich
auf kindliche Art in alles hinein, was praktische
Lebensbetätigung war. Wie der Eisenbahndienst verläuft, was
alles mit ihm verbunden ist, erregte meine Aufmerksamkeit.
Besonders aber war es das Naturgesetzliche, das mich gerade in
seinen kleinen Ausläufern anzog. Wenn ich schrieb, so tat ich
das, weil ich eben mußte; ich tat es sogar möglichst
schnell, damit ich eine Seite bald vollgeschrieben hatte. Denn
nun konnte ich das Geschriebene mit Streusand, dessen sich
mein Vater bediente, bestreuen. Und da fesselte mich dann, wie
schnell der Streusand mit der Tinte auftrocknete und welches
stoffliche Gemenge er mit ihr gab. Ich probierte immer wieder
mit den Fingern die Buchstaben ab; welche schon aufgetrocknet
seien, welche nicht. Meine Neugierde dabei war sehr groß, und
dadurch kam ich zumeist zu früh an die Buchstaben heran.
Meine Schriftproben nahmen dadurch eine Gestalt an, die meinem
Vater gar nicht gefiel. Er war aber gutmütig und strafte mich
nur damit, daß er mich oft einen unverbesserlichen «Patzer»
nannte. — Es war dies aber nicht die einzige Sache, die sich
bei mir aus dem Schreiben entwickelte. Mehr als meine
Buchstabenformen interessierte mich die Gestalt der
Schreibfeder. Wenn ich das Papiermesser meines Vaters nahm, so
konnte ich es in den Schlitz der Feder hineintreiben und so
physikalische Studien über die Elastizität des
Federnmateriales machen. Ich bog dann allerdings die Feder
wieder zusammen; aber die Schönheit meiner Schriftwerke litt
gar sehr darunter.
TB 636 (I.),
S 11 f
«Grenzen
der Erkenntnis»
Mühle und
Spinnfabrik
Das war
auch die Zeit, wo ich mit meinem Sinn für Erkenntnis der
Naturvorgänge mitten hineingestellt wurde zwischen das
Durchschauen eines Zusammenhanges und
die «Grenzen der Erkenntnis». Etwa drei Minuten von meinem
Elternhause entfernt befand sich eine Mühle. Die
Müllersleute waren die Paten meiner Geschwister. Wir wurden
in der Mühle gern gesehen. Ich verschwand gar oft dahin. Denn
ich «studierte» mit Begeisterung den Mühlenbetrieb. Da
drang ich in das «Innere der Natur». Noch näher aber lag
eine Spinnfabrik. Die Rohmaterialien für diese kamen auf der
Bahnstation an; die fertigen Erzeugnisse gingen ab. Ich war
bei alledem dabei, was in die Fabrik verschwand, und was sich
wieder aus ihr offenbarte. Einen Blick «ins Innere» zu tun,
war streng verboten. Es kam nie dazu. Da waren die «Grenzen
der Erkenntnis». Und ich hätte diese Grenzen so gerne
überschritten. Denn fast jeden Tag kam der Direktor der
Fabrik in Geschäftssachen zu meinem Vater. Und dieser
Direktor war für mich Knaben ein Problem, das mir das
Geheimnis des «Innern» des Werkes wie mit einem Wunder
verhüllte. Er war an vielen Stellen seines Körpers mit
weissen Flocken bedeckt; er machte Augen, die von dem
Maschinenwerk eine gewisse Unbeweglichkeit bekommen hatten. Er
sprach rauh wie in einer mechanisierten Sprache. «Wie hängt
dieser Mann mit dem zusammen, was jene Mauern umschließen?»
Dies unlösbare Problem stand vor meiner Seele. Ich fragte
aber auch niemanden nach dem Geheimnis. Denn es war meine
Knabenmeinung, daß es nichts hilft, wenn man über eine Sache
fragt, die man nicht sehen kann. So lebte ich dahin zwischen
der freundlichen Mühle und der unfreundlichen Spinnfabrik.
