Einleitung
Es ist meine ganz
ehrliche Überzeugung, daß es im Grunde genommen eine arge
Zumutung ist, vor einer solchen Versammlung das vorzubringen,
was ich nun werde darzustellen haben. Sie können wirklich
überzeugt sein, daß ich, dieses fühlend, nur aus dem Grunde
zu dieser Schilderung meine Zuflucht nehme, weil in der letzten
Zeit Dinge zutage getreten sind, die gewissermaßen unserer
Sache wegen die Zurückweisung von Verdächtigungen und
Entstellungen zur Pflicht machen.
Ich werde mich
bemühen, so objektiv wie möglich das darzustellen, was
darzustellen ist, und ich werde mich bemühen — da ich ja
selbstverständlich nicht alles vorbringen kann —, das, was
ich vorbringe, subjektiv höchstens insoweit zu beeinflussen,
als die Auswahl des Vorzubringenden in Betracht kommt. Hierbei
soll mich der Grundsatz leiten, das zu erwähnen, was auf meine
ganze Geistesrichtung irgendwie von Einfluß gedacht werden
kann. Betrachten Sie die Art, wie ich versuchen werde
darzustellen, nicht als eine Koketterie, sondern als etwas, was
mir in vielen Punkten doch als die natürliche Form erscheinen
muß.
Wenn
sich jemand zu einem ganz modernen Leben, zu einem Leben in den
modernsten Errungenschaften der gegenwärtigen Zeit hätte anschicken
wollen und sich dazu hätte aussuchen wollen die entsprechenden
Daseinsbedingungen der gegenwärtigen Inkarnation, so, scheint
mir, hätte er in bezug auf seine gegenwärtige Inkarnation diejenige
Wahl treffen müssen, die Rudolf Steiner getroffen hat. Denn er
war von allem Anfange an eigentlich umgeben von den allermodernsten
Kulturerrungenschaften, war umgeben von der ersten Stunde seines
physischen Daseins an vom Eisenbahn- und Telegraphenwesen. Geboren
ist er am 27. Februar 1861 in
Kraljevec, das jetzt zu Ungarn gehört. Er hat nur
die ersten anderthalb Jahre an diesem Orte, der auf der sogenannten
Mur-Insel liegt, zugebracht, dann ein halbes Jahr in einem Orte
[Mödling]
in der Nähe von Wien und dann eine ganze Anzahl von Knabenjahren
in einem Orte [Pottschach]
an der Grenze von Niederösterreich und Steiermark, mitten
drinnen in jenen österreichisch-steiermärkischen Verhältnissen
einer Gebirgsgegend, die einen gewissen tiefergehenden Eindruck
machen können auf das Gemüt eines Kindes, das für solche Sachen
empfänglich ist.
Sein Vater war
ein kleiner Beamter der österreichischen Südbahn. Die Familie
hatte immerhin zu tun mit denjenigen Verhältnissen, die nach
Lage der Sache dazumal nicht anders charakterisiert werden
können als ein «Ankämpfen gegen die schlechte Bezahlung
solcher kleiner Eisenbahnbeamter». Die Eltern haben — das
muß ausdrücklich hervorgehoben werden, damit nicht ein
Mißverständnis entsteht — stets die Bereitschaft gezeigt,
ihre letzten Kreuzer für das hinzugeben, was dem Wohle ihrer
Kinder entsprach; aber es waren nicht sehr viele solcher letzter
Kreuzer vorhanden.
Was
der Knabe — man könnte sagen — stündlich sah, waren auf der einen
Seite die hereinblauenden, oftmals in so schönem Sonnenschein
erstrahlenden, oftmals von den herrlichsten Schneefeldern bedeckten
steirisch-österreichischen Berge. Auf der anderen Seite waren
da zum Erfreuen des Gemütes die Vegetations- und sonstigen Naturverhältnisse
einer solchen Gegend, die dort, als am Fuße des österreichischen
Schneeberges und des Sonnwendsteins gelegen, vielleicht zu den
schönsten Flecken des österreichischen Landes gehören. Das war
einerseits dasjenige, woraus man die Nuancen der Eindrücke bestimmen
kann, die an den Knaben herankamen. Das andere war, daß stündlich
der Blick gerichtet sein konnte eben auf die modernsten Kulturverhältnisse
und -errungenschaften: auf die Eisenbahn, mit deren Bedienung
ja sein Vater zu tun hatte, und auf das, was dazumal schon die
Telegraphie im modernen Verkehr hat leisten können. Man möchte
sagen, daß dasjenige, was da an den Knaben herantrat, ganz und
gar nicht moderne Stadtverhältnisse waren. Denn der Ort, zu dem
der Bahnhof gehörte, wo er aufwuchs, war ein sehr kleiner Ort
und bot nur insofern moderne Eindrücke, als zu dem Orte eine Spinnfabrik
gehörte, so daß man fortwährend einen recht modernen Industriezweig
vor Augen hatte.
Diese
Verhältnisse müssen alle erwähnt werden, weil sie
tatsächlich bildend und die Kräfte der Seele fördernd auf den
Knaben einwirkten. Stadtverhältnisse waren sie wirklich
durchaus nicht; aber der Schatten der Stadtverhältnisse kam in
diesen abgelegenen Ort herein. Denn es war nicht nur — mit all
den Wirkungen, die so etwas hat — eine der kunstvoll
angelegten Gebirgsbahnen in unmittelbarer Nähe, die
Semmeringbahn, sondern es waren auch in der Nähe die Quellen,
aus welchen gerade in der damaligen Zeit die Wasser der Wiener
Hochquellenwasserleitung entnommen wurden. Außerdem war die
ganze nähere Umgebung viel von Leuten aufgesucht, die ihren
Sommeraufenthalt von Wien und anderen österreichischen Städten
aus in dieser Gebirgsgegend verleben wollten. Aber man muß sich
dabei vorstellen, daß in den sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts solche Orte noch nicht so übersät waren mit
Sommerfrischlern, wie es in späteren Zeiten der Fall war, und
daß man auch als Kind in gewisse persönliche Beziehungen trat
zu den Leuten, die solche Sommerfrischen aufsuchten, so daß man
dadurch eine Art intimen Verhältnisses gewann zu dem, was in
der Stadt vorging. Wie der Schatten der Stadt erstreckte sich
das, was sich da zeigte, in diese kleine Ortschaft hinein.
Der Pfarrer in
Pottschach
Was noch in
Betracht kam — wer sich ein wenig psychologischen Blick
angeeignet hat, wird schon sehen, daß so etwas doch in Betracht
kommen kann —, waren gewisse Eindrücke, von denen man nichts
anderes sagen kann, als daß sie die Auflösung von
althergebrachten religiösen Verhältnissen im engsten Kreise
einer kleinen Ortschaft zeigten. Es gab in dem Orte selber, in
dem der Knabe heranwuchs, einen Pfarrer.
Erwähnen möchte ich
nur, daß ich selbstverständlich alle Namen und dergleichen weglasse,
deren Nennung irgendwelchen Anstoß erregen oder auch nur verletzen
könnte, da man es bei einer solchen Darstellung oft mit Leuten
zu tun hat, die selbst oder deren Nachkommen noch leben; das soll
also vermieden werden — trotz des Bestrebens, in der genauesten
Weise darzustellen. In diesem Orte hatte man es also zu tun mit
einem Pfarrer, der auf unsere Familie keinen anderen Einfluß nahm,
als daß er meine Geschwister taufte; mich selber hat er nicht
mehr zu taufen brauchen, da ich schon in Kraljevec getauft worden
war. Im übrigen galt er auf dem Bahnhof, wo der Knabe, von dem
ich zu erzählen habe, heranwuchs, bei den Bewohnern und allen
denen zum Beispiel, die von der unmittelbar benachbarten Spinnfabrik
fast bei jedem Zug anwesend waren (da das Ankommen eines Zuges
ein großes Ereignis war), als eine recht komische Figur. Und der
Knabe hörte in einer nicht gerade respektvollen Weise den betreffenden
Pfarrer nicht anders nennen als «unseren Pfarrernazi».
Dagegen gab es im Nachbarorte einen anderen Pfarrer; der kam oftmals
in unser Haus. Dieser andere Pfarrer war aber gründlich zerfallen
erstens mit dem Pfarrernazi und zweitens mit allen Berufsverhältnissen,
in denen er stand. Und wenn jemand schon in der allerersten Kindheit,
die Rudolf Steiner zu verleben hatte, vor dem Ohr des Knaben die
losesten Worte gebrauchte über alles, was damals auch schon als
Jesuitismus bezeichnet worden ist, — wenn jemand die losesten
Worte gebrauchte in Gegenwart des vier- bis fünfjährigen Knaben
über die kirchlichen Verhältnisse, so war es jener Pfarrer, der
sich als ein entschieden Liberaler fühlte und den man in unserem
Hause liebte wegen seiner selbstverständlichen Freigeistigkeit.
Es machte damals dem Knaben einen außerordentlichen Spaß, was
er einmal von jenem Pfarrer hörte. Es war ihm der Besuch des Bischofs
angesagt worden. In einem solchen Falle werden sonst in so kleinen
Ortschaften große Vorbereitungen getroffen. Unserem freigeistigen
Pfarrer aber war es passiert, daß man ihn aus dem Bette holen
mußte, indem man ihm sagte: er solle schnell aufstehen, denn der
Bischof stünde schon in der Kirche. Kurz, es waren Verhältnisse,
denen gegenüber es unmöglich war, daß sich etwas anderes entwickelte
als das, was vielleicht nur Österreicher kennen: eine gewisse
Selbstverständlichkeit gegenüber den Verhältnissen der religiösen
Tradition, eine selbstverständliche Gleichgültigkeit. Man kümmerte
sich sozusagen nicht darum und nahm ein kulturhistorisches Interesse
an einer so originellen Persönlichkeit, wie der ebengenannte Pfarrer
war, der zum Bischof zu spät kam. Man wußte gar nicht, warum er
eigentlich Pfarrer war. Denn von allem, was sonst einen Pfarrer
interessiert, sprach er nie; dagegen sprach er sehr häufig davon,
welche Knödel ihm besonders gut schmeckten und was er sonst alles
erlebte. Er zog oft ganz gewichtig los über seine Behörden und
erzählte, was er da alles auszuhalten hätte. Aber irgendeine Anleitung
zum Zelotismus konnte von diesem «Herrn Pfarrer» ganz gewiß nicht
kommen.
Kurz
nur wurde von dem Knaben die dortige Ortsschule besucht. Aus Gründen,
die einfach in einem persönlichen Zwist des Vaters des Knaben
mit dem Schullehrer lagen, wurde der Knabe sehr bald aus der Dorfschule
herausgenommen und bekam dann zwischen den Zeiten, wo die Züge
verkehrten, in der Stationskanzlei von dem Vater einigen Unterricht.
Dann wurde der
Vater des betreffenden Knaben, als dieser acht bis neun Jahre
alt war, an eine andere Bahnstation [Neudörfl] versetzt,
die an der Grenze liegt zwischen — wie man in Österreich sagt
— «Cisleithanien» und «Transleithanien», zwischen den
österreichischen und ungarischen Ländern, doch war die Station
schon nach Ungarn hinüber gelegen. Bevor aber von dieser
Versetzung gesprochen werden kann, muß noch etwas erwähnt
werden, was von einer außerordentlichen Bedeutung und
Wichtigkeit für das Leben des Knaben Rudolf Steiner war.
Der Knabe war in
einer gewissen Beziehung für seine Angehörigen ein unbequemer
Knabe, schon deshalb, weil er einen gewissen Freiheitssinn im
Leibe hatte, und wenn etwas von ihm gefordert wurde, womit er
nicht ganz übereinstimmen konnte, dann wollte er sich dieser
Forderung gern entziehen. Er entzog sich zum Beispiel der
Forderung, Leute zu grüßen oder mit ihnen zu sprechen, die zu
den Vorgesetzten seines Vaters gehörten und die auch als
Sommerfrischler an dem betreffenden Orte waren. Er verkroch sich
dann und wollte nichts wissen von einer Untertänigkeit, die so
natürlich ist und gegen die nichts eingewendet werden soll. Nur
als Eigentümlichkeit soll hervorgehoben werden, daß er nichts
davon wissen wollte und sich dann oft in den kleinen Wartesaal
zurückzog, wo er versuchte, in sonderbare Geheimnisse
einzudringen. Diese waren in einem Bilderbuch enthalten, das
bewegliche Figuren hatte, wo man unten an Fäden zog. Es
enthielt die Geschichte einer Persönlichkeit, die für
Österreich — besonders für Wien — eine gewisse Bedeutung
hatte: die Persönlichkeit des «Staberl». Sie war so etwas
Ähnliches geworden — allerdings mit lokaler Färbung — wie
ein Mittelding zwischen einem Kasperl und einem Eulenspiegel.
