1883
|
Karl
Julius Schröer
Zu
Gedanken über das öffentliche Leben Österreichs, die in irgend einer
Art tiefer in meine Seele eingegriffen hätten, konnte ich damals
nicht kommen. Es blieb beim Beobachten der außerordentlich
komplizierten Verhältnisse. Aussprachen, die mir tieferes Interesse
abgewannen, konnte ich nur mit Karl Julius Schröer haben. Ich durfte
ihn gerade in dieser Zeit oft besuchen. Sein eigenes Schicksal hing
eng zusammen mit dem der Deutschen Österreich-Ungarns. Er war der
Sohn Tobias Gottfried Schröers, der in Preßburg ein deutsches Lyzeum
leitete und Dramen, sowie geschichtliche und ästhetische Bücher
schrieb. Die letzteren sind mit dem Namen Chr. Oeser erschienen
und waren beliebte Unterrichtsbücher. Die Dichtungen Tobias Gottfried
Schröers sind, trotzdem sie zweifellos bedeutend sind und in engeren
Kreisen große Anerkennung fanden, nicht bekannt geworden. Die Gesinnung,
die sie atmeten, stand der herrschenden politischen Strömung in
Ungarn entgegen. Sie mußten ohne Verfassernamen zum Teil im deutschen
Auslande erscheinen. Wäre die geistige Richtung des Verfassers in
Ungarn bekannt geworden, so hätte dieser nicht nur der Entlassung
aus dem Amte, sondern sogar einer harten Bestrafung gewärtig sein
müssen.
Karl Julius
Schröer erlebte so den Druck auf das Deutschtum schon in
seiner Jugend im eigenen Hause. Unter diesem Druck entwickelte
er seine intime Hingabe an deutsches Wesen und deutsche
Literatur, sowie eine große Liebe zu allem, was an und um
Goethe war. Die «Geschichte der deutschen Dichtung» von
Gervinus war von tiefgehendem Einfluß auf ihn.
TB 636 (V.), S
67
«Deutsche
Weihnachtsspiele aus Ungarn»
Er ging in den
vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts nach
Deutschland, um an den Universitäten von Leipzig, Halle und
Berlin deutsche Sprach- und Literaturstudien zu treiben. Nach
seiner Rückkehr war er zunächst am Lyzeum seines Vaters als
Lehrer der deutschen Literatur und Leiter eines Seminars
tätig. Er lernte nun die volkstümlichen Weihnachtsspiele,
die alljährlich von den deutschen Kolonisten in der Umgebung
von Preßburg gespielt wurden, kennen. Da war deutsches
Volkstum in
für ihn tief sympathischer Art vor seiner Seele. Die vor
Jahrhunderten aus westlicheren Gegenden in Ungarn
eingewanderten Deutschen hatten sich diese Spiele aus der
alten Heimat mitgebracht und spielten sie so weiter, wie sie
sie um das Weihnachtsfest in alten Zeiten in Gegenden, die
wohl in der Nähe des Rheines gelegen waren, aufgeführt
hatten. Die Paradieseserzählung, die Geburt Christi, die
Erscheinung der drei Könige lebten auf volkstümliche Art in
diesen Spielen. Schröer veröffentlichte sie dann nach dem
Anhören oder nach der Einsichtnahme in die alten Manuskripte,
die er bei den Bauern zu sehen bekam, unter dem Titel
«Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungarn».
Das liebevolle
Einleben in deutsches Volkstum nahm Schröers Seele immer mehr
in Anspruch. Er machte Reisen, um die deutschen Mundarten in
den verschiedensten Gebieten Österreichs zu studieren.
Überall, wo deutsches Volkstum in den slawischen,
magyarischen, italienischen Landesteilen der Donaumonarchie
eingestreut war, wollte er dessen Eigenart kennen lernen. So
entstanden seine Wörterbücher und Grammatiken der Zipser
Mundart, die im Süden der Karpaten heimisch war, der
Gottscheer Mundart, die bei einem kleinen deutschen Volksteil
in Krain lebte, der Sprache der Heanzen, die im westlichen
Ungarn gesprochen wurde.