TB 636 (I.),
S 12 f
Der brennende Zug
Einmal gab es
auf der Bahnstation etwas ganz «Erschütterndes». Ein
Eisenbahnzug mit Frachtgütern sauste heran. Mein Vater sah
ihm entgegen. Ein hinterer Wagen stand in Flammen. Das
Zugspersonal hatte nichts davon bemerkt. Der Zug kam bis zu
unserer Station brennend heran. Alles, was sich da abspielte,
machte einen tiefen Eindruck auf mich. In einem Wagen war
Feuer durch einen leicht entzündlichen Stoff entstanden.
Lange Zeit beschäftigte mich die Frage, wie dergleichen
geschehen kann. Was mir meine Umgebung darüber sagte, war,
wie in ähnlichen Dingen, für mich nicht befriedigend. Ich
war voller Fragen; und mußte diese unbeantwortet mit mir
herumtragen. So wurde ich acht Jahre alt. —
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1868
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Neudörfl
Als
ich im achten Lebensjahre stand, übersiedelte meine Familie nach
Neudörfl, einem kleinen ungarischen Dorfe. Das liegt unmittelbar
an der Grenze gegen Niederösterreich hin. Diese Grenze wird durch
den Laytha-Fluß gebildet. Die Bahnstation, die nun mein Vater zu
besorgen hatte, liegt an dem einen Ende des Dorfes. Man hatte eine
halbe Stunde bis zum Grenzfluß zu gehen. Nach einer weiteren halben
Stunde kam man nach Wiener-Neustadt.
Die
Alpengebirge, die ich in Pottschach ganz in der Nähe sah,
waren nun nur noch in der Ferne sichtbar. Aber sie standen
eben doch erinnerungweckend im Hintergrunde, wenn man auf die
kleineren Berge blickte, die in kurzer Zeit von dem neuen
Wohnorte meiner Familie zu erreichen waren. Mäßige
Erhebungen mit schönen Waldungen begrenzten den einen
Ausblick; der andere konnte über ebenes, mit Feld und Wald
bedecktes Land nach Ungarn hineinschweifen. Von den Bergen war
mir besonders der unbegrenzt lieb geworden, der in drei
Viertelstunden zu besteigen war. Er trug auf seinem Gipfel
eine Kapelle, in der ein Bildnis der hl. Rosalia war. Diese
Kapelle bildete den Endpunkt eines Spazierganges, den ich erst
oft mit meinen Eltern und Geschwistern und später gerne
allein machte. Solche Spaziergänge machten auch dadurch eine
besondere Freude, daß man in der entsprechenden Jahreszeit
mit reichlichen Gaben der Natur beschenkt zurückkehren
konnte. Denn in den Wäldern waren Brombeeren, Himbeeren,
Erdbeeren zu finden. Man konnte oft eine innige Befriedigung
daran haben, durch ein anderthalbstündiges Sammeln eine
schöne Zugabe zu dem Familienabendbrot hinzuzufügen, das
sonst für jeden nur aus einem Butterbrot oder einem Stück
Brot mit Käse bestand.
Noch anderes
Erfreuliches brachte das Herumstreifen in diesen Wäldern, die
Gemeindegut waren. Die Leute des Dorfes holten von dort ihren
Holzvorrat. Die Ärmeren sammelten ihn persönlich, die
Wohlhabenderen ließen ihn durch Knechte besorgen. Man lernte
sie alle kennen, diese meist gemütvollen Menschen. Denn sie
hatten stets Zeit zu plaudern, wenn der «Steiner-Rudolf» zu
ihnen hinzutrat. «Na du willst di a wieder a bissl dagehn,
Steiner-Rudolf», so fing es an, und dann wurde von allem
möglichen geredet. Die Leute achteten nicht darauf, daß sie
doch ein Kind vor sich hatten. Denn sie waren im Grunde in
ihrer Seele auch noch Kinder, auch wenn sie schon sechzig
Jahre zählten. Und so wußte ich aus diesen Erzählungen
eigentlich fast alles, was auch im Innern der Häuser dieses
Dorfes vor sich ging.
TB 636 (I.),
S 14
Sauerbrunn
Eine halbe
Stunde Fußweg von Neudörfl entfernt ist Sauerbrunn mit einer
Quelle von eisen- und kohlensäurehaltigem Wasser. Der Weg
dahin geht der Eisenbahnlinie entlang und teilweise durch
schöne Wälder. Wenn Schulferien waren, ging ich jeden Tag
ganz früh morgens dahin, beladen mit einem «Blutzer». Das
ist ein Wasserbehälter aus Ton. Der meinige faßte etwa drei
bis vier Liter. Den konnte man ohne Entgelt an der Quelle
füllen. Beim Mittag konnte dann die Familie das
wohlschmeckende perlende Wasser genießen.
