1883
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Musik
Anti-Wagnertum
Für die Form
des Geist-Erlebens, die ich damals in mir auf eine sichere
Grundlage bringen wollte, wurde das Musikalische von einer
krisenhaften Bedeutung. Es lebte sich zu dieser Zeit in der
geistigen Umgebung, in der ich mich befand, der «Streit um
Wagner» in der heftigsten Art aus. Ich hatte während meines
Knaben- und Jugendlebens jede Gelegenheit benützt, um mein Musikverständnis zu fördern. Die Stellung, die ich zum
Denken hatte, brachte das mit sich. Für mich hatte das Denken
Inhalt durch sich selbst. Es bekam ihn nicht bloß
durch die Wahrnehmung, die es audrückt. Das aber führte wie
mit Selbstverständlichkeit in das Erleben des reinen
musikalischen Tongebildes als solchen hinüber. Die Welt der
Töne an sich war mir die Offenbarung einer wesentlichen Seite
der Wirklichkeit. Daß das Musikalische über die
Töne-Formung hinaus noch etwas «ausdrücken» sollte, wie
es von den Anhängern Wagners damals in allen möglichen Arten
behauptet wurde, schien mir ganz «unmusikalisch».
Ich
war stets ein geselliger Mensch. Dadurch hatte ich schon während
meiner Schulzeit in Wiener-Neustadt und dann wieder in Wien viele
Freundschaften geschlossen. In den Meinungen stimmte ich selten
mit diesen Freunden zusammen. Das hinderte aber niemals, daß Innigkeit
und starke gegenseitige Anregung in den Freundschaftsbündnissen
lebte. Eines derselben ward mit einem herrlich idealistisch gesinnten
jungen Manne geschlossen. Er war mit seinen blonden Locken, mit
den treuherzigen blauen Augen so recht der Typus des deutschen Jünglings.
Der war nun ganz mitgerissen von dem Wagnertum. Musik, die in sich
selbst lebte, die nur in Tönen weben wollte, war ihm eine abgetane
Welt greulicher Philister. Was in den Tönen sich offenbarte wie
in einer Art von Sprache, das machte für ihn das Tongebilde wertvoll.
Wir besuchten zusammen manches Konzert und manche Oper. Wir waren
stets verschiedener Meinung. In meinen Gliedern lagerte etwas wie
Blei, wenn die «ausdrucksvolle Musik» ihn bis zur Ekstase entflammte;
er langweilte sich entsetzlich, wenn Musik erklang, die nichts als
Musik sein wollte.
Die Debatten
mit diesem Freunde dehnten sich ins Endlose aus. Auf langen
Spaziergängen, in Dauersitzungen bei einer Tasse Kaffee
führte er seine in begeisterten Worten sich aussprechenden
«Beweise» durch, daß mit Wagner eigentlich erst die wahre
Musik geboren worden sei, und daß alles Frühere nur eine
Vorbereitung zu diesem «Entdecker des Musikalischen» sei.
Mich brachte das dazu, meine Empfindung in recht drastischer
Art zur Geltung zu bringen. Ich sprach von der Wagner'schen
Barbarei, die das Grab alles wirklichen Musikverständnisses
sei.
Besonders
heftig wurden die Debatten bei besonderen Gelegenheiten. Es
trat bei meinem Freunde eines Tages der merkwürdige Hang ein,
unseren fast täglichen Spaziergängen die Richtung nach einem
engen Gäßchen zu geben, und mit mir da, Wagner diskutierend,
oft viele Male auf- und abzugehen. Ich war in unsere Debatten
so vertieft, daß mir erst allmählich ein Licht darüber
aufging, wie er zu diesem Hang gekommen war. Am Fenster eines
Hauses dieses Gäßchens saß um die Zeit unserer
Spaziergänge ein anmutiges junges Mädchen. Es gab für ihn
zunächst keine andere Beziehung zu dem Mädchen als die, daß
er es am Fenster fast täglich sitzen sah und zuweilen das
Bewußtsein hatte, ein Blick, den es auf die Straße fallen
ließ, gelte ihm.
