1872
|
Den
Ausschlag bei der Entscheidung, ob ich auf das Gymnasium oder die
Realschule geschickt werden solle, gab bei meinem Vater seine Absicht,
mir die rechte Vorbildung für eine «Anstellung» bei der Eisenbahn
zu verschaffen. Seine Vorstellungen drängten sich zuletzt in die
zusammen, ich sollte Eisenbahn-Ingenieur werden. Das führte zu der
Wahl der Realschule.
Zunächst aber
war die Frage zu entscheiden, ob ich beim Übergange von der
Neudörfler Dorfschule zu einer der Schulen des benachbarten
Wiener-Neustadt überhaupt für eine dieser Schularten schon
reif sei. Ich wurde zunächst zur Aufnahmeprüfung in die
Bürgerschule geführt...
Die
Aufnahmeprüfung in die Bürgerschule bestand ich sehr gut.
Man hatte alle die Zeichnungen mitgebracht, die ich bei meinem
Hilfslehrer angefertigt hatte; und diese machten auf die
Lehrerschaft, die mich prüfte, einen so starken Eindruck,
daß wohl dadurch hinweggesehen wurde über meine mangelnden
Kenntnisse. Ich kam mit einem «glänzenden» Zeugnisse davon.
Es war helle Freude bei meinen Eltern, beim Hilfslehrer, beim
Pfarrer, bei vielen Honoratioren von Neudörfl. Man war über
meinen Erfolg froh, denn er war für Viele ein Beweis, daß
die «Neudörfler Schule etwas leisten könne».
Aufnahme in die
Realschule
Für meinen
Vater entsprang aus alledem der Gedanke, daß ich nun, da ich
so weit sei, gar nicht erst ein Jahr in der Bürgerschule
verbringen, sondern sogleich in die Realschule kommen solle.
So wurde ich denn schon wenige Tage nachher zur
Aufnahmeprüfung in diese geführt. Da ging es zwar nicht so
gut als vorher;
aber ich wurde doch zur Aufnahme zugelassen. Es war im Oktober
1872.
Nun mußte ich
täglich den Weg von Neudörfl nach Wiener-Neustadt machen.
Morgens konnte ich mit dem Eisenbahnzuge fahren, abends mußte
ich zu Fuß zurückkehren, da ein Zug zur rechten Zeit nicht
fuhr. Neudörfl lag in Ungarn, Wiener-Neustadt in
Niederösterreich. Ich kam also täglich von
«Transleithanien» nach «Cisleithanien». (So nannte man
offiziell das ungarische und das österreichische Gebiet.)
Während des
Mittags blieb ich in Wiener-Neustadt. Es hatte sich eine Dame
gefunden, die mich bei einem ihrer Aufenthalte auf dem
Neudörfler Bahnhof kennen gelernt und dabei erfahren hatte,
daß ich zur Schule nach Wiener-Neustadt kommen werde. Meine
Eltern hatten ihr ihre Sorge darüber mitgeteilt, wie ich
über den Mittag bei meinen Schulbesuchen hinwegkommen werde.
Sie erklärte sich bereit, mich in ihrem Hause unentgeltlich
essen zu lassen und mich jederzeit aufzunehmen, wenn ich es
nötig hätte.
Der Fußweg von
Wiener-Neustadt nach Neudörfl ist im Sommer sehr schön; im
Winter war er oft beschwerlich. Ehe man von dem Stadtende zum
Dorfe kam, mußte man über einen Feldweg von einer halben
Stunde gehen, der vom Schnee nicht gesäubert wurde. Da hatte
ich oft durch Schnee zu «waten», der bis an die Knie ging,
und kam als «Schneemann» zu Hause an.
TB 636 (II.), S 25 f
Die ersten
beiden Klassen
Das Stadtleben
konnte ich in der Seele nicht in der gleichen Art mitmachen,
wie das auf dem Lande. Ich stand verträumt dem gegenüber,
was zwischen und in den aneinandergepferchten Häusern
vorging. Nur vor den Buchhandlungen Wiener-Neustadts blieb ich
oft lange stehen.