Erste
geistige Erfahrungen
Aber auch noch
etwas anderes bot sich dem Knaben. Da saß er eines Tages in
jenem Wartesaale ganz allein auf einer Bank. In der einen Ecke
war der Ofen, an einer vom Ofen abgelegenen Wand war eine Tür;
in der Ecke, von welcher aus man zur Tür und zum Ofen schauen
konnte, saß der Knabe. Der war dazumal noch sehr jung. Und als
er so dasaß, tat sich die Tür auf; er mußte es natürlich
finden, daß eine Persönlichkeit, eine Frauenspersönlichkeit,
zur Türe hereintrat, die er früher nie gesehen hatte, die aber
einem Familiengliede außerordentlich ähnlich sah. Die
Frauenspersönlichkeit trat zur Türe herein, ging bis in die
Mitte der Stube, machte Gebärden und sprach auch Worte, die
etwa in der folgenden Weise wiedergegeben werden können:
«Versuche jetzt und später, so viel du kannst, für mich zu
tun!» Dann war sie noch eine Weile anwesend unter Gebärden,
die nicht mehr aus der Seele verschwinden können, wenn man sie
gesehen hat, ging zum Ofen hin und verschwand
in den Ofen hinein. Der Eindruck war ein sehr großer, der auf
den Knaben durch dieses Ereignis gemacht worden war. Der Knabe
hatte niemanden in der Familie, zu dem er von so etwas hätte
sprechen können, und zwar aus dem Grunde, weil er schon dazumal
die herbsten Worte über seinen dummen Aberglauben hätte hören
müssen, wenn er von diesem Ereignis Mitteilung gemacht hätte.
— Es stellte sich nach diesem Ereignis nun folgendes ein. Der
Vater, der sonst ein ganz heiterer Mann war, wurde nach jenem
Tage recht traurig, und der Knabe konnte sehen, daß der Vater
etwas nicht sagen wollte, was er wußte. Nachdem nun einige Tage
vergangen waren und ein anderes Familienglied in der
entsprechenden Weise vorbereitet worden war, stellte sich doch
heraus, was geschehen war. An einem Orte, der für die Denkweise
der Leute, um die es sich da handelt, recht weit von jenem
Bahnhofe entfernt war, hatte sich in derselben Stunde, in
welcher im Wartesaale dem kleinen Knaben die Gestalt erschienen
war, ein sehr nahestehendes Familienglied selbst den Tod
gegeben. Dieses Familienglied hatte der Knabe nie gesehen; er
hatte auch nie sonderlich viel von ihm gehört, weil er
eigentlich in einer gewissen Beziehung — das muß auch
hervorgehoben werden — für die Erzählungen der Umgebung
etwas unzugänglich war. Sie gingen bei dem einen Ohr hinein,
bei dem anderen wieder hinaus, — und er hatte eigentlich nicht
viel von den Dingen gehört, die gesprochen worden sind. So
wußte er auch nicht viel von jener Persönlichkeit, die sich da
selbst gemordet hatte. Das Ereignis machte einen
großen Eindruck, denn es ist jeder Zweifel darüber
ausgeschlossen, daß es sich gehandelt hat um einen Besuch des
Geistes der selbstgemordeten Persönlichkeit, die an den Knaben
herangetreten war, um ihm aufzuerlegen, etwas für sie in der
nächsten Zeit nach dem Tode zu tun. Außerdem traten ja die
Zusammenhänge dieses geistigen Ereignisses mit dem physischen
Plan, wie soeben erzählt worden ist, in den folgenden Tagen
gleich stark zutage.
Nun, wer so etwas
in seiner frühen Kindheit erlebt und es nach seiner
Seelenanlage zu verstehen suchen muß, der weiß von einem
solchen Ereignisse an — wenn er es eben mit Bewußtsein erlebt
—, wie man' in den geistigen Welten lebt. Und da nur an den
unmittelbar notwendigen Punkten das Hereinleuchten der geistigen
Welten besprochen werden soll, so soll hier gleich angedeutet
werden, daß von jenem Ereignisse ab für den Knaben ein Leben
in der Seele anfing, welchem sich durchaus diejenigen Welten
offenbarten, aus denen nicht nur die äußeren Bäume, die
äußeren Berge zu der Seele des Menschen sprechen, sondern auch
jene Welten, die hinter diesen sind. Und der Knabe lebte etwa
von jenem Zeitpunkte ab mit den Geistern der Natur, die ja in
einer solchen Gegend ganz besonders zu beobachten sind, mit den
schaffenden Wesenheiten hinter den Dingen, in derselben Weise,
wie er die äußere Welt auf sich wirken ließ.
Nach
der schon erwähnten Versetzung des Vaters an den an der Grenze
von Österreich und Ungarn, aber noch in Ungarn gelegenen Ort
kam der Knabe in die Bauernschule jenes Ortes. Es war eine Bauernschule
nach alter Einrichtung, wie sie damals bestanden, wo Knaben
und Mädchen ganz selbstverständlich noch untereinander waren.
Was in dieser Bauernschule gelernt werden konnte, das wirkte
noch nicht einmal, trotzdem es natürlich nicht besonders viel
war, mit der vollen Intensität auf den Knaben, von dem die Rede
ist, aus dem einfachen Grunde, weil der ausgezeichnete Lehrer
dieser Bauernschule — in seiner Art «ausgezeichnet» innerhalb
der Grenzen, in denen das möglich ist — eine besondere Vorliebe
für das Zeichnen hatte. Und da der Knabe ziemlich früh die Anlage
zum Zeichnen zeigte, so nahm einfach jener Lehrer den Knaben
während der Zeit, wo den anderen Schülern gezeigt wurde, wie
man lesen und schreiben lernt, aus dem Schulzimmer heraus, führte
ihn in seine kleine Stube, — und der Knabe mußte immer zeichnen,
so daß er es verhältnismäßig bald dazu gebracht hatte, ganz
nett eine der bedeutendsten politischen Persönlichkeiten Ungarns
zu zeichnen, nämlich den Grafen Szechenyi.
In jenem Orte
lebte selbstverständlich auch ein Pfarrer. Aber von dem
Pfarrer, der da jede Woche in jene Bauernschule kam, lernte der
Knabe in bezug auf das Religiöse auch nicht sonderlich viel.
Man kann nur sagen: weil ihn die Sache nicht besonders
interessierte. Im Elternhause wurde nicht viel von religiösen
Dingen gesprochen, und ein besonderes Interesse war dafür nicht
vorhanden. Dagegen kam der Pfarrer einmal in die Schule mit
einer kleinen Zeichnung, die er gemacht hatte; es war das
kopernikanische Weltsystem. Das setzte er einigen Knaben und
Mädchen, bei denen er besonderes Verständnis dafür annahm,
auseinander, so daß der Knabe, der von dem Pfarrer nichts in
der Religion lernen konnte, durch ihn das kopernikanische
Weltsystem ganz gut verstanden hat.
Der Ort, wo dies
alles geschah, war ein sehr eigentümlicher Ort, weil da
wiederum sozusagen hereinschauten gewichtige politische und
kulturelle Verhältnisse. Es war damals gerade die Zeit, als die
Ungarn anfingen zu magyarisieren und wo besonders in solchen
Grenzgegenden sich vieles abspielte, was den Zusammenprall
zwischen verschiedenen Völkerschaften ergab, besonders zwischen
den magyarischen und deutschen Völkerschaften. Außerordentlich
vieles lernte man noch kennen an bedeutsamen
Kulturverhältnissen, ohne daß man damals alles rubrizierte,
— so daß auch da der Knabe mit den modernsten Verhältnissen
bekannt wurde.
Was nun
mißverstanden worden ist, das ist, daß der Knabe, wie die
anderen Schulbuben des Ortes — eine ganz kurze Zeit war das
zwar nur der Fall — in der Dorfkirche Ministrantendienste
leisten mußte. Es wurde da einfach gesagt: der und der haben
heute die Glocken zu läuten und sich die Ministrantenkleider
anzuziehen und Ministrantendienste zu tun. Es war das gar nicht
so sehr lange geschehen, da bestand der Vater des Knaben — und
zwar aus sehr merkwürdigen Gründen — darauf, daß diese
Ministrantendienste nicht zu lange ausgedehnt werden sollten.
Der Knabe konnte, aus gewissen Verhältnissen heraus, ab und zu
es nicht vermeiden, daß er zu spät kam, und der Vater wollte
nicht, daß sein Junge ebensolche Schläge bekäme wie die
anderen Jungen, wenn sie zu spät zum Glockenläuten kamen. Da
brachte er es denn dahin, daß seinem Sohne dieses Amt wieder
entzogen wurde.
Noch in
anderer Beziehung waren die damaligen Verhältnisse ganz
interessant. Der Pfarrer, der eigentlich nicht besonders tief
mit seinem Amt verbunden war, aber dies nicht — wie jener
andere Pfarrer, von dem ich vorhin erzählt habe — merken
ließ, war ein außerordentlich enragierter magyarischer
Patriot, und es schien ihm Pflicht — das konnte auch der Knabe
schon durchschauen —, sich gegen etwas zu wenden, was an
diesem Orte damals aufkam und was gerade zeigt, wie man als
Knabe auch dort kulturhistorische Verhältnisse recht gut
studieren konnte. Es war nämlich ein heftiger Kampf
ausgebrochen zwischen dem Pfarrer und der Freimaurerloge, die an
jenem Orte war, der als Grenzort schon in Ungarn lag. Solche
Grenzorte wurden von den Logen gern ausgesucht. Es wurde von den
dortigen Freimaurern, neben dem Berechtigten, das Unglaublichste
aufgebracht als Anklagen gegen die Kirche. Und wenn man bekannt
werden wollte mit dem, was — auch in berechtigter Weise —
gegen die klerikalen Verhältnisse vorgebracht werden konnte, so
hatte man dazu genügend Gelegenheit, trotzdem man vielleicht
noch nicht eine gewisse Jugend überschritten hatte. Manche
Dinge, die nicht gerade dazu
beitragen, in einem Knaben einen besonderen Respekt vor der
Kirche zu erwecken, sollen doch hier erwähnt werden. Es trug
nämlich nicht gerade zur Erhöhung der Ehrfurcht vor den
kirchlichen Traditionen bei, daß der Knabe folgendes ansehen
mußte. Es war da ein Bauernsohn des betreffenden Ortes, der es
dahin gebracht hatte, Geistlicher zu werden, worauf ja die
Bauern besonders stolz sind. Er war Zisterzienser geworden, was
der Knabe nicht miterlebt hatte, aber er sah, was sich nun
abspielte. Damals war eine große Feier veranstaltet worden,
denn der ganze Ort war stolz darauf, daß es ein Bauernsohn so
weit gebracht hatte. Es waren fünf bis sechs Jahre
dahingegangen, der betreffende Geistliche hatte eine Pfarre
bekommen und kam zuweilen auch in seinen Heimatort. Da konnte
man dann beobachten, wie ein Wagen, den eine bauernmäßig
gekleidete Frau und jener Pfarrer zusammen schoben, immer
schwerer und schwerer wurde. Das war nämlich ein Kinderwagen,
und mit jedem Jahr gab es ein Kind mehr für diesen Kinderwagen.
Man konnte von dem ersten Besuche an bei diesem Geistlichen eine
merkwürdige Vermehrung seiner Familie beobachten, die als eine
«Beigabe» seines Zölibates mit jedem neuen Jahr immer
sonderbarer erschien. — Vielleicht darf da doch die Bemerkung
eingefügt werden, daß in dieser Weise nicht dafür gesorgt
wurde, daß der Knabe möglichst viel Respekt bekam vor dem, was
die Traditionen geistlicher Körperschaften sind.