TB 636 (I.),
S 15
Das
Redemptoristen-Kloster
Gegen
Wiener-Neustadt und weiter gegen die Steiermark zu fallen die
Berge in die Ebene ab. Durch diese schlängelt sich der
Laytha-Fluß hindurch. Am Bergabhange lag ein
Redemptoristen-Kloster. Den Mönchen begegnete ich oft auf
meinen Spaziergängen. Ich weiß noch, wie gerne ich von ihnen
wäre angesprochen worden. Sie taten es nie. Und so trug ich
von der Begegnung nur immer einen unbestimmten, aber
feierlichen Eindruck davon, der mir immer lange nachging. Es
war in meinem neunten Lebensjahre, da setzte sich in mir die
Idee fest: im Zusammenhange mit den Aufgaben dieser Mönche
müssen wichtige Dinge sein, die ich kennen lernen müsse.
Auch da war es wieder so, daß ich voller Fragen war, die ich
unbeantwortet mit mir herumtragen mußte. Ja, diese Fragen
über alles mögliche machten mich als Knaben recht einsam.
TB 636 (I.),
S 15
Pitten, Frohsdorf
und der Graf Chambord
An den
Alpen-Vorbergen waren die beiden Schlösser Pitten und
Frohsdorf sichtbar. In dem letztern wohnte zu jener Zeit der
Graf Chambord, der im Beginne der siebziger Jahre als Heinrich
der Fünfte hat König von Frankreich werden wollen. Es waren
starke Eindrücke, die ich von dem Stück Leben empfing, das
mit dem Schloß Frohsdorf verbunden war. Der Graf mit seinem
Gefolge fuhr des öfteren von der Bahnstation Neudörfl ab.
Alles an diesen Menschen zog meine Aufmerksamkeit an.
Besonders tiefen Eindruck machte ein Mann des gräflichen
Gefolges. Er hatte nur ein Ohr. Das andere war glatt
hinweggehauen. Die darüberliegenden Haare hatte er
geflochten. Ich erfuhr an diesem Anblick zum erstenmale, was
ein Duell ist. Denn der Mann hatte das eine Ohr bei einem
solchen eingebüßt.
Auch ein Stück
sozialen Lebens enthüllte sich mir im Zusammenhange mit
Frohsdorf. Der Hilfslehrer von Neudörfl, in dessen
Privatzimmerchen ich oft seinen Arbeiten zusehen durfte,
verfertigte unzählige Bettelgesuche für die ärmeren
Bewohner des Dorfes und der Umgegend an den Grafen Chambord.
Auf jedes solches Gesuch hin kam ein Gulden als Unterstützung
an, von dem der Lehrer für seine Mühe immer sechs Kreuzer
behalten durfte. Diese Einnahme brauchte er. Denn sein Amt
brachte ihm jährlich - achtundfünfzig Gulden ein. Dazu hatte
er Morgenkaffee und Mittagstisch beim «Schulmeister». Er gab
dann noch etwa zehn Kindern, unter denen auch ich war,
«Extrastunden». Dafür zahlte man monatlich einen Gulden.
TB 636 (I.),
S 15 f
Hilfslehrer
Heinrich Gangl und die Geometrie
Diesem
Hilfslehrer verdanke ich viel. Nicht, daß ich von seinem
Schulehalten viel gehabt hätte. Damit ging es mir nicht viel
anders als in Pottschach. Ich wurde sogleich nach der
Übersiedlung nach Neudörfl in die dortige Schule geschickt.
Sie bestand aus einem Schulzimmer, in dem fünf Klassen,
Knaben und Mädchen, zugleich unterrichtet wurden. Während
die Buben, die in meiner Bankreihe saßen, die Geschichte vom
König Arpad abschreiben mußten, standen die ganz kleinen an
einer Tafel, auf der ihnen das i und u mit Kreide
aufgezeichnet wurden. Es war schlechterdings unmöglich, etwas
anderes zu tun, als die Seele stumpf brüten zu lassen und das
Abschreiben mit den Händen fast mechanisch zu besorgen. Den
ganzen Unterricht hatte der Hilfslehrer fast allein zu
besorgen. Der «Schulmeister» erschien äußerst selten in
der Schule. Er war zugleich Dorfnotar; und man sagte, er habe
in diesem Amte so viel zu tun, daß er nie Schule halten
könne.