Ich
empfand zunächst nur, wie sein Eintreten für Wagner, das
auch sonst schon feurig genug war, in diesem Gäßchen zur
hellen Flamme aufloderte. Und als ich darauf kam, welche
Nebenströmung da immer in sein begeistertes Herz floß, da
wurde er auch nach dieser Richtung mitteilsam, und ich wurde
der Mitfühlende bei einer der zartesten, schönsten,
schwärmerischsten Jugendliebe. Das Verhältnis kam nicht viel
über den geschilderten Stand hinaus. Mein Freund, der aus
einer nicht mit Glücksgütern gesegneten Familie stammte,
mußte bald eine kleine Journalistenstelle in einer
Provinzstadt antreten. Er konnte an keine nähere Verbindung
mit dem Mädchen denken. Er war auch nicht stark genug, die
Verhältnisse zu meistern. Ich blieb noch lange mit ihm in
brieflicher Verbindung. Ein trauriger Nachklang von
Resignation tönte aus seinen Briefen heraus. In seinem
Herzen lebte das fort, von dem er sich hatte trennen müssen.
Ich traf,
nachdem das Leben lange schon dem Briefverkehr mit dem
Jugendfreunde ein Ende bereitet hatte, mit einer
Persönlichkeit aus der Stadt zusammen, in der er seine
Journalistenstellung gefunden hatte. Ich hatte ihn immer lieb
behalten und frug nach ihm. Da sagte mir die Persönlichkeit:
«Ja, dem ist es recht schlecht ergangen; er konnte kaum sein
Brot verdienen, zuletzt war er Schreiber bei mir, dann starb
er an einer Lungenkrankheit.» Mir schnitt diese Mitteilung
ins Herz, denn ich wußte, daß der idealistische blonde Mann
sich von seiner Jugendliebe dereinst unter dem Zwange der
Verhältnisse mit dem Gefühle getrennt hatte, es sei für ihn
gleichgültig, was ihm das Leben ferner noch bringen werde. Er
legte keinen Wert darauf, sich ein Leben zu begründen, das
doch nicht so sein konnte, wie es als ein Ideal ihm bei
unseren Spaziergängen in dem engen Gäßchen vorschwebte.
Im Verkehr mit
diesem Freunde ist mein damaliges Anti-Wagnertum nur eben in
starker Form zum Ausleben gekommen. Aber es spielte in dieser
Zeit auch sonst eine große Rolle in meinem Seelenleben. Ich
suchte mich nach allen Seiten in das Musikalische, das mit
Wagnertum nichts zu tun hatte, hineinzufinden. Meine Liebe zur
«reinen Musik» wuchs durch mehrere Jahre; mein Abscheu gegen
die «Barbarei» einer «Musik als Ausdruck» wurde immer
größer. Und dabei hatte ich das Schicksal, daß ich in
menschliche Umgebungen kam, in denen fast ausschließlich
Wagner-Verehrer waren. Das alles trug viel dazu bei, daß es
mir - viel - später recht sauer wurde, mich bis zu dem
Wagner-Verständnis durchzuringen, das ja das menschlich
Selbstverständliche gegenüber einer so bedeutenden
Kulturerscheinung ist. Doch dieses Ringen gehört einer
spätem Zeit meines Lebens an. In der hier geschilderten war
mir z. B. eine Tristanaufführung, in die ich einen Schüler
von mir begleiten mußte, «ertötend langweilig».
TB 636 (IV.),
S 55 ff
Jugendfreundschaften
In diese Zeit
fällt noch eine andere für mich bedeutsame
Jugendfreundschaft. Die galt einem jungen Manne, der in allem
das Gegenteil des blondgelockten Jünglings darstellte. Er
fühlte sich
als Dichter. Auch mit ihm verbrachte ich viel Zeit in
anregenden Gesprächen. Er hatte große Begeisterung für
alles Dichterische. Er machte sich frühzeitig an große
Aufgaben. Als wir bekannt wurden, hatte er bereits eine
Tragödie «Hannibal» und viel Lyrisches geschrieben.
Mit beiden
Freunden zusammen war ich auch bei den «Übungen im
mündlichen Vortrag und schriftlicher Darstellung», die
Schröer an der Hochschule abhielt. Davon gingen für uns drei
und noch für manchen Ändern die schönsten Anregungen aus.
Wir jungen Leute konnten, was wir geistig zustande brachten,
vortragen, und Schröer besprach alles mit uns und erhob
unsere Seelen durch seinen herrlichen Idealismus und seine
edle Begeisterungsfähigkeit .