Für Schröer
waren diese Studien niemals eine bloß wissenschaftliche
Aufgabe. Er lebte mit ganzer Seele in den Offenbarungen des
Volkstums und wollte dessen Wesen durch Wort und Schrift zum
Bewußtsein derjenigen Menschen bringen, die aus ihm durch das
Leben herausgerissen sind. Er wurde dann Professor in
Budapest. Da konnte er sich der damals herrschenden Strömung
gegenüber nicht wohl fühlen. So übersiedelte er denn nach
Wien, wo ihm zunächst die Leitung der evangelischen Schulen
übertragen und wo er später Professor für deutsche Sprache
und Literatur wurde. Als er schon diese Stellung innehatte,
durfte ich ihn kennen lernen und ihm näher treten. In der
Zeit, da dies geschah, war sein ganzes Sinnen und Leben Goethe
zugewendet. Er arbeitete an der Ausgabe und Einleitung des
zweiten Teiles des «Faust» und hatte den ersten Teil bereits
erscheinen lassen.
Wenn ich zu
Besuchen in die kleine Bibliothek Schröers kam, die zugleich
sein Arbeitszimmer war, fühlte ich mich in einer geistigen
Atmosphäre, die meinem Seelenleben in starkem Maße wohltat.
Ich wußte schon damals, wie Schröer von den Bekennern der
herrschend gewordenen literarhistorischen Methoden wegen
seiner Schriften, namentlich wegen seiner «Geschichte der
deutschen Dichtung im neunzehnten Jahrhundert» angefeindet
wurde. Er schrieb nicht so wie etwa die Mitglieder der
Scherer-Schule, die wie ein Naturforscher die literarischen
Erscheinungen behandelten. Er trug gewisse Empfindungen und
Ideen über die literarischen Erscheinungen in sich und sprach
diese rein menschlich aus, ohne viel das Auge im Zeitpunkt des
Schreibens auf die «Quellen» zu lenken. Man hat sogar
gesagt, er habe seine Darstellung «aus dem Handgelenk
hingeschrieben».
Mich
interessierte das wenig. Ich erwärmte geistig, wenn ich bei
ihm war. Ich durfte stundenlang an seiner Seite sitzen. Aus
seinem begeisterten Herzen lebten in seiner mündlichen
Darstellung die Weihnachtsspiele, der Geist der deutschen
Mundarten, der Verlauf des literarischen Lebens auf. Das
Verhältnis der Mundart zu der Bildungssprache wurde mir
praktisch anschaulich. Eine wahre Freude hatte ich, als er
mir, was er auch schon in Vorlesungen getan hatte, von dem
Dichter in niederösterreichischer Mundart, Joseph Misson,
sprach, der die herrliche Dichtung «Da Naaz, a
niederösterreichischer Baurnbua, geht ind Fremd» geschrieben
hat. Schröer gab mir dann immer Bücher aus seiner Bibliothek
mit, in denen ich weiterverfolgen konnte, was Inhalt des
Gespräches war. Ich hatte wirklich immer, wenn ich so allein
mit Schröer saß, das Gefühl, daß noch ein Dritter anwesend
war: Goethes Geist. Denn Schröer lebte so stark in Goethes
Wesen und Werken, daß er bei jeder Empfindung oder Idee, die
in seiner Seele auftraten, sich gefühlsmäßig die Frage
vorlegte: Würde Goethe so empfunden oder gedacht haben?
TB 636 (V.), S
67 ff
Rudolf Steiners
«objektiver Idealismus»
Ich
hörte geistig mit der allergrößten Sympathie alles, was von Schröer
kam. Dennoch konnte ich nicht anders, als auch ihm gegenüber, das,
wonach ich geistig intim strebte, in der eigenen Seele ganz unabhängig
aufbauen. Schröer war Idealist; und die Ideenwelt
als solche war für ihn das, was in Natur- und Menschenschöpfung
als treibende Kraft wirkte. Mir war die Idee der Schatten einer
voll-lebendigen Geisteswelt. Ich fand es damals sogar schwierig,
für mich selbst den Unterschied zwischen Schröers und meiner Denkungsart
in Worte zu bringen. Er redete von Ideen als von den treibenden
Mächten in der Geschichte. Er fühlte Leben in dem Dasein der Ideen.