Es soll nun
noch erwähnt werden, daß der Knabe im Alter von etwa acht
Jahren in der Bibliothek des vorhin erwähnten Lehrers auch eine
«Geometrie» von
Mocnik fand, die in den österreichischen Ländern viel
gebraucht wurde, sich nun ganz allein an ein eifriges Studium
der Geometrie machte und mit einer großen Lust sich gerade in
diese Geometrie vertiefte. Dann brachten es die Verhältnisse
mit sich — die so charakterisiert werden könnten, daß es in
der Familie des Knaben als eine völlige Selbstverständlichkeit
galt, dem Knaben nur eine Bildung zu geben, die ihn zu
irgendeinem modernen Kulturberuf befähigen konnte; alles
Bestreben ging dahin, ihn ja nicht zu etwas anderem als zu einem
modernen Kulturberuf zu bringen — —, diese Verhältnisse
also brachten es mit sich, daß man den Knaben nicht in das
Gymnasium, sondern in die Realschule schickte. Er hat also
überhaupt nicht eine Vorbildung genossen, die ihn zu einem
geistlichen Berufe vorbereiten konnte, denn er hat kein
Gymnasium, sondern nur eine Realschule besucht, die damals in
Österreich ganz und gar nicht die Befähigung zum späteren
geistlichen Berufe gegeben hatte. Für die Realschule war er
durch sein Zeichentalent und durch seine Hinneigung zur
Geometrie recht gut vorbereitet. Schwierig erging es ihm nur in
allem Sprachlichen, auch im Deutschen. Jener Knabe hat bis zu
seinem vierzehnten, fünfzehnten Jahre die allertörichtesten
Fehler in der deutschen Sprache bei seinen Schulaufgaben
gemacht; nur der Inhalt hat ihm immer wieder hinweggeholfen
über die zahlreichen grammatikalischen und orthographischen
Fehler. Weil es Symptome sind für eine gewisse Artung der
Seele, darf auch noch erwähnt werden, daß der Knabe, von dem
hier die Rede ist, zu einer Nichtberücksichtigung gewisser
grammatikalischer und orthographischer Verhältnisse selbst
seiner Muttersprache dadurch geführt wurde, daß ihm in einer
gewissen Weise der Zusammenhang mit dem fehlte, was man nennen
könnte: unmittelbares Sich-hineinleben in das ganz trockene
physische Leben. Das trat zuweilen grotesk hervor. Dafür ein
Symptom: In der Bauernschule, die der Knabe besuchte, bevor er
in die Realschule kam, mußten die Kinder immer zu Neujahr und
zu den Namenstagen der Eltern usw. auf schönem bunten Papier
Glückwünsche schreiben. Diese wurden dann zusammengerollt und,
nachdem der Inhalt auswendig gelernt worden war, von dem Lehrer
in eine sogenannte kleine Papiermanschette gesteckt; die gab man
nachher unter Aufsagen des Inhalts an die betreffenden
Angehörigen ab, an die sie gerichtet waren. Jener Pfarrer, der
einmal auf den Knaben einen unauslöschlichen Eindruck dadurch
gemacht hatte, daß er, als die dortige Freimaurerloge erbaut
war, furchtbar zeterte und — weil der Begründer der
Freimaurerloge noch dazu ein Jude war — zu einer wirksamen
Redewendung sich verstieg, indem er sagte, daß zu alledem, was
schlechte Menschen seien, auch das dazu gehöre, daß man so
etwas würde wie ein Jude oder ein Freimaurer, jener Pfarrer
hatte auf "seinem Pfarrhof— es soll dabei an nichts
Schlimmes gedacht werden — einen Knaben. Der ging auch zu uns
in die Schule und schrieb dort auch seine Glückwünsche. Da kam
es einmal so, daß der Knabe Rudolf Steiner in das
Glückwunschkonzept des betreffenden Knaben hineinschaute, der
im Pfarrhof wohnte, und dabei sah, daß dieser Knabe nicht wie
die anderen sich unterschrieb, sondern: «Ihr herzlich ergebener
Neffe». Der Knabe Rudolf Steiner wußte damals nicht, was ein
«Neffe» ist; er hatte nicht viel Sinn für die Verbindung von
Worten mit Dingen, wenn die Worte selten ausgesprochen wurden.
Aber er hatte einen merkwürdigen Sinn für 'den Klang der
Worte, für das, was man durchhören kann durch den Klang der
Worte. Und so hörte der Knabe aus dem Klange des Wortes
«Neffe», daß es etwas besonders Herzliches sei, wenn man auf
seinem Glückwunsch sich seinen Angehörigen gegenüber
unterschrieb : «Ihr herzlich ergebener Neffe», und er fing nun
auch an, für seinen Vater und seine Mutter zu unterschreiben:
«Ihr herzlich ergebener Neffe». Erst durch die Aufklärung
über die Tatsachen wurde dem Knaben klar, was ein Neffe ist.
Das geschah, als er zehn Jahre alt war.
Darin kam der Knabe
auf die Realschule in die benachbarte Stadt [Wiener-Neustadt].
Diese Realschule war nicht so ganz leicht zu erreichen.
Es war nach den Verhältnissen der Eltern gar nicht daran zu
denken, daß er in der Stadt hätte wohnen können. Aber es war
der Besuch der Realschule auch dadurch möglich, daß die Stadt
nur eine Wegstunde von dem Ort entfernt war, wo er wohnte. Wenn,
was damals sehr häufig geschah, die Eisenbahnstrecke nicht eingeschneit
war, so konnte der Knabe am Morgen mit der Eisenbahn zur Schule
fahren. Aber gerade in den Zeiten, in denen auch der Fußweg
nicht besonders angenehm war, denn dieser führte über Felder,
waren die Bahngeleise tatsächlich sehr häufig verschneit, und
dann mußte der Knabe morgens zwischen halb sieben und acht Uhr
oftmals durch wirklich knietiefen Schnee zur Schule wandern.
Und am Abend war gar nicht daran zu denken, anders als zu Fuß
nach Hause zu kommen. — Wenn ich jetzt auf den Knaben zurücksehe,
der recht viele Anstrengungen hat machen müssen, um zur Schule
und wieder zurückzukommen, so kann ich nicht anders sagen, als
daß es mein Glaube ist, der gewisse Grad von Gesundheit, den
ich selber jetzt habe, sei vielleicht zurückzuführen auf die
sonstigen Anstrengungen, die mit dem Besuch der Realschule verbunden
waren. — Es war ja dadurch, daß sich eine wohltätige Frau in
der Stadt gefunden hatte, die den Knaben über Mittag — durch
die ersten vier Schuljahre hindurch — zu sich eingeladen hatte
und ihm zu essen gab, wenigstens nach der Richtung hin die Not,
daß nichts zu essen dagewesen wäre, gelindert. Auf der anderen
Seite aber war dabei auch wieder Gelegenheit, die modernsten
Kulturverhältriisse zu sehen. Denn der Mann jener Frau war in
der Lokomotivfabrik jenes Ortes angestellt, und man lernte da
viel kennen von den Verhältnissen jenes Industrieortes, die
für die damalige Zeit außerordentlich wichtig waren. So warfen
auch die modernsten industriellen Verhältnisse ihre Schatten
in das Leben des Knaben.
Nun gab es mehreres
im Zusammenhang mit der Schule, was den Knaben in einer außerordentlichen
Weise interessierte. Zunächst war da der Direktor der Realschule,
ein ganz merkwürdiger Mann. Der stand mitten darinnen in dem
damaligen naturwissenschaftlichen Leben und setzte all sein
Streben daran, aus den Begriffen und Ideen der Naturwissenschaft,
Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, sich eine
Art von Weltsystem zu begründen. Von den Bestrebungen seines
Direktors [Heinrich
Schramm] lernte der Knabe einen Programmaufsatz
der Schule kennen, der hieß «Die
Anziehungskraft betrachtet als eine Wirkung der Bewegung».
Und die Sache ging gleich los mit ganz kräftigen Integralen.
Das heftigste Bestreben des Knaben war nun, sich hineinzulesen
in das, was er nicht verstehen konnte, und immer wieder las
er darüber, soviel er erfassen konnte. Einen gewissen Sinn verstand
er: daß die Kräfte der Welt und selbst die Anziehungskraft aus
der Bewegung heraus erklärt werden sollten. Es entstand nun
ein Streben in dem Knaben, möglichst bald so viel von Mathematik
zu kennen, urn diese Ideen durchdringen zu können. Das war nicht
ganz leicht, da man zunächst viel Geometrie lernen mußte, um
solche Sachen zu verstehen.
Nun kam noch etwas
anderes hinzu. An jener Realschule war ein ausgezeichneter Lehrer
für Physik und Mathematik [Laurenz
Jelinek], der einen zweiten Programmaufsatz verfaßt
hatte, den der Knabe zu Gesicht bekam. Das war ein außerordentlich
interessanter Aufsatz über «Wahrscheinlichkeitsrechnung
und Lebensversicherung». Und der zweite Anstoß,
den der Knabe daraus bekam, war eben der, daß er kennenlernen
wollte, wie man die Leute versichert aus den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung
heraus, und das war in jenem Aufsatze sehr übersichtlich wiedergegeben.
Dann muß noch ein
dritter Lehrer erwähnt werden, der Lehrer der Geometrie [Georg
Kosak]. Der Knabe hatte nämlich das Glück, diesen
Lehrer schon in dem zweiten Schuljahre zu haben und von ihm
zu bekommen, was später zu der darstellenden Geometrie hinüberführte
und verbunden ist mit geometrischem Zeichnen, so daß man auf
der einen Seite das Rechnen hatte und auf der anderen außerdem
noch Freihandzeichnen. Der Lehrer der Geometrie war ein anderer
als der Direktor und ein anderer als jener, der den Aufsatz
über das Lebensversichern schrieb. Die Art nun, wie dieser Lehrer
die Geometrie vorbrachte und Anleitung gab, Zirkel und Lineal
zu gebrauchen, war etwas außerordentlich Praktisches, und es
darf gesagt werden, daß sich der Knabe infolge der Anleitung
dieses Lehrers ganz in die Geometrie vernarrte und auch in das
geometrische Zeichnen mit Zirkel und Lineal. Die übersichtliche
und praktische Art, Geometrie durchzunehmen, war auch noch dadurch
besonders erhöht, daß jener Lehrer verlangte, daß man die Bücher
eigentlich nur als so eine Art Dekoration habe. Was er gab,
diktierte er den Schülern und zeichnete es selbst an die Tafel;
man zeichnete es ab, machte sich auf diese Weise selbst sein
Heft und brauchte eigentlich nichts anderes zu wissen, als was
man selbst mittätig erarbeitet hatte. Es war eine gute Art,
so zu arbeiten. In anderen Fächern dagegen war oft eine recht
gute Anleitung vorhanden, alles, was vorkam, zu verschlafen.
Nun ging die
Sache so, daß der Knabe Gelegenheit hatte, schon in der dritten
Realschulklasse jenen Lehrer für Mathematik und Physik zu
bekommen, der den Aufsatz über «Wahrscheinlichkeitsrechnung
und Lebensversicherung» verfaßt hatte. Der stellte sich heraus
als ein ganz ausgezeichneter Lehrer für Mathematik und Physik.
Und wenn dem Manne, der aus dem Knaben geworden ist. hier etwas
durch das Gemüt schießt, indem er an jenen Lehrer denkt, so
ist es das, daß er jederzeit in geistiger Beziehung seinen
Kranz niederlegen möchte vor jenem ausgezeichneten Lehrer für
Mathematik und Physik. — Nun fing man erst recht an, mit
Hingebung sich der Mathematik und Physik zu widmen, und so
konnte es dazu kommen, daß es möglich geworden war,
verhältnismäßig bald zu greifen zu den damals viel mehr als
heute verbreiteten ausgezeichneten Lehrbüchern für den
Selbstunterricht in Mathematik von Lübsen. Mit Anleitung der
Bücher von H. B. Lübsen brachte es auch der Knabe dahin,
verhältnismäßig bald zu verstehen, was sein Direktor
geschrieben hatte über die «Anziehungskraft betrachtet als
eine Wirkung der Bewegung» und was sein Lehrer geschrieben
hatte über «Wahrscheinlichkeitsrechnung und
Lebensversicherung». Das war eine große Freude, diese
Dinge nach und nach zum Verständnis getrieben zu haben.
Nun spielte in
das Leben des Knaben noch hinein, daß er kein Geld hatte, um
die Schulbücher einbinden zu lassen. Da hatte er denn von einem
Gehilfen seines Vaters die Buchbinderei gelernt und konnte sich
in den Ferien damit beschäftigen, sich seine Schulbücher
selbst einzubinden. Es scheint mir wichtig, dies hervorzuheben,
weil es etwas bedeutete für die Entwicklung jenes Knaben, eine
so praktische Sache wie die Buchbinderei in verhältnismäßig
frühen Lebensjahren kennenzulernen. Aber noch anderes spielte
da hinein. Es war die Zeit, von der jetzt die Rede ist, gerade
die, in welcher in Österreich eingeführt wurde das neue
metrische Maß- und Gewichtsystem, das «Meter»- und «Kilogramm»-System.
