1879
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Studium
in Wien
Meinem Vater
war von der Direktion der Südbahngesellschaft versprochen
worden, daß man ihn nach einer kleinen Station in der Nähe
Wiens berufen werde, wenn ich nach Absolvierung der Realschule
an die technische Hochschule kommen sollte. Mir sollte dadurch
die Möglichkeit gegeben werden, jeden Tag nach Wien und
zurück zu fahren. So kam denn meine Familie nach Inzersdorf
am Wiener Berge. Der Bahnhof stand da, weit vom Orte entfernt,
in völliger Einsamkeit in einer unschönen Naturumgebung.
TB 636 (III.),
S 39
Mein erster Besuch
in Wien nach Ankunft in Inzersdorf wurde dazu benützt, mir eine
größere Zahl von philosophischen Büchern zu kaufen. Dasjenige, dem
nun meine besondere Liebe sich zuwandte, war der erste Entwurf von
Fichtes «Wissenschaftslehre». Ich hatte es mit meiner
Kantlektüre so weit gebracht, daß ich mir eine, wenn auch unreife
Vorstellung von dem Schritte machen konnte, den Fichte über Kant
hinaus tun wollte. Aber das interessierte mich nicht allzu stark.
Mir kam es damals darauf an, das lebendige Weben der menschlichen
Seele in der Form eines strengen Gedankenbildes auszudrücken. Meine
Bemühungen um naturwissenschaftliche Begriffe hatten mich schließlich
dazu gebracht, in der Tätigkeit des menschlichen «Ich» den einzig
möglichen Ausgangspunkt für eine wahre Erkenntnis zu sehen. Wenn
das Ich tätig ist und diese Tätigkeit selbst anschaut, so hat man
ein Geistiges in aller Unmittelbarkeit im Bewußtsein, so sagte ich
mir. Ich meinte, man müsse nun nur, was man so anschaut, in klaren,
überschaubaren Begriffen ausdrücken. Um dazu den Weg zu finden,
hielt ich mich an Fichtes «Wissenschaftslehre». Aber ich hatte doch
meine eigenen Ansichten. Und so nahm ich denn die «Wissenschaftslehre»
Seite für Seite vor und schrieb sie um. Es entstand ein langes Manuskript.
Vorher hatte ich mich damit geplagt, für die Naturerscheinungen
Begriffe zu finden, von denen aus man einen solchen für das «Ich»
finden könne. Jetzt wollte ich umgekehrt von dem Ich aus in das
Werden der Natur einbrechen. Geist und Natur standen damals in ihrem
vollen Gegensatz vor meiner Seele. Eine Welt der geistigen Wesen
gab es für mich. Daß das «Ich», das selbst Geist ist, in einer Welt
von Geistern lebt, war für mich unmittelbare Anschauung. Die Natur
wollte aber in die erlebte Geisteswelt nicht herein.
Von der
«Wissenschaftslehre» ausgehend bekam ich ein besonderes
Interesse für die Fichte'schen Abhandlungen «Über die
Bestimmung des Gelehrten» und «Über das Wesen des
Gelehrten». In diesen Schriften fand ich eine Art Ideal, dem
ich selbst nachstreben wollte. Daneben las ich auch die
«Reden an die deutsche Nation». Sie fesselten mich damals
viel weniger als die ändern Fichte'schen Werke.
Ich wollte aber
nun doch auch zu einem besseren Verständnis Kants kommen, als
ich es bisher hatte gewinnen können. In der «Kritik der
reinen Vernunft» wollte sich mir aber dieses Verständnis
nicht erschließen. So nahm ich es denn mit den «Prolegomena
zu einer jeden künftigen Metaphysik» auf. An diesem Buche
glaubte ich zu erkennen, daß ein gründliches Eingehen auf
alle die Fragen, die Kant in den Denkern angeregt hatte, für
mich notwendig sei. Ich arbeitete nunmehr immer bewußter
daran, die unmittelbare Anschauung, die ich von der
geistigen Welt hatte, in die Form von Gedanken zu
gießen. Und während diese innere Arbeit mich erfüllte,
suchte ich mich an den Wegen zu orientieren, welche die Denker
der Kantzeit und diejenigen in der folgenden Epoche genommen
hatten. Ich studierte den trockenen, nüchternen
«transzendentalen Synthetismus» Traugott Krugs ebenso eifrig
wie ich mich in die Erkenntnistragik einlebte, bei der Fichte
angekommen war, als er seine «Bestimmung des Menschen»
schrieb. Die «Geschichte der Philosophie» des Herbartianers
Thilo erweiterte meinen Blick von der Kantzeit aus über die
Entwickelung des philosophischen Denkens. Ich rang mich zu
Schelling, zu Hegel durch. Der Gegensatz des Denkens bei
Fichte und Herbart trat mit aller Intensität vor meine Seele.