Für mich war das Leben des Geistes hinter den Ideen, und
diese nur dessen Erscheinung in der Menschenseele. Ich konnte damals
kein anderes Wort für meine Denkungsart finden als «objektiver
Idealismus». Ich wollte damit sagen,
daß für mich das Wesentliche an der Idee nicht ist, daß sie
im menschlichen Subjekt erscheint, sondern daß sie wie etwa die
Farbe am Sinneswesen an dem geistigen Objekte erscheint,
und daß die menschliche Seele - das Subjekt - sie da wahrnimmt,
wie das Auge die Farbe an einem Lebewesen.
Meiner
Anschauung kam aber Schröer in hohem Grade mit seiner
Ausdrucksform entgegen, wenn wir das besprachen, was sich als
«Volksseele» offenbart. Er sprach von dieser als von einem
wirklichen geistigen Wesen, das sich in der Gesamtheit der
einzelnen Menschen, die zu einem Volke gehören, darlebt. Da
nahmen seine Worte einen Charakter an, der nicht bloß auf die
Bezeichnung einer abstrakt gehaltenen Idee ging. Und so
betrachteten wir beide das Gefüge des alten Österreich und
die in demselben wirksamen Individualitäten der Volksseelen.
- Von dieser Seite war es mir möglich, Gedanken über die
öffentlichen Zustände zu fassen, die tiefer in mein
Seelenleben eingriffen.
So hing ganz
stark in der damaligen Zeit mein Erleben mit meinem
Verhältnis zu Karl Julius Schröer zusammen. Was ihm aber
ferner lag, und womit ich vor allem nach einer innerlichen
Auseinandersetzung strebte, das waren die Naturwissenschaften.
Ich wollte auch meinen «objektiven Idealismus» im Einklänge
mit der Naturerkenntnis wissen.
Es war in der
Zeit meines lebhaftesten Verkehrs mit Schröer, als mir die
Frage nach dem Verhältnis von geistiger und natürlicher Welt
in erneuerter Art vor die Seele trat. Es geschah dies
zunächst noch ganz unabhängig von Goethes
naturwissenschaftlicher Denkungsart. Denn auch Schröer konnte
mir nichts Entscheidendes über dieses Gebiet Goethe'schen
Schaffens sagen. Er hatte seine Freude darüber, wenn er bei
diesem oder jenem Naturforscher eine wohlwollende Anerkennung
von Goethes Betrachtung des Pflanzen- und Tierwesens fand.
Für die Farbenlehre Goethes traf er aber überall bei
naturwissenschaftlich Gebildeten entschiedene Ablehnung. So
entwickelte er nach dieser Richtung keine besondere Meinung.
TB 636 (V.), S
69 ff
Naturwissenschaft
Das Licht als
übersinnliche Wesenheit
Mein
Verhältnis zur Naturwissenschaft wurde in dieser Zeit meines
Lebens, trotzdem ich im Umgange mit Schröer an Goethes
Geistesleben nahe herankam, von dieser Seite her nicht
beeinflußt. Es bildete sich vielmehr an den Schwierigkeiten
aus, die ich hatte, wenn ich die Tatsachen der Optik im Sinne
der Physiker nachdenken sollte.