Und den ganzen Enthusiasmus erlebte der Knabe mit, der sich
abspielte in allen Verhältnissen, als man aufhörte, in der
bisherigen Weise mit «Fuß» und «Pfunden» und «Zentnern»
zu rechnen und nun anfing, «Meter» und «Kilogramm» an ihre
Stelle zu setzen. Und das gelesenste Buch, welches er immer in
der Tasche hatte, war das heute schon vergessene über das neue
Maß- und Gewichtsystem. Und schnell wußte der Knabe
herzusagen, wieviel eine Anzahl von Pfunden ausmachten in
Kilogrammen und wieviel eine Anzahl Fuß in Metern, denn
darüber waren lange Tabellen in dem Buche enthalten.
Eine
Persönlichkeit, die in das Leben des Knaben hineinspielte, darf
nicht unerwähnt bleiben: ein Arzt, ein sehr freigeistiger Arzt,
der aber — vielleicht wird es mir nicht übelgenommen — eine
gewisse «weitschauende Lebensauffassung» hatte. Er hatte nun
dadurch auch seine Eigenarten, war jedoch in gewisser Beziehung
ein außerordentlich guter Arzt. Aber es passierten mit ihm
tolle Sachen. Der Arzt war dem Knaben schon bekannt von der
ersten Eisenbahnstation her (wo die okkulte Erscheinung
stattfand). Damals war z. B. folgendes vorgekommen. Der
Weichenwärter auf der dortigen Station hatte einen heftigen
Zahnschmerz. Der betreffende Arzt war nun auch Bahnarzt und
hatte, obwohl er nicht dort wohnte, den Weichenwärter zu
behandeln. Und siehe da, der gute Arzt wollte recht schnell mit
den Sachen fertig werden und schickte ein Telegramm, daß er mit
einem bestimmten Zug kommen würde. Er wolle aber nur so lange
aussteigen, als der Zug hielte, um in dieser Zeit den Zahn
herauszuexpedieren und dann gleich weiterzufahren. Die Sache
wurde in Szene gesetzt, der Arzt kam mit dem festgesetzten Zug,
zog dem Weichenwärter den Zahn aus und fuhr weiter. Aber
nachdem der Arzt abgefahren war, kam der Weichenwärter und
sagte: «Nun hat er mir halt einen gesunden Zahn ausgerissen,
aber der kranke tut mir au nit mehr weh!» Dann hatte der
Weichenwärter einmal Magenschmerzen, da wollte ihn der Arzt in
ähnlicher Weise abfertigen. Diesmal aber war der Zug, mit dem
er kam, ein Schnellzug, der auf der Station nicht hielt. Daher
ordnete er an, der Weichenwärter solle sich auf dem Bahnsteig
hinstellen und ihm, wenn der Zug vorbeiführe, die Zunge
herausstrecken, er wolle dann von der nächsten Station aus
Bescheid geben. Das geschah auch: der Weichenwärter mußte sich
hinstellen, die Zunge herausstrecken, während der Zug
vorüberfuhr, und der Arzt telephonierte dann von der
nächsten Station aus das Rezept
zurück. Das waren einige Seiten der «weiten Lebensauffassung»
dieses Arztes. Aber er war ein feinsinniger, außerordentlich
menschenfreundlicher Lebenskenner.
Der Knabe hatte
längst die Studien gemacht mit dem neuen Maß- und
Gewichtsystem, hatte sich über Integral- und
Differentialrechnung informiert. Von Goethe und Schiller aber
wußte er nichts, als was in den Schulbüchern stand — einige
Gedichte —, sonst nichts von deutscher Literatur, von
Literatur überhaupt. Eine eigentümliche, selbstverständliche
Liebe zu jenem Arzt war aber dem Knaben geblieben, und mit einer
rechten Verehrung ging er an den Fenstern dieses Arztes vorbei
in der Stadt, wo die Realschule war. Da konnte er ihn hinter dem
Fenster sehen mit einem grünen Schirm vor den Augen, und
unbemerkt konnte er beobachten, wie er vertieft vor seinen
Büchern saß und studierte. Bei einem Besuche, den der Arzt in
dem zuletzt erwähnten Dorfe machte, ergab es sich, daß er den
Knaben einlud, ihn einmal zu besuchen. Der Knabe ging dann zu
ihm hin, und der Arzt wurde nun ein liebevoller Berater, indem
er dem Knaben die wichtigeren Werke der deutschen Literatur zur
Verfügung stellte — manchmal in kommentierten Ausgaben —
und ihn immer mit einem liebevollen Wort entließ, ihn auch
wieder so empfing, wenn er die Bücher zurückbrachte. So war
der Arzt, von dem ich Ihnen die andere Seite zuerst erzählt
habe, eine Persönlichkeit, die eine der meistgeachteten in dem
Leben des Knaben wurde. Vieles, was von Literatur und damit
Zusammenhängendem in des Knaben Seele drang, kam von jenem
Arzte.
Nun stellte sich
etwas Eigentümliches für den Knaben heraus. Er empfand durch
jenen ausgezeichneten Geometrielehrer die größte Hingebung
für darstellende Geometrie, und dadurch kam etwas vor, was
erwähnt werden darf, was überhaupt vorher in jener Schule und
auch an einer anderen Schule nie vorgekommen war: daß jener
Knabe, von dem hier gesprochen wird, von der vierten Klasse ab
in der darstellenden Geometrie und im Zeichnen eine Note bekam,
die sonst eben gar nicht gegeben wurde. Die höchste, schwer zu
erhaltende Note war «vorzüglich»; er hatte «ausgezeichnet»
bekommen. Er verstand wirklich von all diesen Dingen viel mehr
als von Literatur und ähnlichen Sachen.
Es gab aber
auch manche andere Seiten in der Schule. Zum Beispiel war durch
eine Anzahl von Klassen hindurch der Lehrer für Geschichte ein
recht langweiliger Patron, und man hatte es außerordentlich
schwer, zuzuhören; was er vortrug, war dasselbe, was im Buche
stand, und man kam leichter dahinter, wenn man es nachher im
Buche las. Da hatte sich der Knabe ein merkwürdiges System
ersonnen, das zusammenhing mit seinen damaligen Neigungen. Er
hatte zwar nie besonders viel Geld, aber wenn er wochenlang die
Kreuzer beiseite legte, die er hier und da erhielt, so konnte er
schließlich sich etwas zusammensparen. Nun war damals gerade zu
seinem guten Karma die Reclamsche Universal - Bibliothek
begründet worden, und zu den ersten Werken, die erschienen,
gehörten zum Beispiel die Werke Kants. Das erste, was sich der
Knabe aus der Universal-Bibliothek kaufte, war Kants «Kritik
der reinen Vernunft». Er war damals zwischen dem
vierzehnten und fünfzehnten Jahre. Die geschichtlichen
Vorträge seines Professors langweilten ihn furchtbar, besonders
viel freie Zeit hatte er nicht, es gab viele Schulaufgaben, die
in der Zeit von abends bis zum nächsten Morgen gemacht werden
mußten. Als einzige Zeit, die man nutzbringend anders anwenden
konnte, blieb die Stunde, in welcher der Geschichtslehrer so
langweilig vortrug. Nun sann der Knabe darauf, wie er diese Zeit
nützen könnte. Mit dem Bücherbinden war er bekannt. Da nahm
er das Geschichtsbuch auseinander und klebte buchbinderisch
ordentlich zwischen die Seiten der Geschichte die Blätter von
Kants «Kritik der reinen Vernunft» hinein. Und während dann
der da oben erzählte, was im Buche stand, las der Knabe Kants
«Kritik der reinen Vernunft» mit großer Aufmerksamkeit. Und
er war aufmerksam, denn er brachte es dahin, mit fünfzehn
Jahren Kants «Kritik der reinen Vernunft» eingehend gelesen zu
haben, und konnte dann dazu übergehen, die anderen Werke von
Kant zu erarbeiten. Es darf wirklich, ohne zu renommieren,
gesagt werden, daß der Knabe es mit sechzehn, siebzehn Jahren
dahin gebracht hatte, die Kantschen Werke, soweit sie in der
Reclamschen Universal-Bibliothek zu haben waren, in sich
aufzunehmen; denn zu dem Studium während der Geschichtsstunden
kam noch das Studium in der Ferienzeit hinzu. Er gab sich eifrig
Kant hin, und es war tatsächlich eine neue Welt, die damals aus
dem Studium dieser Kant-Werke von dem physischen Plane her dem
Knaben aufging.
Mit der
Realschulzeit ging es nun zu Ende. Einen ganz modernen
Schullebenslauf hatte der Knabe hinter sich. Zwei Dinge sind
noch hervorzuheben. In den höheren Klassen war auch ein sehr
guter Chemielehrer, der nicht viel sprach, der meistens immer
nur das Notwendigste sagte. Aber auf einem mehrere Meter langen
Tisch waren alle möglichen Apparate ausgebreitet, und alles
wurde gezeigt: die kompliziertesten Experimente wurden gemacht
und nur von den notwendigsten Worten begleitet. Und wenn wieder
so eine interessante Stunde vorbei war, dann fragten die
Schüler wohl: «Herr Doktor (er hatte sich lieber so anreden
lassen als "Herr Professor"), wird das nächste Mal
experimentiert oder examiniert?», da hieß die Antwort dann
meistens: «Experimentiert», und jeder freute sich wieder.
Examiniert wurde gewöhnlich nur in den letzten zwei Stunden,
bevor Zeugnisse ausgestellt werden sollten. Aber ein jeder hatte
in seinen Stunden immer gut aufgepaßt und mitgearbeitet, und so
kam es denn — weil er auch ein ausgezeichneter Mann war —,
daß auch die Schüler immer etwas konnten. Es mag noch bemerkt
werden, daß es der Bruder jener jetzt wieder in Österreich
bekannt gewordenen Persönlichkeit war, der Bruder des
österreichisch-tirolischen Dichters Hermann von Gilm, eines
bedeutenden Lyrikers. Es darf wohl hier ausnahmsweise der Name [Hugo
von Gilm] genannt werden als der Name eines nicht mehr unter
uns Weilenden, da nur Gutes von ihm gesagt werden kann.
Das andere, was
noch hervorzuheben ist, war, daß in der Nähe jenes Ortes ein
Schloß war, in dem ein Mann wohnte, der Graf Chambord, welcher
der Prätendent war für einen europäischen Thron, doch diesen
Thron wegen der politischen Verhältnisse nie einnehmen konnte.
Er war für die dortige Gegend ein großer Wohltäter, und man
erfuhr viel von dem, was aus diesem Schlosse des
Kronprätendenten kam. Selbstverständlich hatte der Knabe nie
Gelegenheit, den Grafen selbst kennenzulernen; aber dieser lebte
im Munde der Leute in der ganzen Gegend. Wenn es auch ein Mensch
war, von dem man sagen konnte, daß in der Gesinnung nur wenige
Leute mit ihm einverstanden waren, so breitete sich doch wieder
der Schatten wichtiger politischer Verhältnisse, die man
dadurch kennenlernen konnte, in den Ort hinein.
Nun kamen
noch andere Dinge dazu. Es ging das Interesse des Knaben, das
an Kant angefacht war, nach und nach so weit, daß er auch nach
anderen philosophischen Dingen Lust bekommen hatte, und er verschaffte
sich nun mit seinen recht geringen Mitteln psychologische und
logische Werke. Besondere Sympathie empfand er für die Bücher
von Lindner, die, was Psychologie betrifft, recht
gute Vermittler waren, und lernte aus den Fäden, die da verfolgt
wurden, noch bevor er von der Realschule abging, die Herbartsche
Philosophie eigentlich recht gut kennen. Es hatte
ihm dies allerdings eine Schwierigkeit bereitet, denn der Lehrer
der deutschen Sprache, der im übrigen ein vortrefflicher Mann
war und viele Verdienste um das Schulwesen
sich erwarb, hatte gar nicht leiden mögen, daß der Knabe Rudolf
Steiner solche Lektüre pflog, die ihn verleitete, so furchtbar
lange Schulaufsätze zu machen, manchmal sogar ein ganzes Heft
vollzuschreiben. Und nach dem Abiturientenexamen, wo dann die
Schüler, wie das so gebräuchlich war, mit den Lehrern vor Schulabgang
noch einmal zusammen waren, da sagte er zu dem Knaben: «Ja,
Sie waren mein stärkster Phraseur.» Einmal zum Beispiel hatte
er, nach dem Gebrauche des Wortes «psychologische Freiheit»,
dem Knaben den Rat gegeben: «Sie scheinen wirklich eine philosophische
Bibliothek zu Hause zu haben; ich möchte Ihnen anraten, sich
nicht viel damit zu beschäftigen.» — Von besonderem Interesse
war dem Knaben auch der Vortrag eines Professors der kleinen
Ortschaft über «Pessimismus». Noch soll erwähnt werden, daß
es dann später auch wieder Jahre gab, in denen auf der Realschule
ausgezeichnet Geschichte gepflegt worden ist. Und da war es
dann wirklich ein gründliches Vertiefen des Knaben in die Geschichte
des Dreißigjährigen Krieges, weil er habhaft werden konnte der
«Weltgeschichte»
von Rotteck,
die einen großen Eindruck machte durch die Wärme, mit der
die ersten Bände dieser Weltgeschichte geschrieben sind.