Mein Freund
begleitete mich oft, wenn ich Schröer in seinem Heim besuchen
durfte. Da lebte er immer auf, während sonst oft ein schwer
wirkender Ton durch seine Lebensäußerungen ging. Er wurde
durch einen innern Zwiespalt mit dem Leben nicht fertig. Kein
Beruf reizte ihn so, daß er ihn hätte mit Freude antreten
wollen. Er ging in dem dichterischen Interesse ganz auf und
fand außer diesem keinen rechten Zusammenhang mit dem Dasein.
Zuletzt wurde nötig, daß er eine ihm gleichgültige Stellung
annahm. Ich blieb auch mit ihm in brieflicher Verbindung. Daß
er an seiner Dichtkunst selbst nicht eine wirkliche
Befriedigung erleben konnte, wirkte zehrend an seiner Seele.
Das Leben erfüllte sich für ihn nicht mit Wertvollem. Ich
mußte zu meinem Leid erfahren, wie nach und nach in seinen
Briefen und auch bei Gesprächen immer mehr sich bei ihm die
Ansicht verdichtete, daß er an einer unheilbaren Krankheit
litte. Nichts reichte hin, um diesen unbegründeten Verdacht
zu zerstreuen. So mußte ich denn eines Tages die Nachricht
empfangen, daß der junge Mann, der mir recht nahe stand,
seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe.
Recht innige
Freundschaft schloß ich damals mit einem jungen Manne, der
aus dem deutschen Siebenbürgen nach der Wiener technischen
Hochschule gekommen war. Auch ihn hatte ich in Schröers
Übungsstunden zuerst getroffen. Da hat er einen Vortrag über
den Pessimismus gehalten. Alles, was Schopenhauer für diese
Lebensauffassung vorgebracht hat, lebte in diesem Vortrage
auf. Dazu kam die eigene pessimistische Lebensstimmung des
jungen Mannes. Ich erbot mich, einen Gegenvortrag zu halten.
Ich «widerlegte» den Pessimismus mit wahren Donnerworten,
nannte schon damals Schopenhauer ein «borniertes Genie» und
ließ meine Ausführungen in dem Satze gipfeln, «wenn der
Herr Vortragende mit seiner Darstellung über den Pessimismus
recht hätte, dann wäre ich lieber der Holzpfosten, auf dem
meine Füße stehen, als ein Mensch». Dieses Wort wurde lange
spottend in meinem Bekanntenkreise über mich wiederholt. Aber
es machte den jungen Pessimisten und mich zu innig verbundenen
Freunden. Wir verlebten nun viele Zeit miteinander. Auch er
fühlte sich als Dichter. Und ich saß oft viele Stunden lang
bei ihm auf seinem Zimmer und hörte gerne dem Vorlesen seiner
Gedichte zu. Er brachte auch meinen damaligen geistigen
Bestrebungen ein warmes Interesse entgegen, obwohl er dazu
weniger durch die Dinge, mit denen ich mich befaßte, als
durch seine persönliche Liebe zu mir angeregt wurde. Er
knüpfte so manche schöne Jugendbekanntschaft und auch
Jugendliebe an. Er brauchte das zu seinem Leben, das ein recht
schweres war. Er hatte in Hermannstadt die Schule als armer
Junge durchgemacht, und mußte da schon sein Leben von
Privatstunden unterhalten. Er kam dann auf die geniale Idee,
von Wien aus durch Korrespondenz die in Hermannstadt
gewonnenen Privatschüler weiter zu unterrichten. Die
Hochschul-Wissenschaften interessierten ihn wenig. Einmal
wollte er doch ein Examen aus der Chemie ablegen. Er war in
keiner Vorlesung und hatte auch kein einschlägiges Buch
berührt. In der letzten Nacht vor der Prüfung ließ er sich
von einem Freunde einen Auszug aus dem ganzen Stoff vorlesen.
Er schlief zuletzt dabei ein. Dennoch ging er mit diesem
Freunde zugleich zum Examen. Beide fielen wirklich
«glänzend» durch.