TB 636 (III.),
S 39 f
Beginn
des Studiums an der Technischen Hochschule in Wien
Die
Sommermonate im Jahre 1879, vom Ende meiner Realschulzeit bis
zum Eintritte in die technische Hochschule, brachte ich ganz
mit solchen philosophischen Studien zu. Im Herbst sollte ich
mich für die Richtung eines Brotstudiums entscheiden. Ich beschloß,
auf das Realschullehramt hinzuarbeiten. Mathematik und
darstellende Geometrie zu studieren, entsprach meiner Neigung.
Ich mußte auf die letztere verzichten. Denn deren Studium war
verbunden mit einer Anzahl von Übungsstunden im geometrischen
Zeichnen während des Tages. Aber ich mußte, um mir einiges
Geld zu verdienen, Zeit dazu haben, Nachhilfestunden zu geben.
Das vertrug sich damit, Vorlesungen zu hören, deren Stoff man
nachlesen konnte, wenn man sie versäumen mußte, nicht aber
damit, regelmäßig die Zeichenstunden in der Schule selbst
durchzusitzen.
So ließ ich
mich denn zunächst für Mathematik, Naturgeschichte und
Chemie einschreiben.
TB 636 (III.),
S 40 f
Karl
Julius Schröer
Von
besonderer Bedeutung aber wurden für mich die Vorlesungen, die Karl
Julius Schröer damals über die deutsche Literatur an der technischen
Hochschule hielt. Er las im ersten Jahre meines Hochschulstudiums
über «Deutsche Literatur seit Goethe» und über «Schillers Leben
und Werke». Schon von seiner ersten Vorlesung an war ich gefesselt.
Er entwickelte einen Überblick über das deutsche Geistesleben in
der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und setzte da in
dramatischer Art auseinander, wie Goethes erstes Auftreten in dieses
Geistesleben einschlug. Die Wärme seiner Behandlungsart, die begeisternde
Art, wie er innerhalb der Vorlesungen aus den Dichtern vorlas, führten
auf eine verinnerlichte Weise in die Dichtung ein.
Daneben hatte
er «Übungen im mündlichen Vortrag und schriftlicher
Darstellung» eingerichtet. Die Schüler sollten da vortragen,
oder vorlesen, was sie selbst ausgearbeitet hatten. Schröer
gab dann anknüpfend an die Schülerleistungen Unterweisungen
über Stil, Vortragsform usw. Ich hielt da zuerst einen
Vortrag über Lessings Laokoon. Dann machte ich mich an eine
größere Aufgabe. Ich arbeitete das Thema aus: Inwiefern ist
der Mensch in seinen Handlungen ein freies Wesen? Ich geriet
bei dieser Arbeit stark in die Herbart'sche Philosophie
hinein. Das gefiel Schröer gar nicht. Er hat die Strömung
für Herbart, die damals in Österreich sowohl auf den
philosophischen Lehrkanzeln wie in der Pädagogik die
herrschende war, nicht mitgemacht. Er war ganz an Goethes
Geistesart hingegeben. Da erschien ihm denn alles, was an
Herbart anknüpfte, trotzdem er an ihm die Denkdisziplin
anerkannte, als pedantisch und nüchtern.
TB 636 (III.),
S 41 f
Robert
Zimmermann
Ich
konnte nun auch einzelne Vorlesungen an der Universität hören. Auf
den
Herbartianer Robert Zimmermann hatte ich mich sehr gefreut.
Er las «Praktische Philosophie». Ich hörte den Teil seiner Vorlesungen,
in denen er die Grundprinzipien der Ethik auseinandersetzte. Ich
wechselte ab: ich saß gewöhnlich einen Tag bei ihm, den ändern bei
Franz Brentano, der zu gleicher Zeit über denselben Gegenstand las.