Ich fand, daß
man das Licht und den Schall in der naturwissenschaftlichen
Betrachtung in einer Analogie dachte, die unstatthaft ist. Man
sprach von «Schall im Allgemeinen» und «Licht im
Allgemeinen». Die Analogie lag im Folgenden: man sieht die
einzelnen Töne und Klänge als besonders modifizierte
Luftschwingungen an, und das Objektive des Schalles, außer
dem menschlichen Erlebnis der Schallempfindung, als einen
Schwingungszustand der Luft. Ähnlich dachte man für das
Licht. Man definierte, was außer dem Menschen sich abspielt,
wenn er eine durch das Licht bewirkte Erscheinung wahrnimmt,
als Schwingung im Äther. Die Farben sind dann besonders
gestaltete Ätherschwingungen. Mir wurde damals diese Analogie
zu einem wahren Peiniger meines Seelenlebens. Denn ich
vermeinte, völlig im klaren darüber zu sein, daß der
Begriff «Schall» nur eine abstrakte Zusammenfassung
der einzelnen Vorkommnisse in der tönenden Welt ist, während
«Licht» für sich ein Konkretes gegenüber den Erscheinungen
in der beleuchteten Welt darstellt. — «Schall» war für
mich ein zusammengefaßter abstrakter Begriff, «Licht» eine
konkrete Wirklichkeit. Ich sagte mir, das Licht wird gar nicht
sinnlich wahrgenommen; es werden «Farben» wahrgenommen durch
Licht, das sich in der Farbenwahrnehmung überall
offenbart, aber nicht selbst sinnlich wahrgenommen wird.
«Weißes» Licht ist nicht Licht, sondern schon eine Farbe.
So wurde mir
das Licht eine wirkliche Wesenheit in der Sinneswelt, die
aber selbst außersinnlich ist. Es trat nun der Gegensatz des
Nominalismus und Realismus vor meiner Seele auf, wie er sich
innerhalb der Scholastik ausgebildet hat. Man behauptete bei
den Realisten, die Begriffe seien Wesenhaftes, das in den
Dingen lebt und nur von der menschlichen Erkenntnis aus ihnen
herausgeholt wird. Die Nominalisten faßten dagegen die
Begriffe nur als vom Menschen geformte Namen auf, die
Mannigfaltiges in den Dingen zusammenfassen, in diesen selbst
aber kein Dasein haben. Ich empfand nun, man müsse die
Schall-Erlebnisse auf nominalistische und die Erlebnisse, die
durch das Licht da sind, auf realistische Art ansehen.
Ich trat mit
dieser Orientierung an die Optik der Physiker heran. Ich
mußte in dieser vieles ablehnen. Da gelangte ich zu
Anschauungen, die mir den Weg zu Goethes Farbenlehre bahnten.
Von dieser Seite her öffnete ich mir das Tor zu Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften. Ich brachte zunächst
kleine Abhandlungen, die ich aus meinen
naturwissenschaftlichen Anschauungen heraus schrieb, zu
Schröer. Er konnte damit nicht viel machen. Denn sie waren
noch nicht aus Goethes Anschauungsart heraus gearbeitet,
sondern ich hatte am Schlüsse nur die kurze Bemerkung
angebracht: wenn man dazu kommen werde, über die Natur so zu
denken, wie ich es dargestellt habe, dann erst werde Goethes
Naturforschung in der Wissenschaft Gerechtigkeit widerfahren.
Schröer hatte innige Freude, wenn ich dergleichen aussprach;
aber darüber hinaus kam es zunächst nicht. Die Situation, in
der ich mich befand, wird wohl durch folgenden Vorfall
charakterisiert. Schröer erzählte mir eines Tages, er habe
mit einem Kollegen gesprochen, der Physiker sei. Ja, sagte
dieser, Goethe habe sich gegen Newton aufgelehnt, und Newton
war doch «solch ein Genie»; darauf habe er, Schröer,
erwidert: aber Goethe sei doch «auch ein Genie» gewesen. So
fühlte ich mich doch wieder mit einer Rätselfrage, mit der
ich rang, ganz allein.