Und
trotz alledem habe ich verhältnismäßig früh gut lesen gelernt. Dadurch
konnte der Hilfslehrer mit etwas in mein Leben eingreifen, das für
mich richtunggebend geworden ist. Bald nach meinem Eintreten in
die Neudörfler Schule entdeckte ich in seinem Zimmer ein Geometriebuch.
Ich stand so gut mit diesem Lehrer, daß ich das Buch ohne weiteres
eine Weile zu meiner Benutzung haben konnte. Mit Enthusiasmus machte
ich mich darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von
der Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken;
ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die
Parallelen schneiden; der
pythagoreische Lehrsatz
bezauberte mich.
Daß man
seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter Formen
leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das
gereichte mir zur höchsten Befriedigung. Ich fand darin Trost
für die Stimmung, die sich mir durch die unbeantworteten
Fragen ergeben hatte. Rein im Geiste etwas erfassen zu
können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß, daß
ich an der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe.
In
meinem Verhältnisse zur Geometrie muß ich das erste Aufkeimen einer
Anschauung sehen, die sich allmählich bei mir entwickelt hat. Sie
lebte schon mehr oder weniger unbewußt in mir während der Kindheit
und nahm um das zwanzigste Lebensjahr herum eine bestimmte, vollbewußte
Gestalt an.
Ich sagte mir:
die Gegenstände und Vorgänge, welche die Sinne wahrnehmen,
sind im Raume. Aber ebenso wie dieser Raum außer dem Menschen
ist, so befindet sich im Innern eine Art Seelenraum, der der
Schauplatz geistiger Wesenheiten und Vorgänge ist. In den
Gedanken konnte ich nicht etwas sehen wie Bilder, die sich der
Mensch von den Dingen macht, sondern Offenbarungen einer
geistigen Welt auf diesem Seelen-Schauplatz. Als ein Wissen,
das scheinbar von dem Menschen selbst erzeugt wird, das aber
trotzdem eine von ihm ganz unabhängige Bedeutung hat,
erschien mir die Geometrie. Ich sagte mir als Kind natürlich
nicht deutlich, aber ich fühlte, so wie Geometrie muß man
das Wissen von der geistigen Welt in sich tragen.
Denn die
Wirklichkeit der geistigen Welt war mir so gewiß wie die der
sinnlichen. Ich hatte aber eine Art Rechtfertigung dieser
Annahme nötig. Ich wollte mir sagen können, das Erlebnis von
der geistigen Welt ist ebenso wenig eine Täuschung wie das
von der Sinnenwelt. Bei der Geometrie sagte ich mir, hier darf
man etwas wissen, was nur die Seele selbst durch ihre
eigene Kraft erlebt; in diesem Gefühle fand ich die
Rechtfertigung, von der geistigen Welt, die ich erlebte,
ebenso zu sprechen wie von der sinnlichen. Und ich sprach so
davon. Ich hatte zwei Vorstellungen, die zwar unbestimmt
waren, die aber schon vor meinem achten Lebensjahr in meinem
Seelenleben eine große Rolle spielten. Ich
unterschied Dinge und Wesenheiten, «die man sieht» und
solche, «die man nicht sieht».
Ich
erzähle diese Dinge wahrheitsgemäß, trotzdem die Leute, welche nach
Gründen suchen, um die Anthroposophie für phantastisch zu halten,
vielleicht daraus den Schluß ziehen werden, ich wäre eben als Kind
schon phantastisch veranlagt gewesen; kein Wunder, daß dann auch
eine phantastische Weltanschauung sich in mir ausbilden konnte.
Aber gerade
deshalb, weil ich weiß, wie wenig ich später meinen
persönlichen Neigungen in der Schilderung einer geistigen
Welt nachgegangen bin, sondern nur der inneren Notwendigkeit
der Sache, kann ich selbst ganz objektiv auf die kindlich
unbeholfene Art zurückblicken, wie ich mir durch die
Geometrie rechtfertigte, daß ich doch von einer Welt sprechen
mußte, «die man nicht sieht».