Allzu lange konnte ich das nicht fortsetzen, denn ich versäumte
dadurch an der technischen Hochschule zu viel.
Es machte
tiefen Eindruck auf mich, die Philosophie nun nicht bloß aus
Büchern kennen zu lernen, sondern aus dem Munde von
Philosophen selbst zu hören.
Robert
Zimmermann war eine merkwürdige Persönlichkeit. Er hatte
eine ganz ungewöhnlich hohe Stirn und einen langen
Philosophenbart. Alles an ihm war gemessen, stilisiert. Wenn
er zur Türe hereinkam, aufs Katheder stieg, waren seine
Schritte wie einstudiert und doch wieder so, daß man sich
sagte: dem Mann ist es selbstverständlich-natürlich, so zu
sein. Er war in Haltung und Bewegung, wie wenn er sich selbst
dazu nach Herbart'schen ästhetischen Prinzipien in langer
Disziplin geformt hätte. Und man konnte doch rechte Sympathie
mit alledem haben. Er setzte sich dann langsam auf seinen
Stuhl, schaute dann durch die Brille in einem langen Blicke
auf das Auditorium hin, nahm dann langsam gemessen die Brille
ab, schaute noch einmal lange unbebrillt über den
Zuhörerkreis hin, dann begann er in freier Rede, aber in
sorgsam geformten, kunstvoll gesprochenen Sätzen seine
Vorlesung. Seine Sprache hatte etwas Klassisches. Aber man
verlor wegen der langen Perioden im Zuhören leicht den Faden
seiner Darstellung. Er trug die Herbart'sche Philosophie etwas
modifiziert vor. Die Strenge seiner Gedankenfolge machte
Eindruck auf mich. Aber nicht auf die ändern Zuhörer. In den
ersten drei bis vier Vorlesungen war der große Saal, in dem
er vortrug, überfüllt. «Praktische Philosophie» war für
die Juristen im ersten Jahre Pflichtvorlesung. Sie brauchten
die Unterschrift des Professors im Index. Von der fünften
oder sechsten Stunde an blieben die meisten weg; man war,
indem man den philosophischen Klassiker hörte, nur noch mit
ganz wenigen Zuhörern zusammen auf den vordersten Bänken.
Für mich boten diese
Vorträge doch eine starke Anregung. Und die Verschiedenheit in der
Auffassung Schröers und Zimmermanns interessierte mich tief. Ich
verbrachte die wenige Zeit, die mir vom Anhören der Vorlesungen
und dem Privatunterricht, den ich zu geben hatte, blieb, entweder
in der Hofbibliothek oder in der Bibliothek der technischen Hochschule.
Da las ich denn, zum ersten Male,
Goethes «Faust».
Ich war tatsächlich bis zu meinem neunzehnten Jahre, in dem ich
durch Schröer angeregt worden bin, nicht bis zu diesem Werke vorgedrungen.
Damals aber wurde mein Interesse für dasselbe sogleich stark in
Anspruch genommen. Schröer hatte seine Ausgabe des ersten Teiles
bereits veröffentlicht. Aus ihr lernte ich den ersten Teil zuerst
kennen. Dazu kam, daß ich schon nach wenigen seiner Vorlesungsstunden
mit Schröer näher bekannt wurde. Er nahm mich dann oft mit nach
seinem Hause, sprach dies oder jenes zu mir in Ergänzung seiner
Vorlesungen, antwortete gern auf meine Fragen und entließ mich mit
einem Buche aus seiner Bibliothek, das er mir zum Lesen lieh. Dabei
fiel auch manches Wort über den zweiten Teil des «Faust»,
an dessen Herausgabe und Erläuterung er gerade arbeitete. Ich las
auch diesen in jener Zeit.
In den
Bibliotheken beschäftigte ich mich mit Herbarts
«Metaphysik», mit Zimmermanns «Ästhetik als
Formwissenschaft», die vom Herbart'schen Standpunkte aus
geschrieben war. Dazu kam ein eingehendes Studium von Ernst
Haeckels «Genereller Morphologie». Ich darf wohl sagen:
alles, was ich durch Schröers und Zimmermanns Vorlesungen,
sowie durch die gekennzeichnete Lektüre an mich herantretend
fand, wurde mir damals zum tiefsten Seelenerlebnis. Wissens-
und Weltauffassungsrätsel formten sich mir daran.