In den
Anschauungen, die ich über die physikalische Optik gewann,
schien sich mir die Brücke zu bauen von den Einsichten in die
geistige Welt zu denen, die aus der naturwissenschaftlichen
Forschung kommen. Ich empfand damals die Notwendigkeit, durch
eigenes Gestalten gewisser optischer Experimente die Gedanken,
die ich über das Wesen des Lichtes und der Farben
ausgebildet hatte, an der sinnlichen Erfahrung zu
prüfen. Es war für mich nicht leicht, die Dinge zu kaufen,
die für solche Experimente notwendig waren. Denn die durch
Privatunterricht erworbenen Mittel waren schmal genug. Was mir
nur irgend möglich war, tat ich, um für die Lichtlehre zu
Experimentanordnungen zu kommen, die wirklich zu einer
vorurteilslosen Einsicht in die Tatsachen der Natur auf diesem
Gebiete führen konnten.
TB 636 (V.), S
71 ff
Studien
im physikalischen Labor von Edmund Reitlinger
Mit
den gebräuchlichen Versuchsanordnungen der Physiker war ich durch
die Arbeiten in dem Reitlingerschen physikalischen Laboratorium
bekannt. Die mathematische Behandlung der Optik war mir geläufig,
denn ich hatte gerade über dieses Gebiet eingehende Studien gemacht.
- Trotz aller Einwände, die von seilen der Physiker gegen die Goethe'sche
Farbenlehre gemacht werden, wurde ich durch meine eigenen Experimente
immer mehr von der gebräuchlichen physikalischen Ansicht zu Goethe
hin getrieben. Ich wurde gewahr, wie alles derartige Experimentieren
nur ein Herstellen von Tatsachen «am Lichte» — um einen Goethe'schen
Ausdruck zu gebrauchen - sei, nicht ein Experimentieren «mit dem
Lichte» selbst. Ich sagte mir: die Farbe wird nicht nach Newton'scher
Denkungsweise aus dem Lichte hervorgeholt; sie kommt zur Erscheinung,
wenn dem Lichte Hindernisse seiner freien Entfaltung entgegengebracht
werden. Mir schien, daß dies aus den Experimenten unmittelbar abzulesen
sei.
Damit aber war
für mich das Licht aus der Reihe der eigentlichen
physikalischen Wesenhaftigkeiten ausgeschieden. Es stellte
sich als eine Zwischenstufe dar zwischen den für die Sinne
faßbaren Wesenhaftigkeiten und den im Geiste anschaubaren.
Ich war
abgeneigt, über diese Dinge mich bloß in philosophischen
Denkvorgängen zu bewegen. Aber ich hielt sehr viel darauf,
die Tatsachen der Natur richtig zu lesen. Und da wurde
mir immer klarer, wie das Licht selbst in den Bereich des
Sinnlich-Anschaubaren nicht eintritt, sondern jenseits
desselben bleibt, während die Farben erscheinen, wenn das
Sinnlich-Anschaubare in den Bereich des Lichtes gebracht wird.
TB 636 (V.), S
73
Goethes
Metamorphosenlehre
Ich
fühlte mich nun genötigt, neuerdings von den verschiedensten Seiten
her an die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse heranzudringen.
Ich wurde wieder zum Studium der Anatomie und Physiologie geführt.
Ich betrachtete die Glieder des menschlichen, des tierischen und
pflanzlichen Organismus in ihren Gestaltungen. Ich kam dadurch in
meiner Art auf die Goethe'sche Metamorphosenlehre. Ich wurde immer
mehr gewahr, wie das für die Sinne erfaßbare Naturbild zu dem hindrängt,
was mir auf geistige Art anschaubar war.
Blickte ich in
dieser geistigen Art auf die seelische Regsamkeit des
Menschen, auf Denken, Fühlen und Wollen, so gestaltete sich
mir der «geistige Mensch» bis zur bildhaften
Anschaulichkeit. Ich konnte nicht stehen bleiben bei den
Abstraktionen, an die man gewöhnlich denkt, wenn man von
Denken, Fühlen und Wollen spricht. Ich sah in diesen inneren
Lebensoffenbarungen schaffende Kräfte, die den «Menschen als
Geist» im Geiste vor mich hinstellten. Blickte ich dann auf
die sinnliche Erscheinung des Menschen, so ergänzte sich mir
diese im betrachtenden Blicke durch die Geistgestalt, die im
Sinnlich-Anschaubaren waltet.