Nur das muß
ich auch sagen: ich lebte gerne in dieser Welt. Denn ich
hätte die Sinnenwelt wie eine geistige Finsternis um mich
empfinden müssen, wenn sie nicht Licht von dieser Seite
bekommen hätte.
Der Hilfslehrer
in Neudörfl lieferte mir mit seinem Geometriebuch die
Rechtfertigung der geistigen Welt, die ich damals brauchte.
Ich verdanke
ihm auch sonst sehr viel. Er brachte mir das künstlerische
Element. Er spielte Violine und Klavier. Und er zeichnete
viel. Beides zog mich stark zu ihm hin. Ich war, so viel es
nur sein konnte, bei ihm. Besonders das Zeichnen liebte er;
und er veranlaßte mich, schon im neunten Jahre mit
Kohlenstiften zu zeichnen. Ich mußte unter seiner Anleitung
auf diese Art Bilder kopieren. Lange saß ich zum Beispiel
über dem Kopieren eines Porträts des Grafen Szechenyi.
TB 636 (I.),
S 16 ff
Das Leben in Neudörfl
Seltener in
Neudörfl, aber oft in dem benachbarten Orte Sauerbrunn konnte
ich den tiefgehenden Eindruck der ungarischen Zigeunermusik
hören.
Das alles
spielte in eine Kindheit hinein, die in unmittelbarer Nähe
der Kirche und des Friedhofes verlebt wurde. Der Neudörfler
Bahnhof liegt wenige Schritte von der Kirche ab, und zwischen
beiden ist der Friedhof.
Ging man an dem
Friedhof entlang und dann eine kurze Strecke weiter, so kam
man in das eigentliche Dorf. Das bestand aus zwei
Häuserreihen. Die eine begann mit der Schule, die andere mit
dem Pfarrhof. Zwischen den beiden Häuserreihen floß ein
Bächlein, und an dessen Seiten waren stattliche Nußbäume.
An dem Verhältnis zu diesen Nußbäumen bildete sich eine
Rangordnung unter den Kindern der Schule aus. Wenn die Nüsse
anfingen, reif zu werden, so bewarfen die Buben und Mädchen
die Bäume mit Steinen und setzten sich auf diese Art in den
Besitz eines Wintervorrates von Nüssen. Im Herbste sprach
keiner von viel anderem als von der Größe seiner Ausbeute an
Nüssen. Wer am meisten erbeutet hatte, der war der
angesehenste. Und dann ging es stufenweise nach abwärts —
bis zu mir, dem letzten, der als «Fremder im Dorfe» kein
Recht hatte, an dieser Rangordnung teilzunehmen.
Beim Pfarrhof
stieß im rechten Winkel an die Haupt-Häuserreihen des
Dorfes, in denen die «großen Bauern» wohnten, eine Reihe
von etwa zwanzig Häusern, in deren Besitz die «mittleren»
Dorfeinwohner waren. Anstoßend an die Gärten, die zum
Bahnhof gehörten, war dann noch eine Gruppe von
Strohhäusern, der Besitz der «Kleinhäusler». Diese
bildeten die unmittelbare Nachbarschaft meiner Familie. Die
Wege vom Dorf aus führten nach den Feldern und Weinbergen,
deren Eigentümer die Dorfleute waren. Bei
Kleinhäusler-Leuten machte ich jedes Jahr die Weinlese und
einmal eine Dorfhochzeit mit.
TB 636 (I.),
S 19
Die
Beziehung zum Neudörfler Pfarrer Franz Maráz und zum katholischen
Kultus
Neben
dem Hilfslehrer liebte ich von den Persönlichkeiten, die an der
Schulleitung beteiligt waren, den Pfarrer. Er kam zweimal in der
Woche regelmäßig zur Erteilung des Religionsunterrichtes und auch
sonst öfter zur Inspektion in die Schule. Das Bild dieses Mannes
hat sich tief in meine Seele eingeprägt; und er trat durch mein
ganzes Leben hindurch immer wieder in meiner Erinnerung auf. Unter
den Menschen, die ich bis zu meinem zehnten, oder elften Jahre kennen
lernte, war er der weitaus bedeutendste. Er war energischer ungarischer
Patriot. An der damals im Gange befindlichen Magyarisierung des
ungarischen Gebietes nahm er lebhaften Anteil. Er schrieb aus dieser
Gesinnung heraus Aufsätze in ungarischer Sprache, die ich dadurch
kennen lernte, daß sie der Hilfslehrer ins Reine abschreiben mußte,
und dieser mit mir, trotz meiner Jugend, über den Inhalt immer sprach.