Von dem, was
gewissermaßen bedeutsam ist, darf noch hervorgehoben werden,
daß der Knabe nur pflichtgemäß in den ersten vier Jahren an
dem Religionsunterricht teilgenommen hat. Als er von dem vierten
Schuljahre ab durch den Lehrplan der Schule von dem
Religionsunterricht befreit war, hat er nicht mehr daran
teilgenommen. Durch die Verhältnisse seiner Familie war er auch
nie zur Firmung geführt worden, so daß er bis heute nicht
gefirmt worden ist. Also einen gefirmten Menschen haben Sie
nicht vor sich. Denn es war damals in den Kreisen, in denen der
Knabe aufwuchs, eine Selbstverständlichkeit, daß man so etwas
wie die klerikalen Einrichtungen nicht mitmachte. Dagegen hatte
es einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, daß er bei seinem
Abiturientenexamen in der Physik eine Frage zu beantworten
bekam, die so modern war, daß sie in den österreichischen
Schulen wohl zum ersten Mal gestellt worden ist. Er hatte
nämlich das Telephon zu erklären, das damals erst Verbreitung
gefunden hatte. Es war wirklich ein Zusammenhang da mit den
allermodernsten Verhältnissen. Er mußte aufzeichnen an der
Tafel, wie man von der einen zur anderen Station telephoniert.
Nun handelte es
sich darum, daß nach der Schulzeit eine ganze Anzahl von philosophischen
Sehnsuchten erregt wurden. Das Abiturientenexamen war zu Ende,
und der Vater ließ sich an einen Bahnhof [Inzersdorf]
in der Nähe von Wien versetzen, damit der Knabe jetzt die
Hochschule besuchen konnte. Es war in der Ferienzeit, die auf
das Abiturientenexamen folgte, und da stellte sich wirklich
eine tiefe Sehnsucht nach der Lösung philosophischer Fragen
ein. Um diese zu stillen, gab es nur eine Möglichkeit. Man hatte
in den Jahren eine Anzahl von Schulbüchern aufgestapelt, die
trug man nun zum Antiquar und bekam dafür ein nettes Sümmchen.
Das wurde sofort umgetauscht in philosophische Bücher. Und nun
las der Knabe, was er von Kant noch nicht gelesen hatte, zum
Beispiel seine Abhandlung vom Jahre 1763 über den «Versuch,
den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen»
oder Kants «Träume eines Geistersehers, erläutert durch
Träume der Metaphysik» [1766]. Aber nicht nur Kant, sondern
die ganze Literatur konnte verfolgt werden durch einzelne repräsentative
Bücher von Hegel, Schelling, Fichte und ihren Schülern (z. B.
Karl Leonhard Reinhold), von Darwin usw. Bis zu einem Philosophen
kam es, der heute nicht mehr besonderes Ansehen hat, zu Traugott
Krug.
Nun sollte er auf
die Hochschule. Er konnte selbstverständlich nur auf eine
technische Hochschule gehen, da er keine Vorbildung hatte
für die mit dem humanistischen und antiken Geisteswissen verbundenen
Studien. Er ließ sich dann in der Tat einschreiben in die Technische
Hochschule in Wien und hörte in den ersten Jahren Chemie, Physik,
Zoologie, Botanik, Biologie, Geologie, Mathematik, Geometrie
und reine Mechanik. Daneben hörte er deutsche Literaturgeschichte
bei jenem Manne, der allerdings mit dem Leben des Knaben recht
tief zusammenhängt, bei dem Vortragenden für deutsche Literatur
an der Technischen Hochschule, Karl
Julius Schröer.
Schon im ersten
Jahre des Hochschulstudiums [1879/80] trat etwas ganz Besonderes
ein. Durch eine besondere Verkettung von Umständen trat in den
Gesichtskreis des Knaben eine merkwürdige Persönlichkeit, eine
Persönlichkeit, die keine Gelehrsamkeit hatte, aber ein umfassendes
tiefes Wissen und eine umfassende tiefe Weisheit. Nennen wir
jene Persönlichkeit, wie sie mit ihrem Vornamen wirklich hieß,
«Felix»,
der in einem abgelegenen, einsamen Gebirgsdörfchen mit seiner
bäuerlichen Familie lebte, das Zimmer voll hatte mit mystischokkulter
Literatur, selber tief eingedrungen war in mystisch-okkulte
Weisheit und der seine Hauptzeit zuzubringen hatte mit dem Sammeln
von Pflanzen. Er sammelte überall in den dortigen Gegenden die
verschiedensten Pflanzen und verstand es, jede einzelne Pflanze
aus ihrem Wesen, aus ihren okkulten Untergründen heraus zu erklären.
In jenem Manne waren ganz ungeheure okkulte Tiefen. Es war bedeutsam,
was mit ihm besprochen werden konnte, wenn man ihn auf seinen
einsamen Wanderungen begleitete, oder wenn er, auf dem Rücken
sein Bündel mit einer großen Anzahl von Pflanzen, die er gesammelt
und getrocknet hatte, dann in die Hauptstadt fuhr, wohin der
Knabe zu fahren hatte. Da gab es sehr wichtige Gespräche mit
diesem Manne, den man in Österreich einen «Dürrkräutler» nennt,
einen, der Kräuter sammelt und trocknet und sie dann in die
Apotheken trägt. Das war der äußere Beruf des Mannes, der innere
war freilich ein ganz anderer. Es darf nicht unerwähnt bleiben,
daß er alles in der Welt liebte und nur bitter wurde (das sei
aber nur kulturhistorisch erwähnt), wenn er auf klerikale Verhältnisse
zu sprechen kam und auf das, was auch er durch die klerikalen
Verhältnisse auszustehen hatte; dem war er nicht liebevoll geneigt.
Rudolf Steiners spiritueller
Lehrmeister
Es folgte aber bald darauf noch etwas
anderes. Mein Felix war gewissermaßen nur der Vorherverkünder
einer anderen Persönlichkeit, die sich eines Mittels bediente,
um in der Seele des Knaben, der ja in der spirituellen Welt
darinnenstand, die regulären, systematischen Dinge anzuregen,
mit denen man bekannt sein muß in der spirituellen Welt. Es
bediente sich jene Persönlichkeit, die nun wieder so fremd wie
möglich allem Klerikalismus gegenüberstand und damit
selbstverständlich gar nichts zu tun hatte, eigentlich der
Werke Fichtes, um gewisse Betrachtungen daran anzuknüpfen, aus
denen sich Dinge ergaben, in welchen doch die Keime zu der «Geheimwissenschaft»
gesucht werden könnten, die der Mann, der aus dem Knaben
geworden ist, später schrieb. Und manches, aus dem die
«Geheimwissenschaft» geworden ist, wurde damals in Anknüpfung
an Fichtes Sätze erörtert. Ebenso unansehnlich im äußeren
Berufe war jener ausgezeichnete Mann wie Felix auch. Ein Buch
war es, das er gleichsam als Anhaltspunkt benutzte, das in
Österreich oft wegen seiner antiklerikalen Richtung
unterdrückt wurde, durch welches man sich aber zu ganz
besonderen geistigen Wegen und geistigen Pfaden anregen lassen
kann. Jene eigenartigen Strömungen, die durch die okkulte Welt
gehen, die man nur erkennen kann, wenn man eine aufwärts- und
eine abwärtsgehende Doppelströmung ins Auge faßt, traten
damals lebendig vor des Knaben Seele. Es war in der Zeit, da der
Knabe noch nicht den zweiten Teil des «Faust» gelesen hatte,
als er auf diese Weise okkult hineingeführt wurde. Es ist nicht
nötig, über diesen Punkt der okkulten Schulung des jetzigen
Jünglings, zu dem der Knabe herangewachsen war, weiter zu
sprechen. Denn alles, was sich ihm darbot, blieb in der Seele
des Jünglings; er erlebte es in sich selbst und schritt seinen
eigenen Lebensweg weiter fort.
Zunächst war er
angeregt worden durch die literarhistorischen Vorträge
Karl Julius Schröers über «Die deutsche Literatur
seit Goethes erstem Auftreten» zu dem, was Goethe gegeben
hatte, besonders aber zu der «Farbenlehre» und zu dem
zweiten Teil des «Faust», den er als achtzehn- bis neunzehnjähriger
Jüngling studierte. Gleichzeitig studierte er die Herbartsche
Philosophie, namentlich die «Metaphysik». Eine sonderbare
Enttäuschung hatte der Jüngling erfahren, der ja schon mit viel
Philosophischem bekannt geworden war, aber aus sich gewisse
Gründe hatte, die Herbartsche Philosophie zu schätzen. Es hatte
sich in ihm eine freudige Sehnsucht danach gebildet, einen der
bedeutendsten Vortragenden für Herbartsche Philosophie kennenzulernen,
nämlich Robert Zimmermann. Das war tatsächlich eine Enttäuschung,
weil man in der Schätzung der Herbartschen Philosophie sehr
herabgestimmt wurde, wenn man den sonst geistvollen, aber auf
dem Katheder unerträglichen Robert Zimmermann hörte.
Der Geschichtsforscher Ottokar Lorenz
Dagegen gab
es eine Anregung, die dem Gemüt sehr zugute kam, von einem
Manne, der dann auch später in das Leben der Persönlichkeit,
von der hier die Rede ist, eintrat, von dem Geschichtsforscher Ottokar
Lorenz. Der Jüngling hatte nämlich wenig Neigung, ganz pedantisch
regelmäßig die Kollegs an der Technischen Hochschule zu
hören, obwohl er alles mitgemacht hat- Er hatte auch in der
Zwischenzeit an der Universität Vorlesungen gehört von Robert
Zimmermann und auch die Vorträge von Franz Brentano, die
damals — aber das lag weniger in der Natur der Sache — nicht
einen so starken Eindruck auf den Jüngling gemacht haben wie
später seine Bücher, und die der Mann, der aus dem Jüngling
geworden ist, dann alle gründlich kennengelernt hat. Einen
gewissen Eindruck machte Ottokar Lorenz durch seinen
Freiheitssinn, denn er hielt damals — während der sogenannten
«österreichischen liberalen Aera» — ganz freigeistige
Vorträge. Und Ottokar Lorenz war schon der Charakter, der auf
ganz junge Menschen Eindruck machen konnte. Er sprach im Kolleg
wirklich die herbsten Worte, zog mit vielen Belegen los über
das, worüber loszuziehen war, war dabei ein ganz ehrlicher
Mensch, der dann zum Beispiel, nachdem er etwas «brenzliche»
Verhältnisse auseinandergesetzt hatte, sagen konnte: «Ich
mußte ein bißchen schönfärben; denn, meine Herren, hätte
ich alles gesagt, was darüber zu sagen ist, dann würde das
nächste Mal der Staatsanwalt hier sitzen.» Es war derselbe
Ottokar Lorenz, von dem nach der Anekdote — soweit Anekdoten
wahr sind: nämlich wahrer als wahr — folgendes erzählt wird.
Ein Kollege von ihm, der besonders die geschichtlichen
Hilfswissenschaften pflegte, hatte einen Lieblingsschüler, bei
dem, als er zur Promotion kam, Lorenz mitprüfen mußte. Da
konnte zum Beispiel der Kandidat gleich gründlich Auskunft
geben, in welchen päpstlichen Urkunden zum ersten Male der
i-Punkt vorkommt. Und nachdem er so genau über alles Auskunft
zu geben wußte, konnte sich Ottokar Lorenz nicht enthalten zu
fragen: «Ich möchte den Herrn Kandidaten auch etwas fragen.
Können Sie mir sagen, wann jener Papst, in dessen Urkunden
zuerst der i-Punkt vorkommt, geboren ist?» Das wußte der
Kandidat nicht. Dann fragte er ihn weiter, ob er ihm sagen
könne, wann jener Papst gestorben sei? Das wußte er auch
nicht. Dann fragte er, was er denn sonst von diesem Papst wisse?