Ich kam auf die
sinnlich-übersinnliche Form, von der Goethe spricht,
und die sich sowohl für eine wahrhaft naturgemäße wie auch
für eine geistgemäße Anschauung zwischen das
Sinnlich-Erfaßbare und das Geistig-Anschaubare einschiebt.
Anatomie und
Physiologie drängten Schritt für Schritt zu dieser
sinnlich-übersinnlichen Form. Und in diesem Drängen fiel
mein Blick zuerst in einer noch ganz unvollkommenen Art auf
die Dreigliederung der menschlichen Wesenheit, von der ich
erst, nachdem ich im stillen dreißig Jahre lang die Studien
über sie getrieben hatte, öffentlich in meinem Buche «Von
Seelenrätseln» zu sprechen begann. Zunächst wurde mir klar,
daß in dem Teile der menschlichen Organisation, in der die
Bildung am meisten nach dem Nerven- und Sinneshaften hin
orientiert ist, die sinnlich-übersinnliche Form auch am
stärksten in dem Sinnlich-Anschaubaren sich ausprägt. Die
Kopforganisation erschien mir als diejenige, an der das
Sinnlich-Übersinnliche auch am stärksten in der sinnlichen
Form zur Anschauung kommt. Die Gliedmaßen-Organisation
dagegen mußte ich als diejenige ansehen, in der sich das
Sinnlich-Übersinnliche am meisten verbirgt, so daß in ihr
die in der außermenschlichen Natur wirksamen Kräfte sich in
die menschliche Bildung hinein fortsetzen. Zwischen diesen
Polen der menschlichen Organisation schien mir alles das zu
stehen, was auf rhythmische Art sich darlebt, die Atmungs- und
Zirkulationsorganisation usw.
Ich fand damals
niemanden, zu dem ich von diesen Anschauungen hätte sprechen
können. Deutete ich da oder dort etwas von ihnen an, so sah
man sie als das Ergebnis einer philosophischen Idee an,
während ich doch gewiß war, daß sie sich mir aus einer
vorurteilsfreien anatomischen und physiologischen
Erfahrungserkenntnis heraus geoffenbart hatten.
In der
Stimmung, die auf meiner Seele aus solcher Vereinsamung mit
Anschauungen lastete, fand ich nur innere Erlösung, indem ich
immer wieder das Gespräch las, das Goethe mit Schiller
geführt hatte, als die beiden aus einer Versammlung der
naturforschenden Gesellschaft in Jena zusammen weggingen. Sie
waren beide darin einig, daß man die Natur nicht in einer so
zerstückelten Art betrachten dürfe, wie das von dem
Botaniker Batsch in dem Vortrage, den sie gehört hatten,
geschehen war. Und Goethe zeichnete vor Schillers Augen mit
ein paar Strichen seine «Urpflanze» hin. Sie stellte durch
eine sinnlich-übersinnliche Form die Pflanze als ein Ganzes
dar, aus dem Blatt, Blüte usw. sich, das Ganze im einzelnen
nachbildend, herausgestalten. Schiller konnte wegen seines
damals noch nicht überwundenen Kant'schen Standpunktes in
diesem «Ganzen» nur eine «Idee» sehen, die sich die
menschliche Vernunft durch die Betrachtung der Einzelheiten
bildet. Goethe wollte das nicht gelten lassen. Er «sah»
geistig das Ganze, wie er sinnlich die Einzelheit sah. Und er
gab keinen prinzipiellen Unterschied zu zwischen der geistigen
und sinnlichen Anschauung, sondern nur einen Übergang von der
einen zur ändern. Ihm war klar, daß beide den Anspruch
erheben, in der erfahrungsgemäßen Wirklichkeit zu stehen.