Der Pfarrer war aber auch ein tatkräftiger Arbeiter für die Kirche.
Das trat mir einmal recht eindringlich durch eine Predigt vor die
Seele.
In
Neudörfl war nämlich auch eine Freimaurerloge.
Sie war vor den Dorfbewohnern in Geheimnis gehüllt, und von ihnen
mit den allersonderbarsten Legenden umwoben worden. Die leitende
Rolle in dieser Freimaurerloge hatte der Direktor einer am Ende
des Dorfes gelegenen Zündwarenfabrik inne. Neben ihm kamen unter
den Persönlichkeiten, die in unmittelbarer Nähe daran beteiligt
waren, nur noch ein anderer Fabrikdirektor und ein Kleiderhändler
in Betracht. Sonst merkte man die Bedeutung der Loge nur an der
Tatsache, daß von Zeit zu Zeit «weither» fremde Gäste kamen, die
den Dorfbewohnern im hohen Grade unheimlich vorkamen. Der Kleiderhändler
war eine merkwürdige Persönlichkeit. Er ging stets mit gesenktem
Kopfe, wie in Gedanken versunken. Man nannte ihn den «Simulierer»,
und man hatte durch seine Sonderbarkeit weder die Möglichkeit, noch
das Bedürfnis, an ihn heranzukommen. Zu seinem Hause gehörte die
Freimaurerloge.
Ich konnte kein
Verhältnis zu dieser Loge gewinnen. Denn nach der ganzen Art,
wie sich die Menschen meiner Umgebung in dieser Hinsicht
benahmen, mußte ich es auch da aufgeben, Fragen zu stellen;
und dann wirkten die ganz abgeschmackten Reden, die der
Zündwarenfabrikbesitzer über die Kirche führte, auf mich
abstoßend.
Der
Pfarrer hielt nun eines Sonntags in seiner energischen Art
eine Predigt, in der er die
Bedeutung der wahren Sittlichkeit für das menschliche Leben
auseinandersetzte und dann von den Feinden der Wahrheit in
Bildern sprach, die von der Loge hergenommen waren. Dann ließ
er seine Rede gipfeln in dem Satze: «Geliebte Christen,
merket wer ein Feind dieser Wahrheit ist, zum Beispiel ein
Freimaurer und ein Jude.» Für die Dorfleute waren damit der
Fabrikbesitzer und der Kleiderhändler autoritativ
gekennzeichnet. Die Tatkraft, mit der dies gesprochen wurde,
gefiel mir ganz besonders.
Auch
diesem Pfarrer verdanke ich besonders durch einen starken
Eindruck außerordentlich viel für meine spätere Geistesorientierung.
Er kam einmal in die Schule, versammelte die «reiferen» Schüler,
zu denen er mich rechnete, in dem kleinen Lehrerstübchen um sich,
entfaltete eine Zeichnung, die er gemacht hatte, und erklärte uns
an ihr das kopernikanische
Weltsystem.
Er sprach dabei sehr anschaulich über die Erdbewegung um die Sonne,
über die Achsendrehung, die schiefe Lage der Erdachse und über Sommer
und Winter, sowie über die Zonen der Erde. Ich war ganz von der
Sache hingenommen, zeichnete tagelang sie nach, bekam dann von dem
Pfarrer noch eine Spezialunterweisung über Sonnen- und Mondfinsternisse
und richtete damals und weiter alle meine Wißbegierde auf diesen
Gegenstand.
Ich war damals
etwa zehn Jahre alt und konnte noch nicht orthographisch und
grammatikalisch richtig schreiben.
Von
tiefgehender Bedeutung für mein Knabenleben war die Nähe der
Kirche und des um sie liegenden Friedhofes. Alles, was in der
Dorfschule geschah, entwickelte sich im Zusammenhange damit.