Aber auch da konnte der Kandidat nichts sagen. Da meinte der
Lehrer, dessen Lieblingsschüler der Betreffende war: «Aber
Herr Kandidat, Sie sind ja heute so, als wenn Ihnen ein Brett
vor den Kopf genagelt ist!» Da sagte Lorenz: «Nun, Herr
Kollege, er ist ja Ihr Lieblingsschüler, wer hat ihm denn das
Brett vor den Kopf genagelt?» Solche Dinge kamen schon vor. —
Lorenz war der Liebling der Studentenschaft der Wiener
Universität, und er war auch ein Jahr Rektor an der Wiener
Universität. Es war nun dort gebräuchlich, daß jemand, der
Rektor gewesen war, für das nächste Jahr dann Prorektor wurde.
Nach ihm wurde nun ein ganz schwarzer Radikaler zum Rektor
gewählt, der ungeheuer unbeliebt war. Dem machten die Studenten
gern allerlei Katzenmusiken. Nun war Lorenz der heftigste Gegner
jenes Klerikalen, der Vertreter des Kirchenrechtes war. Jener
Rektor konnte schon gar nicht mehr in die Universität
hineinkommen, denn sowie er sich dazu anschickte, ging es sofort
mit dem Lärm los. Da mußte dann der
Prorektor kommen und Ordnung schaffen. Sobald Lorenz erschien,
jubelte ihm die Studentenschaft zu. Jener Ottokar Lorenz aber
stellte sich hin und sagte: «Euer Beifall läßt mich ganz
kalt. Wenn ihr — wie wir zwei auch immer verschieden denken
mögen — meinen Kollegen so behandelt, wie ihr es tut, und mir
zujubelt, dann sage ich euch, daß ich, der ich an Gelehrsamkeit
nicht würdig bin, meinem Gegner die Schuhriemen aufzulösen,
mir nichts aus eurem Beifall mache und ihn ablehne!» — «Pereat!
pereat!» ging es los, und aus war es mit seiner Beliebtheit.
Lorenz ging dann nach Jena, und der, der hier spricht, traf noch
öfter mit ihm zusammen. Jetzt ist er nicht mehr auf dem
physischen Plan. Er war eine ausgezeichnete Persönlichkeit. In
allen Einzelheiten steht noch lebhaft vor meiner Seele, wie er
einmal einen Vortrag gehalten hatte über die Beziehungen der
Tätigkeit von Karl August zur übrigen deutschen Politik. Als
im nächsten Jahr, wiederum bei der Versammlung der
Goethe-Gesellschaft, Ottokar Lorenz dasaß und wir über diesen
Vortrag sprachen, den er damals gehalten hatte, da fielen aus
seiner tiefen Ehrlichkeit heraus die Worte: «Ja, was das
betrifft ... als ich damals über das Verhältnis Karl Augusts
zur deutschen Politik sprach, da habe ich eben einen argen Bock
geschossen!» So war er jederzeit bereit, sein Unrecht
zuzugeben.
Außer
mancherlei anderen Persönlichkeiten, die damals Eindruck machten
auf den Jüngling, sei ein ausgezeichneter Mann erwähnt, der
dann aber bald starb, bei dem der Jüngling an der Wiener Technischen
Hochschule Kollegs hörte über «Geschichte der Physik». Es
war Edmund
Reitlinger, der auch mitgearbeitet hat an dem
«Leben Keplers» und in ausgezeichneter Weise den Werdegang
der Physik durch die Zeiten hindurch zur Darstellung bringen
konnte.
Bedeutsame Anregungen
gingen in mancherlei Beziehung von
Karl Julius Schröer aus, der nicht nur durch die
Vorträge wirkte, sondern auch dadurch, daß er die Einrichtung
traf von «Übungen im mündlichen Vortrag und in schriftlicher
Darstellung». Da mußten die Studenten vortragen, und da
lernte man den ordentlichen Aufbau einer Rede. Dabei konnte
man auch manches nachholen, was man früher nicht gelernt hatte
in bezug auf Satzfügungen; kurz, man wurde gründlich unterwiesen
im mündlichen Vortrage und in schriftlicher Darstellung. Und
lebhaft kann ich zurückdenken an das, was damals der Jüngling,
von dem hier gesprochen wird, vorgetragen hat. Der erste Vortrag
war über die Bedeutung Leasings, besonders über den Laokoon;
der zweite über Kant und zwar vorzugsweise über das Problem
der Freiheit. Dann hat er einen Vortrag gehalten über Herbart
und besonders über die Ethik Herbarts; der vierte Vortrag,
der damals probeweise gehalten wurde, handelte vom Pessimismus.
Damals wurde nämlich durch einen Kommilitonen in diesem
Kolleg über «mündlichen Vortrag und schriftliche Darstellung»
eine Diskussion über Schopenhauer angeregt, und der Jüngling,
von dem hier die Rede ist, sagte damals in der Debatte: «Ich
schätze Schopenhauer außerordentlich, aber wenn das richtig
ist, was sich als Fazit der Schopenhauerschen Anschauung ergibt,
dann möchte ich lieber der Holzpfosten sein, auf dem mein Fuß
jetzt steht, als ein lebendes Wesen.» So war seine Seelenstimmung;
der Jüngling wollte sich verteidigen gegenüber einem enragierten
Schopenhauerianer. Daß er ihn jetzt nicht mehr abwehren würde,
geht wohl schon daraus hervor, daß er selbst eine Schopenhauer-Ausgabe
veröffentlicht hat, worin er den Ansichten Schopenhauers
gerecht zu werden versuchte.
Unter
den Studenten hatte jener Jüngling manche Freunde. Es gab auch
an der Wiener Technischen Hochschule einen Studentenverein,
und der Jüngling, von dem hier gesprochen wird, bekam in diesem
Studentenverein das Amt eines Kassierers. Aber er beschäftigte
sich mit der Kasse nur zu gewissen Zeiten, mehr beschäftigte
er sich mit der Bibliothek; und zwar erstens, weil ihn die Philosophie
interessierte, dann aber auch, weil er die Sehnsucht hatte,
mit dem geistigen Leben weiter bekannt zu werden. Diese Sehnsucht
war sehr groß geworden, aber es fehlten die Mittel, um Bücher
zu kaufen, denn Geld gab es wenig. So kam es denn, daß er nach
einiger Zeit der selbstverständliche Bibliothekar jenes Studentenvereins
wurde. Und wenn man dann Bücher brauchte, so schrieb er im Auftrag
des Studentenvereins einen sogenannten «Pumpbrief» an den Autor
irgendeines Werkes, das man gern haben wollte, in welchem man
ihm mitteilte, daß sich die Studenten außerordentlich freuen
würden, wenn der Autor sein Buch schicken wollte. Und
diese Pumpbriefe wurden gewöhnlich
in außerordentlich lieber Art dadurch beantwortet, daß die Bücher
kamen. Dazumal kamen tatsächlich die bedeutendsten Bücher, die
auf dem Gebiete der Philosophie geschrieben worden sind, auf
diese Weise in den Studentenverein herein und wurden gelesen
— wenigstens von dem, der die Pumpbriefe geschrieben hatte.
Dadurch konnte sich der Betreffende damals nicht nur bekannt
machen mit der «Erkenntnistheorie»
von Johannes Volkelt und
den Arbeiten von Richard Falckenberg, sondern auch mit
den Werken von Helmholtz und mit geschichtssystematischen
Werken. Es schickten viele ihre Bücher; sogar Kuno Fischer
hat einmal einen Band seiner «Geschichte
der neueren Philosophie» gestiftet.
Einer hat sogar alle seine Werke geschickt, nachdem ihm ein
Pumpbrief geschrieben worden war. So war reichlich Gelegenheit,
sich mit philosophischen, kulturwissenschaftlichen und auch
literarhistorischen Werken bekannt zu machen. Aber auch auf
anderen Gebieten konnte man seinen Blick in genügender Weise
vertiefen.
Herausgabe von Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften in «Kürschners National-Literatur»
Dann aber kam
durch den persönlichen und immer intimer werdenden Verkehr mit
Karl Julius Schröer, der nicht nur ein Kenner, sondern auch ein
tief bedeutsamer Kommentator Goethes war, daß sich der
Jüngling zu interessieren anfing für die Ideen Goethes und
besonders für dessen Ideen über die Naturwissenschaften. Es
gelang Schröer, nachdem die mannigfaltigsten Anstrengungen
gemacht worden waren, gewisse physikalisch gehaltene Aufsätze
des Jünglings über die «Farbenlehre unterzubringen.
Es trat
dann weiter die Möglichkeit an ihn heran, mitzuarbeiten an der
großen Goethe-Ausgabe, die damals als die Ausgabe der «Kürschnerschen
National-Literatur» durch Joseph
Kürschner veranstaltet
wurde, und die Bearbeitung der naturwissenschaftlichen Schriften
Goethes zugewiesen zu erhalten, wie auch den Auftrag, die
Einleitung dazu zu schreiben. Als der erste Band der «Naturwissenschaftlichen
Schriften Goethes, mit Einleitung von Rudolf Steiner» erschienen
war, hatte er das Bedürfnis, aus den Fundamenten heraus die
denkerischen Quellen darzustellen, aus denen doch die ganze
Anschauung folgte, die hier dargelegt worden war. Daher schrieb
er zwischen dem Erscheinen des ersten und des zweiten Bandes die
«Erkenntnistheorie
der Goetheschen Weltanschauung».
Von früher
her, aus den achtziger Jahren, kommt noch in Betracht ein
Vortrag, der einmal gehalten worden ist unter dem Titel «Auf
der Höhe», einer über Hermann
Hettner, dann ein Vortrag, der auch als Aufsatz erschien,
über Lessing, dann eine «Parallele
zwischen Shakespeare und Goethe». Das
sind im Grunde genommen alle Aufsätze, die geschrieben wurden.
Bald kam Rudolf
Steiner in eine umfangreiche Schriftstellerei hinein dadurch,
daß er Mitarbeiter wurde an «Kürschners deutscher
National-Literatur» und die Herausgabe der
naturwissenschaftlichen Schriften Goethes mit den ausführlichen
Einleitungen zu besorgen hatte.
Hervorgehoben
darf dabei noch werden, daß, wie ihm früher der
Studentenverein eine Art Rückhalt war, es jetzt der Wiener
«Goethe-Verein» wurde, dessen zweiter Vorsitzender Karl
Julius Schröer war. Es war auch weiterhin aneifernd für Rudolf
Steiner, daß Schröer ihn einlud, nachdem die ersten
Goethe-Bände erschienen waren, einen Vortrag zu halten vor
einer solchen Versammlung, wie es die Mitglieder des Wiener
«Goethe-Vereins» waren. Und da hielt Rudolf Steiner seinen
Vortrag über «Goethe als Vater einer neuen Ästhetik». Dazumal
war der, dessen Lebensverhältnisse hier dargestellt werden
sollen, nachdem er die Hochschulverhältnisse hinter sich hatte,
Erzieher geworden. Er mußte ja schon von seinem vierzehnten
Jahre ab immer Privatstunden geben, mußte andere Knaben
unterrichten, mußte diesen Unterricht auch später fortsetzen,
um seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, und hatte, während er
die Hochschule absolvierte, recht viele Schüler. Man kann
sagen: er war glücklich, daß er recht viele Schüler hatte,
denen er Nachhilfe erteilte oder die er auch ganz erzog. Das
ging parallel mit dem Hineinkommen in die Goethe-Gesellschaft.
Erzieher im Hause Specht
Dann wurde er
Erzieher in einem Wiener Hause. Mit Bezug auf dieses Haus muß
wieder gesagt werden, daß hier etwas hereinschien, was von den
modernsten Verhältnissen ausstrahlte. Denn der Herr dieses
Hauses, dessen Knaben von Rudolf Steiner zu erziehen waren, war
einer der angesehensten Vertreter des zwischen Europa und
Amerika spielenden Baumwollhandels, der einen ja am tiefsten
hineinführen kann in die modernen kommerziellen Probleme. Er
war ein entschieden liberaler Mann. Und die beiden Frauen, zwei
Schwestern — es lebten in diesem Hause gleichsam zwei Familien
innig zusammen —, waren ganz hervorragende Frauen, die das
allertiefste Verständnis hatten auf der einen Seite für
Kindererziehung und auf der anderen Seite für jenen Idealismus,
der zum Ausdruck kam in Rudolf Steiners Einleitungen zu Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften und in der
«Erkenntnistheorie». Nun wurde es möglich, sozusagen noch
praktische Psychologie an der Erziehung einer Anzahl Knaben zu
lernen. Praktische Psychologie auch dadurch, daß man in allen
Fragen, welche die Erziehung betrafen, die Initiative entwickeln
durfte, weil man einem so tiefen Verständnis gerade bei der
Mutter dieser Knaben begegnen konnte. Das, was Rudolf Steiner da
antrat, war ein Erzieheramt, das er durch Jahre hindurch zu
führen hatte. Und zwar verlebte er diese Jahre so, daß er sich
neben der Unterrichtstätigkeit, die er als Erzieher auszuüben
hatte, auch beschäftigen konnte mit der Ausarbeitung seiner
Schrift zur Einführung in Goethes naturwissenschaftliche Werke.