Aber Schiller kam nicht los davon, zu behaupten: die Urpflanze
sei keine Erfahrung, sondern eine Idee. Da erwiderte denn
Goethe aus seiner Denkungsart heraus, dann sehe er eben seine
Ideen mit Augen vor sich.
Es war für
mich die Beruhigung eines langen Ringens in der Seele, was mir
aus dem Verständnis dieser Goethe-Worte entgegenkam, zu denen
ich durchgedrungen zu sein glaubte. Goethes Naturanschauung
stellte sich mir als eine geistgemäße vor die Seele.
Ich mußte nun,
durch eine innere Notwendigkeit getrieben, Goethes
naturwissenschaftliche Schriften in allen Einzelheiten
durcharbeiten. Ich dachte zunächst nicht daran, eine
Erklärung dieser Schriften zu versuchen, wie ich sie dann
bald in den Einleitungen zu denselben in «Kürschners
Deutscher Nationalliteratur» veröffentlicht habe. Ich dachte
vielmehr daran, irgendein Gebiet der Naturwissenschaft
selbständig so darzustellen, wie mir diese Wissenschaft nun
als «geistgemäß» vorschwebte.
TB 636 (V.), S
74 ff
Tätigkeit als
Privatlehrer
Um an
dergleichen wirklich zu kommen, war mein äußeres Leben in
der damaligen Zeit nicht gestaltet. Ich mußte
Privatunterricht auf den verschiedensten Gebieten geben. Die
«pädagogischen» Situationen, in die ich mich hineinzufinden
hatte, waren mannigfaltig genug. So tauchte einmal ein
preußischer Offizier in Wien auf, der aus irgend einem Grunde
den deutschen Heeresdienst hatte verlassen müssen. Er wollte
sich zum Eintritt in das österreichische Heer als
Genieoffizier vorbereiten. Durch eine besondere
Schicksalsfügung wurde ich sein Lehrer in den mathematischen
und naturwissenschaftlichen Fächern. Ich hatte an diesem
«Unterrichten» die tiefste Befriedigung. Denn mein
«Schüler» war ein ganz außerordentlich liebenswürdiger
Mann, der nach menschlicher Unterhaltung mit mir drängte,
wenn wir die mathematischen und mechanischen Entwickelungen
hinter uns hatten, die er für seine Vorbereitung brauchte. -
Auch in ändern Fällen, so bei absolvierten Studenten, die
sich zum Doktorexamen vorbereiteten, mußte ich namentlich die
mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse
vermitteln.
Ich hatte durch
diese Nötigung, das Naturwissenschaftliche der damaligen Zeit
immer wieder durchzuarbeiten, genug Gelegenheit, mich in die
Zeitanschauungen auf diesem Gebiete einzuleben. Ich konnte ja
im Unterrichten nur diese Zeitanschauungen vermitteln; woran
mir am meisten in bezug auf Natur-Erkenntnis gelegen war,
mußte ich still in mir verschlossen tragen.
Meine
Betätigung als Privatlehrer, die mir in jener Zeit die
einzige Lebensmöglichkeit eröffnete, bewahrte mich vor
Einseitigkeit. Ich mußte vieles aus dem Grunde selbst lernen,
um es unterrichten zu können. So lebte ich mich in die
«Geheimnisse» der Buchhaltung ein, weil ich Gelegenheit
fand, gerade auf diesem Gebiete Unterricht zu erteilen.
Auch auf dem
Gebiete des pädagogischen Denkens kam mir von Schröer die
fruchtbarste Anregung. Er hatte als Direktor der evangelischen
Schulen in Wien jahrelang gewirkt und seine Erfahrungen in dem
liebenswürdigen Büchlein «Unterrichtsfragen»
ausgesprochen. Was ich darinnen las, konnte dann mit ihm
besprochen werden. Er sprach in bezug auf Erziehen und
Unterrichten oft gegen das bloße Beibringen von Kenntnissen,
und für die Entwickelung der ganzen, vollen
Menschenwesenheit.
TB 636 (V.), S
76 f
|