Ein
grenzenloses Vertrauen zu mir hatte dieser junge Mann. Er
behandelte mich eine Zeitlang fast wie einen Beichtvater. Er
breitete ein interessantes, oft traurig stimmendes, für alles
Schöne begeistertes Leben vor meiner Seele aus. Er brachte
mir soviel Freundschaft und Liebe entgegen, daß es wirklich
schwer war, ihn nicht das eine oder andre Mal bitter zu
enttäuschen. Das geschah namentlich dadurch, daß er oft
glaubte, ich brächte ihm
nicht genug Aufmerksamkeit entgegen. Aber das konnte eben doch
nicht anders sein, da ich so manchen Interessenkreis hatte,
für den ich bei ihm auf ein sachliches Verständnis nicht
stieß. Das alles trug aber zuletzt doch nur dazu bei, daß
die Freundschaft immer inniger wurde. Er verbrachte die Ferien
jeden Sommer in Hermannstadt. Da sammelte er wieder Schüler,
um sie dann das Jahr hindurch von Wien aus per Korrespondenz
zu unterrichten. Ich erhielt dann immer lange Briefe von ihm.
Er litt darunter, daß ich sie selten oder gar nicht
beantwortete. Aber wenn er im Herbste wieder nach Wien kam,
dann sprang er mir wie ein Knabe entgegen; und das gemeinsame
Leben fing wieder an. Ihm verdankte ich damals, daß ich mit
vielen Menschen verkehren konnte. Er liebte es, mich zu allen
Leuten zu bringen, mit denen er Zusammenhang hatte. Und ich
lechzte nach Geselligkeit. Der Freund brachte vieles in mein
Leben, was mir Freude und Wärme gab.
Diese
Freundschaft ist eine solche für das Leben geblieben, bis zu
dem vor einigen Jahren erfolgten Tode des Freundes. Sie
bewahrte sich durch manchen Lebenssturm hindurch, und ich
werde noch vieles von ihr zu sagen haben.
Im
rückschauenden Bewußtsein taucht vieles an Menschen- und
Lebensbeziehungen auf, das in Liebe- und Dankesempfindungen
heute noch ein volles Dasein in der Seele hat. Hier darf ich
nicht alles im einzelnen schildern und muß manches unberührt
lassen, das mir gerade im persönlichen Erleben nahe war und
nahe geblieben ist.
Meine
Jugendfreundschaften in der Zeit, von der ich hier spreche,
hatten zum Fortgang meines Lebens ein eigentümliches
Verhältnis. Sie zwangen mich zu einer Art Doppelleben in der
Seele. Das Ringen mit den Erkenntnisrätseln, das vor allem
damals meine Seele erfüllte, fand bei meinen Freunden zwar
stets ein starkes Interesse, aber wenig mittätigen Anteil.
Ich blieb im Erleben dieser Rätsel ziemlich einsam. Dagegen
lebte ich selbst alles voll mit, was im Dasein meiner Freunde
auftauchte. So gingen zwei Lebensströmungen in mir
nebeneinander: eine, die ich wie ein einsamer Wanderer
verfolgte; und die andere, die ich in lebendiger Geselligkeit
mit liebgewonnenen Menschen durchmachte. Aber von
tiefgehender, dauernder Bedeutung für meine Entwickelung
waren in vielen Fällen auch die Erlebnisse der zweiten Art.
Da muß ich
besonders eines Freundes gedenken, der schon in
Wiener-Neustadt mein Mitschüler war. Während dieser Zeit
stand er mir aber ferne. Erst in Wien, wo er mich zuerst
öfters besuchte und wo er später als Beamter lebte, trat er
mir nahe. Er hatte aber doch, ohne eine äußere Beziehung,
schon in Wiener-Neustadt eine Bedeutung für mein Leben
gehabt. Ich war mit ihm einmal gemeinsam in einer Turnstunde.
Er ließ, während er turnte und ich nichts zu tun hatte, ein
Buch neben mir liegen. Es war Heines Buch über «Die
romantische Schule» und «Die Geschichte der Philosophie in
Deutschland». Ich tat einen Blick hinein. Das wurde zum
Anlaß, daß ich das Buch selber las. Ich empfand viele
Anregungen daraus, stand aber in einem intensiven Widerspruch
zu der Art, wie Heine den mir nahestehenden Lebensinhalt
behandelte. In der Anschauung einer Denkungsart und einer
Gefühlsrichtung, die der in mir sich ausbildenden völlig
entgegengesetzt war, lag eine starke Anregung zur
Selbstbesinnung auf die innere Lebensorientierung, die mir,
nach meinen Seelenanlagen, notwendig war.