Bis zu dieser
Zeit hatte also Rudolf Steiner eine Realschule hinter sich,
hatte hinter sich die Zeit der Wiener Technischen Hochschule und
lebte nun als Erzieher von Knaben, die selbst Realschüler
waren, von denen nur der eine Gymnasiast war. Weil der eine das
Gymnasium besuchte, war Rudolf Steiner jetzt in die
Notwendigkeit versetzt, das Gymnasium nachzuholen. So daß er
aus dieser Notwendigkeit heraus, nachdem er sein zwanzigstes,
einundzwanzigstes Lebensjahr erreicht hatte, mit dem Buben das
Gymnasium nachlernen konnte, und nur das hat ihn dann in den
Stand gesetzt, sich später das Doktorat zu erwerben.
Es liegen
also die Sachen so, daß Rudolf Steiner vor dem zwanzigsten
Jahre mit nichts zu tun hatte als mit einer Realschule, die in
Österreich nie eine Vorbereitung für den geistlichen Beruf
gibt, sondern geradezu davon fernhält. Dann hat er durchgemacht
eine technische Hochschule, die auch nicht zum geistlichen Beruf
befähigt, denn da wurde Chemie, Physik, Zoologie, Botanik,
Mechanik, was sich auf Maschinenbau bezieht, Geologie usw.
getrieben, auch neuere Geometrie, so die «Geometrie der Lage».
Dem ging parallel während der Hochschulzeit die Vertiefung in
die verschiedensten philosophischen Werke, dann mit dem
Intimerwerden mit Schröer das Herantreten an die
Goethe-Ausgaben, und dann kam, was man «Berufliches» nennen
kann: die Erziehertätigkeit, die — weil man psychologischen
Blick entwickeln mußte, da die psychologischen Verhältnisse
bei den Knaben schwere waren — «praktische Psychologie» sein
konnte. Diese Zeit verlief also wirklich nicht, wie andere Leute
wissen wollen, im Jesuitenstift zu Kalksburg (jetzt wird schon
wieder ein anderer Ort genannt), sondern die Zeit verlief in der
Erziehertätigkeit in einem Wiener jüdischen Hause, wo der
Betreffende ganz gewiß nicht die geringste Anleitung hatte, um
eine jesuitische Tätigkeit zu entwickeln. Denn das
Verständnis, das die beiden Frauen entwickelten an dem
damaligen Idealismus oder an den Erziehungsmaximen für die
Kinder, war gar nicht geeignet, den Jesuitismus nahekommen zu
lassen.
Der Menschenkreis um Marie Eugenie
delle Grazie
Etwas nur war da,
was sozusagen wie ein Schatten aus der Welt des Jesuitismus
hereinschaute. Und das kam so. Es machte Schröer die
Bekanntschaft der österreichischen Dichterin Marie Eugenie
delle Grazie, die in dem Hause eines katholischen Priesters
lebte, des Laurenz Müllner, der später dann zur
philosophischen Fakultät überging. Und man braucht nur die
Schriften von Marie Eugenie delle Grazie zu lesen und wird
gleich sehen, daß Müllner keineswegs die Absicht hatte, sie
unter jesuitischen Einfluß zu bringen. Aber man kam da auch mit
allerlei Universitätsprofessoren zusammen. Darunter war einer,
der grundgelehrt war in der Semitologie, den semitischen
Sprachen, und der ein tiefer Kenner des Alten Testamentes war, Wilhelm
Neumann. Er war ein grundgelehrter Herr, von dem man sagte,
daß er die ganze Welt und «noch drei Dörfer» darüber kenne.
Aber die Gespräche, die ich mit ihm führte und die mir
bedeutsam waren, das waren die, welche sich auf das Christentum
bezogen. Was damals von diesem Gelehrten über das Christentum
gesprochen wurde, bezog sich einmal auf die Frage der «Conceptio
immaculata», der unbefleckten Empfängnis. Ich versuchte ihm zu
beweisen, daß eine völlige Inkonsequenz in diesem Dogma
vorhanden ist, bei dem es sich ja nicht nur handelt um die
unbefleckte Empfängnis der Maria, sondern auch um die der
Mutter der Maria, der heiligen Anna ... da müsse man ja dann
immer weiter hinaufgehen. Nun war er aber einer jener Theologen,
dem der «Theologe» so gar nicht im Nacken saß, ein durchaus
freisinniger Theologe, — und er fügte hinzu: «Das können
wir nun nicht tun; denn da kämen wir nach und nach beim Davidl
an, und da würde die Sache schlimm werden.»
In diesem Tone
bewegten sich überhaupt die Gespräche in dem Hause des
Professors Müllner beim «Jour» von delle Grazie. Müllner war
ein sarkastischer Geist, und auch die Professoren waren
freisinnige Männer. Was von der anderen Seite hereinleuchtete,
kam eigentlich nur von einem Mann, der etwas von jesuitischem
Geist hatte, der nachher dann ein tragisches Ende genommen hat.
Bei einem Schiffbruch in der Adria ertrank er. Dieser Mann war
ein Kirchenhistoriker der Wiener Universität. Er sprach wenig,
aber was er sprach, war nicht geeignet, das andere Element
günstig zu vertreten. Denn es war über ihn das Gerücht im
Umlauf, daß er des Abends, wenn es finster geworden war, aus
Furcht nicht mehr auf die Straße gehe, weil dann die Freimaurer
umgingen. Der konnte also nicht ein besonderes Interesse für
den Jesuitismus erwecken, einmal, weil er kein guter
Kirchenhistoriker war, und dann auch wegen solchen Geredes. Vor
der Dämmerung verschwand er auch tatsächlich immer.
Redakteur der «Deutschen Wochenschrift»
Es bot sich
damals auch Gelegenheit, etwas gründlicher in die
österreichischen politischen Verhältnisse hineinzukommen, und
dies geschah dadurch, daß die von Heinrich Friedjung begründete
«Deutsche Wochenschrift» von mir redigiert werden
konnte. Diese vertrat einen entschieden liberalen Standpunkt in
bezug auf die österreichischen Verhältnisse, den jeder
studieren kann, wenn er sich bekannt macht mit dem, was bei
Friedjung vorhanden war. Diese Zeit brachte Rudolf Steiner auch
mit den übrigen politischen Verhältnissen und
Persönlichkeiten in Berührung. Jene redaktionelle Tätigkeit
fiel zwar sehr kurz aus, aber sie fiel in eine sehr wichtige
Zeit: nachdem der Battenberger aus Bulgarien vertrieben war und
der neue Fürst von Bulgarien sein Amt angetreten hatte. Damit
war die Signatur dafür gegeben, wie man sich ein zutreffendes
Bild von den kulturpolitischen Verhältnissen zu machen hatte.
Robert Hamerling
Nun erschien in
jener Zeit ein Werk, das ganz bedeutsam ist, wenn es auch von
manchen nicht für ein solches gehalten werden mag, nämlich der
«Homunkulus» von Robert Hamerling. Besonders
bedeutsam für den, dessen Lebensverhältnisse hier geschildert
werden sollen, war der «Homunkulus» noch deshalb, weil Rudolf
Steiner schon früher mit Hamerling bekannt geworden war. Denn
obwohl in Kraljevec geboren, stammte seine Familie doch aus
Niederösterreich und zwar aus dem sogenannten «Bandlkramerlandl»,
wo man die Leute mit dem Bündel auf dem Rücken die dort
verfertigten Bänder herumtragen sieht. Dorther stammte die
Familie. Und wie es so ist, werden die Familien in solchen
Berufsverhältnissen überallhin verschlagen, und der Knabe kam
nie zurück nach Niederösterreich. Aber er war doch in einer
gewissen Beziehung dadurch herstammend aus demselben «Bandlkramerlandl»,
woher auch Hamerling stammt.
Man hat ja
Hamerling nicht besonderes Verständnis entgegengebracht. Aber
bei ihm könnte man sagen, daß er, wenn auch nicht eine
jesuitische, so doch eine Klostererziehung genossen hat. Nicht
aber ist das der Fall bei dem, der hier vor Ihnen steht.
Anerkannt hat man ja Robert Hamerling auch nicht, denn als er
später einmal seine Heimat wieder besuchte und in dem dortigen
Gasthof zu dem Wirt sagte, er sei Hamerling, da hat ihm dieser
entgegnet: «Nun Sie. .. Sie Hammerling, Sie Schwammerling
...»
Es war
Veranlassung genommen worden, die «Erkenntnistheorie der
Goetheschen Weltanschauung» an Hamerling zu senden. Wie sie
Hamerling aufgenommen hat, das kann einem Urteil entnommen
werden aus der «Atomistik des Willens», wo sie gerade
in einem wichtigsten Kapitel — in dem Kapitel über die Natur
der mathematischen Urteile — in einer, wie mir auch heute
erscheint, völlig originellen Weise verwendet worden ist. Es
fand — wenn auch nicht besonders lange — doch ein
Briefwechsel mit Robert Hamerling statt, der für Rudolf Steiner
in gewisser Beziehung wichtig war, weil er nach einem Briefe,
den er an Hamerling geschrieben hatte, von diesem feinen
Stilisten gesagt bekam, daß er einen außerordentlich schönen
Stil schreibe, ein gewisses Talent habe, mit Kraft das
darzustellen, was er darstellen wolle. Das war außerordentlich
wichtig für Rudolf Steiner, weil er sich doch in diesen Jahren
noch nicht viel zutraute, sich jetzt aber in bezug auf diese
Frage des Stils in der Darstellung durch Robert Hamerling mehr
zutraute als vorher. Es mußte ja notwendigerweise vorher
erwähnt werden, daß der Knabe bis zum dreizehnten, vierzehnten
Jahre grammatikalisch und orthographisch recht wenig richtig hat
schreiben können und daß ihm nur der Inhalt seiner Aufsätze
über die Fehler in der Grammatik und Orthographie
hinweggeholfen hat.
Als nun die
Goethe-Ausgabe [Kürschner] sich ihrem Abschluß nahte
und als Rudolf Steiner im Unterricht mit seien zu
erziehenden Buben die humanistisch-antike Kultur nachholend sich
angeeignet hatte, kam die Zeit, wo er promovieren konnte. Er
hatte auch noch einen wirklich künstlerisch-architektonischen
Blick gewinnen können durch den Umstand, daß damals in Wien
die großen Architekten lebten, mit denen er auch dadurch
Beziehungen hatte, daß er an der Wiener Hochschule mit ihnen
persönlich bekannt wurde. Es sei nur erwähnt, daß damals in
Wien die Votivkirche, das Rathaus, das Parlamentsgebäude und
anderes gebaut wurde. Dadurch konnte man vieles in sich anregen
von Zusammenhängen mit der Kunst. In jenen Zeiten gab es auch
— worauf auch hingewiesen werden darf — heftige Debatten mit
den enragierten Wagner-Anhängern, denn der, von dem hier die
Rede ist, konnte und mußte sich nur mit aller Mühe durchringen
zur Anerkennung Richard Wagners, — zu einer Anerkennung, die
ja von anderen Darstellungen her bekannt ist.
Es spielt auch in
jene Zeit noch hinein die Bekanntschaft mit einer geistigen
Strömung, die eigentlich, trotzdem sie schon früher begonnen
hat, in Europa doch damals erst auftauchte. Es ist die
Bekanntschaft mit dem, was H. P. Blavatskj als
theosophische Richtung verbreitet hat. Und der, von dem hier die
Rede ist, darf darauf hinweisen, daß er wohl einer der ersten
Käufer des «Esoterischen Buddhismus» von A. P.
Sinnet wie auch des Buches von Mabel Collins «Licht auf
den Weg» war. Einer bekannten Dame, die damals sehr schwer
krank war, brachte er dieses Buch gleich nach seinem Erscheinen
ans Krankenbett. Auch einem Manne brachte er es, der von ihm
für das österreichische Offiziersexamen in Integralrechnung
und Mathematik vorbereitet werden mußte. Er wohnte im Hause der
Familie, wo die sehr schwerkranke Dame war.