Auch was in der
Schule vorgebracht wurde und was ich selbst da zu tun hatte,
ging ohne ein lebhafteres Interesse an meiner Seele zunächst
vorüber. Ich hatte in den beiden ersten Klassen viele Mühe,
mitzukommen. Erst im zweiten Halbjahr der zweiten ging es
besser. Da war ich erst ein «guter Schüler» geworden.
Ich hatte ein
mich stark beherrschendes Bedürfnis. Ich sehnte mich nach
Menschen, denen ich wie Vorbildern menschlich nachleben
konnte. Solche fanden sich unter den Lehrern der beiden ersten
Klassen nicht.
TB 636 (II.), S 26
Mechanik
In dieses
Erleben in der Schule trat nun wieder ein Ereignis, das tief
in meine Seele hineinwirkte. Der Schuldirektor hatte in einem
der Jahresberichte, die am Ende eines jeden Schuljahres
ausgegeben wurden, einen Aufsatz erscheinen lassen: «Die
Anziehungskraft betrachtet als eine Wirkung der Bewegung.»
Ich konnte als elfjähriger Junge von dem Inhalte zunächst
fast nichts verstehen. Denn es fing gleich mit höherer
Mathematik an. Aber von einzelnen Sätzen erhaschte ich doch
einen Sinn. Es bildete sich in mir eine Gedankenbrücke von
den Lehren über das Weltgebäude, die ich von dem Pfarrer
erhalten hatte, bis zu dem Inhalte dieses Aufsatzes. In diesem
war auch auf ein Buch verwiesen, das der Direktor geschrieben
hatte: «Die allgemeine Bewegung der Materie als Grundursache
aller Naturerscheinungen.» Ich sparte so lange, bis ich mir
das Buch kaufen konnte. Es wurde nun eine Art Ideal von mir,
alles so schnell als möglich zu lernen, was mich zum
Verständnis des Inhaltes von Aufsatz und Buch führen konnte.
Es
handelte sich um folgendes. Der Schuldirektor hielt die von dem
Stoffe aus in die Ferne wirkenden «Kräfte» für eine unberechtigte
«mystische» Hypothese. Er wollte die «Anziehung» sowohl der Himmelskörper,
wie auch der Moleküle und Atome ohne solche «Kräfte» erklären. Er
sagte, zwischen zwei Körpern befinden sich viele in Bewegung begriffene
kleinere Körper. Diese stoßen, sich hin und her bewegend, auf die
größeren Körper. Ebenso werden diese an den Seiten überall gestoßen
an denen sie von einander abgewandt sind. Die Stöße, die auf die
abgewandten Seiten ausgeübt werden, sind zahlreicher als die in
dem Raum zwischen den beiden Körpern. Dadurch nähern sich diese.
Die «Anziehung» ist keine besondere Kraft, sondern nur eine «Wirkung
der Bewegung». Zwei Sätze fand ich ausgesprochen auf den ersten
Seiten des Buches: «1. Es existiert ein Raum und in diesem eine
Bewegung durch längere Zeit. 2. Raum und Zeit sind kontinuierliche
homogene Größen; die Materie aber besteht aus gesonderten Teilchen
(Atomen).» Aus den Bewegungen, die auf die beschriebene Art zwischen
den kleinen und großen Teilen der Materie entstehen, wollte der
Verfasser alle physikalischen und chemischen Naturvorgänge erklären.
Ich hatte
nichts in mir, was in irgendeiner Art dazu drängte, mich zu
dieser Anschauung zu bekennen; aber ich hatte das Gefühl, es
werde eine große Bedeutung für mich haben, wenn ich das auf
diese Art Ausgesprochene verstehen werde. Und ich tat alles
dazu, um dahin zu gelangen. Wo ich nur mathematische und
physikalische Bücher auftreiben konnte, benützte ich die
Gelegenheit. Es ging recht langsam. Ich setzte mit dem Lesen
von Aufsatz und Buch immer wieder an; es ging jedesmal etwas
besser.