Schröer war
ein Geist, der nichts auf Systematik gab. Aus einer gewissen
Intuition heraus dachte und sprach er. Er hatte dabei die
denkbar größte Achtung vor der Art, wie er seine
Anschauungen in Worte prägte. Er sprach wohl aus diesem
Grunde in seinen Vorlesungen nie frei. Er brauchte die Ruhe
des Niederschreibens, um sich selbst Genüge zu tun in der
Umformung seines Gedankens in das zu sprechende Wort. Dann las
er das Geschriebene mit starker Verinnerlichung der Rede ab.
Doch — einmal sprach er frei über Anastasius Grün und
Lenau. Er hatte sein Manuskript vergessen. Aber in der
nächsten Stunde behandelte er den ganzen Gegenstand noch
einmal lesend. Er war nicht zufrieden mit der Gestalt, die er
ihm in freier Rede hatte geben können.
Von Schröer
lernte ich viele Werke der Schönheit kennen. Durch Zimmermann
trat eine ausgebildete Theorie des Schönen an mich heran.
Beides stimmte nicht gut zusammen. Schröer, die intuitive
Persönlichkeit mit einer gewissen Geringschätzung des
Systematischen, stand für mich neben Zimmermann, dem strengen
systematischen Theoretiker des Schönen.
TB 636 (III.),
S 42 ff
In
Franz Brentano, bei dem ich auch Vorlesungen über «Praktische
Philosophie» hörte, interessierte mich damals ganz besonders die
Persönlichkeit. Er war scharfdenkend und versonnen zugleich. In
der Art, wie er sich als Vortragender gab, war etwas Feierliches.
Ich hörte, was er sprach, mußte aber auf jeden Blick, jede Kopfbewegung,
jede Geste seiner ausdrucksvollen Hände achten. Er war der vollendete
Logiker. Jeder Gedanke sollte absolut durchsichtig und getragen
von zahlreichen ändern sein. Im Formen dieser Gedankenreihen waltete
die größte logische Gewissenhaftigkeit. Aber ich hatte das Gefühl,
dieses Denken kommt aus seinem eigenen Weben nicht heraus; es bricht
nirgends in die Wirklichkeit ein. Und so war auch die ganze Haltung
Brentanos. Er hielt mit der Hand lose das Manuskript, als ob es
jeden Augenblick den Fingern entgleiten könnte; er streifte mit
dem Blicke nur die Zeilen. Auch diese Geste war nur für eine leise
Berührung der Wirklichkeit, nicht für ein entschlossenes Anfassen.
Ich konnte aus seinen «Philosophenhänden» die Art seines Philosophierens
noch mehr verstehen als aus seinen Worten.
Die Anregung,
die von Brentano ausging, wirkte in mir stark nach. Ich fing
bald an, mich mit seinen Schriften auseinanderzusetzen, und
habe dann im Laufe der späteren Jahre das meiste von dem
gelesen, was er veröffentlicht hat.
TB 636 (III.),
S 44
Die geistige Welt
als erlebte Wirklichkeit
Ich hielt mich
damals für verpflichtet, durch die Philosophie die Wahrheit
zu suchen. Ich sollte Mathematik und Naturwissenschaft
studieren. Ich war überzeugt davon, daß ich dazu kein
Verhältnis finden werde, wenn ich deren Ergebnisse nicht auf
einen sicheren philosophischen Boden stellen könnte. Aber ich
schaute doch eine geistige Welt als Wirklichkeit. Mit
aller Anschaulichkeit offenbarte sich mir an jedem Menschen
seine geistige Individualität. Diese hatte in der physischen
Leiblichkeit und in dem Tun in der physischen Welt nur ihre
Offenbarung. Sie vereinte sich mit dem, was als physischer
Keim von den Eltern herrührte. Den gestorbenen Menschen
verfolgte ich weiter auf seinem Wege in die geistige Welt
hinein. Einem meiner früheren Lehrer, der mir auch nach
meiner Realschulzeit freundschaftlich nahe blieb, schrieb ich
einmal nach dem Tode eines Mitschülers über diese Seite
meines Seelenlebens. Er schrieb mir ungewöhnlich lieb
zurück, würdigte aber, was ich über den verstorbenen
Mitschüler schrieb, keines Wortes.