Damals
traten mir auch die Wiener Vertreter der theosophischen Bewegung
nahe. Mit allem, was sich in dieser Zeit um den vor kurzem
verstorbenen Franz Hartmann gruppierte, und auch mit
anderen Theosophen kam der, von dem hier die Rede ist, in einen
recht freundschaftlichen und intimen Verkehr. Das war in den
Jahren 1884—1885, als die theosophische Bewegung überhaupt
erst anfing, bekannt zu werden. Nur war es dazumal dem, von dem
hier gesprochen wird, nicht möglich, sich dieser Bewegung
anzuschließen, trotzdem er sie sehr genau kannte, weil das
ganze Gebaren und das ganze Gehabe der Leute, das gewissermaßen
Unechte — das soll hier nur als Terminus technicus gebraucht
werden — doch nicht vereinbar war mit dem, was sich doch
schließlich bei dem hier Geschilderten herausgebildet hatte an
einer im Sinnenleben verankerten wissenschaftlichen Exaktheit
und Genauigkeit. Das soll nicht ein Selbstlob sein, sondern ich
will es mehr dem zuschreiben, was sich als Resultat aus der
Gelehrsamkeit unserer Zeit ergibt. Was man auch sonst gegen
diese Gelehrsamkeit einzuwenden
hat, — das kann nicht eingewendet werden, daß nicht die
größte, geschärfteste Logik gerade aus ihr hervorkommen
könnte. So kam es, daß der, von dem hier die Rede ist, zu dem
persönlich wertvollen Menschen, der sich später ganz abwendete
von der theosophischen Richtung, zu Rosa Mayreder, in
Beziehung trat. Er lernte dort auch äußerlich historisch die
ganze Richtung genau kennen, aber er konnte nichts damit zu tun
haben und kam erst dazu, praktisch sozusagen, das, was er auch
theoretisch zu sagen hatte, anzuwenden, als er veranlaßt war,
sich zu vertiefen in Goethes «Märchen von der grünen
Schlange und der schönen Lilie». Um dieses Märchen zu
kommentieren, betätigte er sich zuerst praktisch mit dem, was
seit der erwähnten ersten okkulten Erscheinung immer in seiner
Seele gelebt hatte. Das war im Jahre 1888, nachdem er vorher
gründlich die theosophische Bewegung kennengelernt hatte, aber
sich ihr äußerlich nicht hatte anschließen können, obgleich
er wertvolle Menschen dort kennengelernt hatte.
Arnold Böcklin Ausstellung
Eines tiefen
Eindruckes soll noch gedacht werden, eines Eindruckes bei einer
Kunstausstellung in Wien, wo im Jahre 1888 von dem, dessen Leben
hier dargestellt wird, zum ersten Male Werke von Böcklin gesehen
wurden, nämlich «Pieta», «Im Spiel der Wellen»,
«Frühlingsstimmung» und die «Quellnymphe». Das waren Werke,
die ihm einen Anlaß gaben, sich dann auch bleibend mit den
Ideen über Malerei zu beschäftigen, weil er
selbstverständlich der Sache auf den Grund kommen wollte —
ähnlich wie es auch mit Richard Wagner war, wo der
Ausgangspunkt die erwähnten Debatten waren —, um sich dann
auch auf dieses Gebiet der Kunst ganz besonders einzulassen, was
in Weimar später seinen Fortgang fand.
Weimar
Arbeit am Goethe-Schiller-Archiv
Nachdem der zu
Schildernde so weit war, ergab sich, daß an einzelne Gelehrte
die Mitarbeiterschaft an der großen Weimarschen
Goethe-Ausgabe verteilt wurde. Bei denjenigen, die dazumal
im Auftrage der Groß. Herzogin von Weimar die einzelnen
Arbeiten zu verteilen hatten, stellte sich die Idee heraus, ihm
zuerst bloß die Goethesche «Farbenlehre» zu übertragen.
Später aber, als Rudolf Steiner nach Weimar kam, um dort die
«Farbenlehre» zu bearbeiten, wurde ihm dann auch — besonders
dadurch, daß er in ein herzliches und inniges Verhältnis zu
dem so tragisch geendeten Bernhard Suphan kam — gerade
die Ausarbeitung der naturwissenschaftlichen Werke Goethes
übergeben. So begann jene Weimarsche Zeit, in der von dem
Darzustellenden eine naturwissenschaftlich-philologische
Tätigkeit entwickelt worden ist. Auf eine eigentliche
philologische Tätigkeit ist aber der Betreffende nie besonders
stolz gewesen, er könnte selbst viele Fehler in dieser
Beziehung nachweisen und will manches, was ihm als Schnitzer
passiert ist, nicht beschönigen.
Nachdem nun
Rudolf Steiner in das alte Goethe-Schiller-Archiv eingezogen
war, machte er andere, wichtige Erfahrungen. Es kamen immer
wieder in- und ausländische Gelehrte, auch von Amerika
herüber, so daß dieses Goethe-Schiller-Archiv ein Sammelpunkt
für die mannigfaltigste Gelehrsamkeit wurde. Weiter war die
Möglichkeit gegeben, das Entstehen einer wunderbar idealen
Anstalt zu sehen; denn es war die Zeit, wo das neue
Goethe-Schiller-Archiv jenseits der Ilm gebaut wurde. Zugleich
war einzigartige Gelegenheit da, sich einzuleben in alte
Erinnerungen, die sich noch an die Goethe-Schiller-Zeit
knüpften. Und es war auch, weil Weimar wirklich der Sammelpunkt
von mancherlei künstlerischen Interessen war — auch Richard
Strauß hat dort angefangen —, Gelegenheit, mit den
verschiedensten künstlerischen Interessen ganz
zusammenzuwachsen.
Nachdem
das
«Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie»
durch Rudolf Steiner interpretiert war, trat intensive Arbeit
an Goethe stark in den Vordergrund des Interesses. Doch neben
der Vertiefung in Goethe arbeitete er damals auch die «Philosophie
der Freiheit» aus; die Abhandlung über «Wahrheit
und Wissenschaft» brachte er bereits nach Weimar
mit. Einige Male fuhr er noch nach Wien, einmal, um dort Vortrag
zu halten über das «Märchen von der grünen Schlange und der
schönen Lilie»; ein zweites Mal, um in einem wissenschaftlichen
Klub einen Vortrag zu halten über die Beziehungen des Monismus
zu einer spirituelleren, realeren Richtung. Das war 1893. Das
Referat ist zu lesen in den «Monatsblättern
des Wissenschaftlichen Clubs in Wien». Rudolf
Steiner behandelte in diesem Vortrag in einer ausführlichen
Weise das Verhältnis der Philosophie zur Naturwissenschaft.
Der Vortrag klang dann aus in eine deutliche Schilderung seines
Verhältnisses zu Ernst Haeckel und hob alles hervor,
was Steiner Ablehnendes über Haeckel zu sagen hatte. —
Epilog
Es ist nun
die Zeit schon weit vorgerückt, so daß es nicht möglich ist,
über das Folgende ebenso ausführlich zu sprechen wie über das
Vorangegangene. Es ist das auch nicht nötig. Aber Sie könnten,
wenn Sie noch viel mehr durchforschen, was sich bis zur Weimarer
Zeit zugetragen hat, und den Verhältnissen nachgehen würden
— abgesehen davon, daß die Dinge genugsam für sich sprechen
—, überall die deutlichsten Beweise dafür finden, was es
für eine tolle Verkehrung der Wahrheit ist, wenn jene
sonderbare Beschuldigung erhoben worden ist, die jetzt auch
wieder von der Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft bei
einem besonderen Anlaß vorgebracht worden ist, ich sei «von
den Jesuiten erzogen» worden. Es wurde mir eben ein Heft der «Stimmen
aus Maria-Laach» überreicht, die bekanntlich von Jesuiten
herausgegeben werden, worin sich die Besprechung eines Buches
findet, das über Theosophie handelt und das einen merkwürdigen
Gegensatz enthält. Es ist nämlich ein Buch erschienen, das
sich gegen Theosophie wendet, von einem jesuitischen Pater
verfaßt. Am Ende der Besprechung heißt es: der erste Teil des
Buches beschäftige sich mit der Bewegung im allgemeinen, der
zweite gehe ins einzelne, widerlege die träumerische
Theosophie. Es sei ein Buch, geschrieben gegen die Theosophie
und ihr gegenübergestellt die wirklich christliche Lehre über
Christus. Die Werke, auf welche sich der Kritiker der Theosophie
zumeist beziehe, seien Rudolf Steiners, des «dem Vernehmen
nach abgefallenen Priesters» und jetzigen
Generalsekretärs der deutschen Sektion der
Theosophischen Gesellschaft, «Christentum als mystische
Tatsache» und Mrs. Besants, der Präsidentin der Theosophischen
Gesellschaft, «Esoterisches Christentum»; beide Bücher in der
italienischen Übersetzung. Daß Rudolf Steiner ein
«abgefallener Priester» sei, das steht also sogar in der
jesuitischen Zeitschrift selbst, in den «Stimmen aus
Maria-Laach», so daß die Jesuiten die Ehre der Verbreitung
dieser Behauptung für sich selbst in Anspruch nehmen können.
Wie aber Alter nicht vor Torheit schützt, so schützt auch der
Jesuitismus niemanden davor, eine objektive Unwahrheit
ungerechterweise zur Behauptung zu erheben. Und wenn eine solche
Verdrehung der Tatsachen sogar von den Jesuiten selbst
verbreitet wird, so sollte das für Mrs. Besant erst recht ein
Grund sein — könnte man meinen —, um demgegenüber
mißtrauisch zu sein. Aber Mrs. Besant führt diese Dinge noch
weiter aus, und sie werden weitergetragen. Ich mußte sogar
einmal, als ich in Graz war, vom Podium aus diesen Dingen selbst
entgegentreten. Es wird ja auch behauptet, ich hätte in
Kalksburg, in der Nähe von Wien, eine jesuitische Erziehung
erhalten. Das Stift Kalksburg habe ich niemals gesehen, trotzdem
meine Angehörigen nur drei bis vier Stunden davon entfernt
waren. Und den anderen Ort — Bojkowitz —, der in gleichem
Zusammenhang genannt wird, habe ich überhaupt erst in diesen
Tagen dem Namen nach kennengelernt.
Alle diese
Einzelheiten, die Ihnen zu erzählen ich als eine
Art Zumutung betrachte, werden Ihnen wohl die Erklärung dafür
geben, wie recht man hat, wenn man die Zeit bedauert, die man
auf Zurückweisung solcher törichter Vorwürfe zu verschwenden
hat. Wenn aber dieser Vorwurf jetzt erhoben wird von seilen der
Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft, so liegt doch die
Notwendigkeit vor, gegenüber jener Behauptung den
tatsächlichen Verlauf meiner Jugenderziehung ins Feld zu
führen, zu schildern, wie sie wirklich verlaufen ist, nämlich
als eine Art von Selbsterziehung. Alles, was ich Ihnen erzählt
habe — von dem Knaben, von dem Jüngling und von dem späteren
Mann Rudolf Steiner —, kann dokumentarisch belegt werden, und
die Tatsachen werden in jeder Einzelheit das ganz Törichte und
Unsinnige jener aufgestellten Behauptungen erweisen. Über ihre
moralische Bewertung brauchen wir uns nicht zu ergehen. Was
gesagt ist und was über das Spätere noch gesagt werden kann,
das sind Tatsachen, das kann jederzeit nachgeprüft werden,
dafür kann eingetreten werden. Aber die Frage kann erhoben
werden: Mit welchem Recht und von welchen Quellen aus spricht
Mrs. Besant von dem, was sie über meine «Jugenderziehung»
sagt, von der ich mich «genügend frei zu machen nicht fähig
gewesen sei»? Und mit welchem Recht und von welchen Quellen aus
werden ihre Anhänger vielleicht — da sie sich um die
Einwände, die hier gemacht werden, nicht kümmern — diese
Dinge weiter behaupten? Vielleicht werden sogar einige Menschen
darauf kommen, zu sagen: «Aber Mrs. Besant ist hellsichtig und
hat daher vielleicht alles gesehen, was sie in die grandiosen
Worte zusammenfaßt ,er hat sich von seiner Jugenderziehung
nicht genügend frei zu machen vermocht'». — Da wäre es wohl
besser, das einmal zu korrigieren, was von Mrs. Besants
Hellsehertum stammt, und dieses Hellsehertum gerade an einem
solchen Faktor zu prüfen. Es gibt keinen anderen Weg, um gegen
jenes «Hellsehertum» aufzutreten, als die Tatsachen
anzuführen. Und ich mußte am Ausgangspunkte unserer
anthroposophischen Bewegung denjenigen, die zu uns stehen
wollen, schon einmal die Zumutung stellen, sich die Tatsachen
anzuhören, die alle im einzelnen belegt werden können und
denen nachgegangen werden kann.
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