Das war nicht nur durch die in jener Gegend damals
herrschenden sozialen und staatlichen Verhältnisse bewirkt,
sondern vor allem dadurch, daß der Pfarrer eine bedeutende
Persönlichkeit war. Der Hilfslehrer war zugleich Orgelspieler
der Kirche, Kustos der Meßgewänder und der anderen
Kirchengeräte; er leistete dem Pfarrer alle Hilfsdienste in
der Versorgung des Kultus. Wir Schulknaben hatten den
Ministranten- und Chordienst zu verrichten bei Messen,
Totenfeiern und Leichenbegängnissen. Das Feierliche der
lateinischen Sprache und des Kultus war ein Element, in dem
meine Knabenseele gerne lebte. Ich war dadurch, daß ich an
diesem Kirchendienste bis zu meinem zehnten Jahre intensiv
teilnahm, oft in der Umgebung des von mir so geschätzten
Pfarrers.
In meinem
Elternhause fand ich in dieser meiner Beziehung zur Kirche
keine Anregung. Mein Vater nahm daran keinen Anteil. Er war
damals «Freigeist». Er ging nie in die Kirche, mit der ich
so verwachsen war; und trotzdem ja auch er während seiner
Knaben- und Jünglingsjahre einer solchen ergeben und
dienstbar war. Das änderte sich bei ihm erst wieder, als er
als alter Mann, in Pension, nach Horn, seiner Heimatgegend,
zurückzog. Da wurde er wieder ein «frommer Mann». Nur war
ich damals längst außer allem Zusammenhang mit dem
Elternhause.
Mir steht von
meiner Neudörfler Knabenzeit stark dieses vor der Seele, wie
die Anschauung des Kultus in Verbindung mit der musikalischen
Opferfeierlichkeit vor dem Geiste in stark suggestiver Art die
Rätselfragen des Daseins aufsteigen läßt. Der Bibel- und
Katechismus-Unterricht, den der Pfarrer erteilte, war weit
weniger wirksam innerhalb meiner Seelenwelt als das, was er
als Ausübender des Kultus tat in Vermittelung zwischen der
sinnlichen und der übersinnlichen Welt. Von Anfang an war mir
das alles nicht eine bloße Form, sondern tiefgehendes
Erlebnis. Das war um so mehr der Fall, als ich damit im
Elternhause ein Fremdling war. Mein Gemüt verließ das Leben,
das ich mit dem Kultus aufgenommen hatte, auch nicht bei dem,
was ich in meiner häuslichen Umgebung erlebte. Ich lebte ohne
Anteil an dieser Umgebung. Ich sah sie; aber ich dachte, sann
und empfand eigentlich fortwährend mit jener anderen Welt.
Dabei darf ich aber durchaus sagen, daß ich kein Träumer
war, sondern mich in alle lebenspraktischen Verrichtungen wie
selbstverständlich hineinfand.
TB 636 (I.),
S 19 ff
Politik
Einen völligen
Gegensatz zu dieser meiner Welt bildete auch das Politisieren
meines Vaters. Er wurde von einem andern Beamten im
Dienstturnus abgelöst. Dieser wohnte auf einer anderen
Eisenbahnstation, die er mitversorgte. Er traf in Neudörfl
nur alle zwei oder drei Tage ein. In den unbeschäftigten
Abendstunden politisierten mein Vater und er. Es geschah das
an dem Tisch, der neben dem Bahnhof unter zwei mächtigen,
wundervollen Lindenbäumen stand. Da waren die ganze Familie
und der fremde Beamte versammelt. Die Mutter strickte oder
häkelte; meine Geschwister tummelten sich; ich saß oft an
dem Tisch und hörte dem unaufhörlichen Politisieren der
beiden Männer zu. Mein Anteil bezog sich aber nie auf den
Inhalt dessen, was sie sprachen, sondern auf die Form, welche
das Gespräch annahm. Sie waren immer uneinig; wenn der eine
«Ja» sagte, erwiderte der andere «Nein». Alles das aber
spielte sich immer zwar im Zeichen der Heftigkeit, ja
Leidenschaftlichkeit ab, aber auch in dem der Gutmütigkeit,
die ein Grundzug im Wesen meines Vaters war.