In Anlehnung an
das Buch sprach ich dann mit dem Mitschüler. Dabei kam das
innere Leben seiner Seele zum Vorschein, das dann später zur
Begründung einer dauernden Freundschaft führte. Er war ein
verschlossener Mensch, der sich nur Wenigen mitteilte. Die
meisten hielten ihn für einen Sonderling. Den Wenigen
gegenüber, denen er sich mitteilen wollte, wurde er
namentlich in Briefen sehr gesprächig. Er nahm sich als einen
durch innere Veranlagung zum Dichter berufenen Menschen. Er
war der Ansicht, daß er einen großen Reichtum in seiner
Seele trug. Er hatte dabei auch die Neigung, sich in
Beziehungen zu ändern, namentlich weiblichen
Persönlichkeiten mehr hineinzu-träumen, als diese
Beziehungen äußerlich wirklich anzuknüpfen. Zuweilen war er
einer solchen Anknüpfung nahe, konnte sie aber doch nicht zum
wirklichen Erleben bringen. In Gesprächen mit mir lebte er
dann seine Träume mit einer Innigkeit und Begeisterung durch,
als wenn sie Wirklichkeiten wären. Dabei konnte nicht
ausbleiben, daß er bittere Gefühle hatte, wenn die Träume
immer wieder zerrannen.
Das ergab ein
seelisches Leben bei ihm, das mit seinem Außendasein nicht
das geringste zu tun hatte. Und dieses Leben war ihm wieder
der Gegenstand quälender Selbstbetrachtungen, deren
Spiegelbild in vielen Briefen an mich und in Gesprächen
enthalten war. So schrieb er mir einmal eine lange
Auseinandersetzung darüber, wie ihm das kleinste wie das
größte Erlebnis innerlich zum Symbol würde und wie er mit
solchen Symbolen lebte.
Ich liebte
diesen Freund, und in Liebe ging ich auf seine Träume ein,
obgleich ich stets im Zusammensein mit ihm das Gefühl hatte:
wir bewegen uns in den Wolken und haben keinen Boden. Das war
für mich, der ich mich unablässig bemühte, gerade die
festen Stützen des Lebens in der Erkenntnis zu suchen, ein
eigenartiges Erleben. Ich mußte immer wieder aus der eigenen
Wesenheit herausschlüpfen und wie in eine andere Haut
hinüberspringen, wenn ich diesem Freunde gegenüberstand. Er
lebte gerne mit mir; er stellte auch zuweilen weitausgreifende
theoretische Betrachtungen über die «Verschiedenheit unserer
Naturen» an. Er ahnte kaum, wie wenig unsere Gedanken
zusammenklangen, weil die Freundesgesinnung über alle
Gedanken hinwegführte.
Mit einem andern
Wiener-Neustädter Mitschüler erging es mir ähnlich. Er
gehörte dem nächst niedrigeren Jahrgang der Realschule an,
und wir traten einander erst nahe, als er ein Jahr später als
ich an die technische Hochschule nach Wien kam. Da aber waren
wir viel zusammen. Auch er ging wenig auf das ein, was mich
auf dem Erkenntnisgebiete innerlich bewegte. Er studierte
Chemie. Die naturwissenschaftlichen Ansichten, denen er
gegenüberstand, verhinderten ihn damals im Verkehre mit mir,
sich anders denn als Zweifler an der Geistesanschauung zu
geben, von der ich erfüllt war. Später im Leben habe ich an
diesem Freunde erfahren, wie nahe er in seinem innersten Wesen
meiner Seelenverfassung schon damals stand; aber er ließ
dieses innerste Wesen in jener Zeit gar nicht hervortreten.
Und so wurden unsere lebhaften, langdauernden Debatten für
mich zu einem «Kampfe gegen den Materialismus». Er setzte
meinem Bekenntnis zum Geistgehalt der Welt stets alle aus der
Naturwissenschaft vermeintlich sich ergebenden Widerlegungen
gegenüber. Ich mußte damals schon alles, was ich an
Einsichten hatte, auftreten lassen, um die aus der
materialistischen Denkorientierung kommenden Einwürfe gegen
eine geistgemäße Welterkenntnis aus dem Felde zu schlagen.