Und so ging es
mir damals überall mit meiner Anschauung von der geistigen
Welt. Man wollte von ihr nichts hören. Von dieser oder jener
Seite kam man da höchstens mit allerlei Spiritistischem. Da
wollte ich wieder nichts hören. Mir erschien es abgeschmackt,
dem Geistigen sich auf solche Art zu nähern.
TB 636 (III.),
S 45
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1880
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Da
geschah es, daß ich mit einem einfachen Manne aus dem Volke bekannt
wurde. Er fuhr jede Woche mit demselben Eisenbahnzuge nach Wien,
den ich auch benützte. Er sammelte auf dem Lande Heilkräuter und
verkaufte sie in Wien an Apotheken. Wir wurden Freunde. Mit ihm
konnte man über die geistige Welt sprechen wie mit jemand, der Erfahrung
darin hatte. Er war eine innerlich fromme Persönlichkeit. In allem
Schulmäßigen war er ungebildet. Er hatte zwar viele mystische Bücher
gelesen; aber, was er sprach, war ganz unbeeinflußt von dieser Lektüre.
Es war der Ausfluß eines Seelenlebens, das eine ganz elementarische,
schöpferische Weisheit in sich trug. Man konnte bald empfinden:
er las die Bücher nur, weil er, was er durch sich selbst wußte,
auch bei ändern finden wollte. Aber es befriedigte ihn nicht. Er
offenbarte sich so, als ob er als Persönlichkeit nur das Sprachorgan
wäre für einen Geistesinhalt, der aus verborgenen Welten heraus
sprechen wollte. Wenn man mit ihm zusammen war, konnte man tiefe
Blicke in die Geheimnisse der Natur tun. Er trug auf dem Rücken
sein Bündel Heilkräuter; aber in seinem Herzen trug er die Ergebnisse,
die er aus der Geistigkeit der Natur bei seinem Sammeln gewonnen
hatte. Ich habe manchen Menschen lächeln gesehen, der zuweilen als
Dritter sich angeschlossen hatte, wenn ich mit diesem «Eingeweihten»
durch die Wiener Alleegasse ging. Das war kein Wunder. Denn dessen
Ausdrucksweise war nicht von vorneherein verständlich. Man mußte
gewissermaßen erst seinen «geistigen Dialekt» lernen. Auch mir war
er anfangs nicht verständlich. Aber vom ersten Kennenlernen an hatte
ich die tiefste Sympathie für ihn. Und so wurde es mir nach und
nach, wie wenn ich mit einer Seele aus ganz alten Zeiten zusammen
wäre, die unberührt von der Zivilisation, Wissenschaft und Anschauung
der Gegenwart, ein instinktives Wissen der Vorzeit an mich heranbrächte.
Nimmt man den
gewöhnlichen Begriff des «Lernens», so kann man sagen:
«Lernen» konnte man von diesem Manne nichts. Aber man
konnte, wenn man selbst die Anschauung einer geistigen Welt
hatte, in diese durch einen Ändern, in ihr ganz
Feststehenden, tiefe Einblicke tun.
Und dabei lag
dieser Persönlichkeit alles weltenferne, was Schwärmerei
war. Kam man in sein Heim, so war man im Kreise der
nüchternsten, einfachen Landfamilie. Über der Türe seines
Hauses standen die Worte: «In Gottes Segen ist alles
gelegen.» Man wurde bewirtet, wie bei ändern Dorfbewohnern.
Ich habe immer Kaffee trinken müssen, nicht aus einer Tasse,
sondern aus einem «Häferl», das nahezu einen Liter faßte;
dazu hatte ich ein Stück Brot zu essen, das Riesendimensionen
hatte. Aber auch die Dorfbewohner sahen den Mann nicht für
einen Schwärmer an. An der Art, wie er sich in seinem
Heimatorte gab, prallte jeder Spott ab. Er hatte auch einen
gesunden Humor und wußte im Dorfe mit jung und alt bei jeder
Begegnung so zu reden, daß die Leute an seinen Worten Freude
hatten. Da lächelte niemand so wie die Leute, die mit ihm und
mir durch die Wiener Alleegasse gingen und die in ihm zumeist
etwas sahen, das ihnen ganz fremd erschien.
Mir blieb dieser Mann,
auch als das Leben mich wieder von ihm weggeführt hatte, seelennahe.
Man findet ihn in meinen Mysteriendramen in der Gestalt des Felix
Balde.
TB 636 (III.),
S 46 ff
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