TB 636 (I.),
S 22 f
Der
Wiener Neustädter Arzt Carl Hickel
In dem kleinen
Kreise, der da öfter versammelt war, und in dem sich oft
«Honoratioren» des Ortes einfanden, erschien zuweilen ein
Arzt aus Wiener-Neustadt. Er behandelte viele Kranke des
Ortes, in dem damals kein Arzt war. Er machte den Weg von
Wiener-Neustadt nach Neudörfl zu Fuß, und kam dann, nachdem
er bei seinen Kranken war, nach dem Bahnhof, um den Zug
abzuwarten, mit dem er zurückkehrte. Dieser Mann galt in
meinem Elternhause und bei den meisten Leuten, die ihn
kannten, als ein Sonderling. Er sprach nicht gerne von seinem
medizinischen Berufe, aber um so lieber von deutscher
Literatur. Von ihm habe ich zuerst über Lessing, Goethe,
Schiller sprechen gehört. In meinem Elternhause war davon nie
die Rede. Man wußte davon nichts. Auch in der Dorfschule kam
davon nichts vor. Es war da alles auf ungarische Geschichte
eingestellt. Pfarrer und Hilfslehrer hatten kein Interesse
für die Größen der deutschen Literatur. Und so kam es, daß
mit dem Wiener-Neustädtler Arzt eine ganz neue Welt in meinen
Gesichtskreis einzog. Der beschäftigte sich gerne mit mir,
nahm mich oft, nachdem er kurze Zeit unter den Linden
ausgeruht hatte, beiseite, ging mit mir auf dem Bahnhofplatze
auf und ab und sprach, nicht in dozierender, aber
enthusiastischer Art von deutscher Literatur. Er entwickelte
dabei allerlei Ideen über dasjenige, was schön, was
häßlich ist.
Es ist
mir auch dies ein Bild geblieben, das in meinem ganzen Leben
in meiner Erinnerung Festesstunden feierte: der
hochgewachsene, schlanke Arzt, mit seinem kühn
ausschreitenden Gange, stets mit dem Regenschirm in der
rechten Hand, den er so hielt,
daß er neben dem Oberkörper schlenkerte, an der einen Seite,
und ich zehnjähriger Knabe, an der andern Seite, ganz
hingegeben dem, was der Mann sagte.
TB 636 (I.),
S 23 ff
Interessen und
Fähigkeiten
Neben alledem
beschäftigten mich die Einrichtungen der Eisenbahn stark. Am
Stationstelegraphen lernte ich die Gesetze der
Elektrizitätslehre zunächst in der Anschauung kennen. Auch
das Telegraphieren lernte ich schon als Knabe.
In
der Sprache bin ich ganz aus dem deutschen Dialekt
herausgewachsen, der in dem östlichen Niederösterreich
gesprochen wird. Der war im wesentlichen auch derjenige, der
damals noch in den an Niederösterreich angrenzenden Gegenden
Ungarns üblich war. Mein Verhältnis war ein ganz anderes zum
Lesen als zum Schreiben. Ich las in meiner Knabenzeit über
die Worte hinweg; ging mit der Seele unmittelbar auf
Anschauungen, Begriffe und Ideen, so daß ich vom Lesen gar
nichts für die Entwickelung des Sinnes für orthographisches
und grammatikalisches Schreiben hatte. Dagegen hatte ich beim
Schreiben den Drang, genau die Wortbilder so in Lauten
festzuhalten, wie ich sie als Dialektworte zumeist hörte.
Dadurch bekam ich nur unter den größten Schwierigkeiten
einen Zugang zum Schreiben der Schriftsprache; während mir
deren Lesen vom Anfange an ganz leicht war.
Unter solchen
Einflüssen wuchs ich heran zu dem Lebensalter, in dem für
meinen Vater die Frage zu lösen war, ob er mich in das
Gymnasium oder die Realschule in Wiener-Neustadt geben solle.
Von da ab hörte ich zwischen der Politik viel mit ändern
über mein künftiges Lebensschicksal sprechen. Da wurde
meinem Vater dieser oder jener Rat gegeben; ich wußte schon
damals: er hört gerne, was die ändern sagen; aber er handelt
nach seinem eigenen, fest empfundenen Willen.
TB 636 (I.),
S 24 ff
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