Einmal spielte
sich die Debatte mit großer Lebhaftigkeit ab. Mein Freund
fuhr jeden Tag nach dem Besuch der Vorlesungen von Wien nach
seinem Wohnort, der in Wiener-Neustadt geblieben war. Ich
begleitete ihn oft durch die Wiener Alleegasse zum
Südbahnhofe. Wir waren nun an einem Tage in der
Materialismusdebatte an einer Art Kulmination angekommen, als
wir schon den Bahnhof betreten hatten, und der Zug bald
abfahren mußte. Da faßte ich, was ich noch zu sagen hatte,
in die folgenden Worte zusammen: «Also du behauptest, wenn du
sagst: ich denke, so sei das nur der notwendige Effekt der
Vorgänge in deinem Gehirnnervensystem. Diese Vorgänge seien
allein Wirklichkeit. Und so sei es, wenn du sagst: ich sehe
dies oder das, ich gehe usw. Aber sieh einmal: du sagst doch
nicht: mein Gehirn denkt, mein Gehirn sieht das oder das, mein
Gehirn geht. Du müßtest doch, wenn du wirklich zu der
Einsicht gelangt wärest, was du theoretisch behauptest, sei
wahr, deine Redewendung korrigieren. Wenn du dennoch vom <Ich>
sprichst, so lügst du eigentlich. Aber du kannst nicht
anders, als deinem gesunden Instinkte gegen die
Einflüsterungen deiner Theorie folgen. Du erlebst einen
ändern Tatbestand als denjenigen, den deine Theorie verficht.
Dein Bewußtsein straft deine Theorie Lügen.» Der Freund
schüttelte den Kopf. Zu einer Einwendung hatte er nicht mehr
Zeit. Ich ging allein zurück, und konnte nur nachdenken, daß
der Einwand gegen den Materialismus in dieser groben Form
nicht einer besonders exakten Philosophie entsprach. Aber mir
kam es damals wirklich weniger darauf an, einen philosophisch
einwandfreien Beweis fünf Minuten vor Zugsabgang zu liefern,
als Ausdruck zu geben meiner inneren sicheren Erfahrung von
der Wesenheit des menschlichen «Ich». Mir war dieses «Ich»
innerlich überschaubares Erlebnis von einer in ihm selbst vorhandenen
Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit erschien mir nicht
weniger gewiß wie irgendeine vom Materialismus anerkannte.
Aber in ihr ist gar nichts Materielles. Mir hat dieses
Durchschauen der Wirklichkeit und Geistigkeit des «Ich» in
den folgenden Jahren über alle Versuchungen des Materialismus
hinweggeholfen. Ich wußte: an dem «Ich» kann nicht
gerüttelt werden. Und mir war klar, daß derjenige das
«Ich» eben nicht kennt, der es als eine Erscheinungsform,
ein Ergebnis anderer Vorgänge auffaßt. Daß ich
dieses als innere, geistige Anschauung hatte, wollte ich dem
Freunde gegenüber zum Ausdruck bringen. Wir bekämpften uns
noch viel auf diesem Felde. Aber wir hatten in der allgemeinen
Lebensansicht so viele ganz gleichgeartete Empfindungen, daß
die Heftigkeit unserer theoretischen Kämpfe nie auch nur in
die geringsten Mißverständnisse in dem persönlichen
Verhältnis umschlug.
TB 636 (IV.),
S 57 ff
Bibliothekar
der «Lesehalle»
Ich kam in
dieser Zeit tiefer in das studentische Leben in Wien hinein.
Ich wurde Mitglied der «Deutschen Lesehalle an der
technischen Hochschule». In Versammlungen und kleineren
Zusammenkünften wurden eingehend die politischen und
Kulturerscheinungen der Zeit besprochen. Die Diskussionen
ließen alle möglichen - und unmöglichen - Gesichtspunkte,
die junge Leute haben konnten, zutage treten. Namentlich wenn
Funktionäre gewählt werden sollten, platzten die Meinungen
gar heftig aufeinander. Anregend und aufregend war vieles, was
sich da unter der Jugend im Zusammenhang mit den Vorgängen im
öffentlichen Leben Österreichs abspielte. Es war die Zeit,
in der sich die nationalen Parteien in immer schärferer
Ausprägung bildeten. Alles, was später in Österreich immer
mehr und mehr zur Zerbröckelung des Reiches führte, was nach
dem Weltkrieg in seinen Folgen auftrat, konnte damals in
seinen Keimen erlebt werden.
Ich war
zunächst zum Bibliothekar der «Lesehalle» gewählt worden.
Als solcher machte ich alle möglichen Autoren ausfindig, die
Bücher geschrieben hatten, von denen ich glaubte, daß sie
für die Studentenbibliothek von Wert sein könnten. An diese
Autoren schrieb ich «Pumpbriefe». Ich verfertigte oft in
einer Woche wohl hundert solcher Briefe. Durch diese meine
«Arbeit» wurde die Bibliothek rasch vergrößert. Aber die
Sache hatte für mich einen Nebeneffekt. Ich hatte dadurch die
Möglichkeit, in einem weiten Umfange die wissenschaftliche,
künstlerische, kulturgeschichtliche, politische Literatur der
Zeit kennen zu lernen. Ich war ein eifriger Leser der
geschenkten Bücher.
Später wurde
ich zum Vorsitzenden der «Lesehalle» gewählt. Das aber war
für mich ein schwieriges Amt. Denn ich stand einer großen
Anzahl der verschiedensten Parteistandpunkte gegenüber und
sah in ihnen allen das relativ Berechtigte. Dennoch kamen die
Angehörigen der verschiedenen Parteien zu mir. Jeder wollte
mich überzeugen, daß nur seine Partei recht habe. Als
ich gewählt worden war, stimmten alle Parteien für mich.
Denn bis dahin hatten sie nur gehört, wie ich in den
Versammlungen für das Berechtigte eingetreten war. Als ich
ein halbes Jahr Vorsitzender war, stimmten alle gegen mich.
Denn bis dahin hatten sie gefunden, daß ich keiner Partei so
stark recht geben konnte, als sie es wollte.
TB 636 (IV.),
S 64 f
Parlamentsdebatten
Mein
Geselligkeitstrieb fand in der «Lesehalle» reichliche
Befriedigung. Und es wurde auch für weitere Kreise des
öffentlichen Lebens das Interesse geweckt durch die
Spiegelungen seiner Vorgänge im studentischen Vereinsleben.
Ich war damals bei mancher interessanten Parlamentsdebatte auf
der Galerie des österreichischen Abgeordneten- und
Herrenhauses.
Mich
interessierten außer den oft in das Leben tief
einschneidenden Maßnahmen der Parlamente ganz besonders die
Persönlichkeiten der Abgeordneten. Da stand an seiner
Bankecke jedes Jahr als ein Hauptbudgetredner der feinsinnige
Philosoph Bartholomäus Carneri. Seine Worte hagelten
schneidende Anklagen gegen das Ministerium Taaffe, sie
bildeten eine Verteidigung des Deutschtums in Österreich. Da
stand Ernst von Plener, der trockene Redner, die unbestrittene
Autorität in Finanzfragen. Man fröstelte, wenn er mit
rechnerischer Kälte dem Finanzminister Dunajewski die
Ausgaben kritisierte. Da donnerte gegen die
Nationalitätenpolitik der Ruthene Tomasczuck. Man hatte das
Gefühl, daß es ihm auf die Erfindung eines für den
Augenblick besonders gut geprägten Wortes ankam, um für die
Minister Antipathien zu nähren. Da redete bäuerlich-schlau,
immer gescheit der Klerikale Lienbacher. Sein etwas
vorgebeugter Kopf ließ, was er sagte, als den Ausfluß
abgeklärter Anschauungen erscheinen. Da redete in seiner Art
schneidend der Jungtscheche Gregr. Man hatte bei ihm das
Gefühl, einen halben Demagogen vor sich zu haben. Da stand
Rieger von den Alttschechen, ganz im tief charakteristischen
Sinn das verkörperte Tschechentum, wie es seit langer Zeit
sich herangebildet und in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts zum Bewußtsein seiner selbst gekommen war. Ein
in sich selten abgeschlossener, seelisch vollkräftiger, von
sicherem Willen getragener Mann. Da redete auf der rechten
Seite, inmitten der Polenbänke, Otto Hausner. Oft nur
Lesefrüchte geistreich vortragend, oft spitz-treffend nach
allen Seiten des Hauses auch sachlich berechtigte Pfeile mit
einem gewissen Wohlbehagen sendend. Ein zwar
selbstbefriedigtes, aber gescheites Auge blinzelte hinter
einem Monokel, das andere schien zu dem Blinzeln stets ein
befriedigtes «Ja» zu sagen. Ein Redner, der aber auch
zuweilen prophetische Worte für Österreichs Zukunft schon
damals fand. Man sollte heute nachlesen, was er damals gesagt
hat; man würde über seinen Scharfblick staunen. Man lachte
damals sogar über vieles, was nach Jahrzehnten bitterer Ernst
geworden ist.
TB 636 (IV.),
S 65 f
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