TB 636 (II.), S 27
|
1876
1877
|
Fünfte, sechste
und siebente Klasse
Kant-Studium
Da ging ich
einmal an einer Buchhandlung vorbei. Im Schaufenster sah ich
Kants «Kritik der reinen Vernunft» in Reclams Ausgabe. Ich
tat alles, um mir dies Buch so schnell als möglich zu kaufen.
Als damals Kant
in den Bereich meines Denkens eintrat, wußte ich noch nicht
das geringste von dessen Stellung in der Geistesgeschichte der
Menschheit. Was irgend ein Mensch über ihn gedacht hat,
zustimmend oder ablehnend, war mir gänzlich unbekannt. Mein
unbegrenztes Interesse an der Kritik der reinen Vernunft wurde
aus meinem ganz persönlichen Seelenleben heraus erregt. Ich
strebte auf meine knabenhafte Art danach, zu verstehen, was
menschliche Vernunft für einen wirklichen Einblick in das
Wesen der Dinge zu leisten vermag.
Die
Kantlektüre fand mancherlei Hindernisse an den äußeren
Lebenstatsachen. Ich verlor durch den weiten Weg, den ich
zwischen Heim und Schule zurückzulegen hatte, täglich
wenigstens drei Stunden. Abends kam ich vor sechs Uhr nicht zu
Hause an. Dann war eine endlose Masse von Schulaufgaben zu
bewältigen. Und
an Sonntagen gab ich mich fast ausschließlich dem
konstruktiven Zeichnen hin. Es in der Ausführung der
geometrischen Konstruktionen zur größten Exaktheit, in der
Behandlung des Schraffierens und Anlegens der Farbe zur
tadellosen Sauberkeit zu bringen, war mir ein Ideal.
So blieb mir
für das Lesen der «Kritik der reinen Vernunft» gerade
damals kaum eine Zeit. Ich fand den folgenden Ausweg. Die
Geschichte wurde uns so beigebracht, daß der Lehrer scheinbar
vortrug, aber in Wirklichkeit aus einem Buche vorlas. Wir
hatten dann von Stunde zu Stunde das in dieser Art an uns
Herangebrachte aus unserem Buche zu lernen. Ich dachte mir,
das Lesen des im Buche Stehenden muß ich ja doch zu Hause
besorgen. Von dem «Vortrag» des Lehrers hatte ich gar
nichts. Ich konnte durch das Anhören dessen, was er las,
nicht das geringste aufnehmen. Ich trennte nun die einzelnen
Bogen des Kantbüchleins auseinander, heftete sie in das
Geschichtsbuch ein, das ich in der Unterrichtsstunde vor mir
liegen hatte, und las nun Kant, während vom Katheder herunter
die Geschichte «gelehrt» wurde. Das war natürlich
gegenüber der Schuldisziplin ein großes Unrecht; aber es
störte niemand und es beeinträchtigte so wenig, was von mir
verlangt wurde, daß ich damals in der Geschichte die Note
«vorzüglich» bekam.
In den
Ferienzeiten wurde die Kantlektüre eifrig fortgesetzt. Ich
las wohl manche Seite mehr als zwanzigmal hintereinander. Ich
wollte zu einem Urteile darüber kommen, wie das menschliche
Denken zu dem Schaffen der Natur steht.
Die
Empfindungen, die ich gegenüber diesen Denkbestrebungen
hatte, wurden von zwei Seiten her beeinflußt. Zum ersten
wollte ich das Denken in mir selbst so ausbilden, daß jeder
Gedanke voll überschaubar wäre, daß kein unbestimmtes
Gefühl ihn in irgendeine Richtung brächte. Zum zweiten
wollte ich einen Einklang zwischen einem solchen Denken und
der Religionslehre in mir herstellen. Denn auch diese nahm
mich damals im höchsten Grade in Anspruch. Wir hatten gerade
auf diesem Gebiete ganz ausgezeichnete Lehrbücher. Dogmatik
und Symbolik, die Beschreibung des Kultus, die
Kirchengeschichte nahm ich aus diesen Lehrbüchern mit
wirklicher Hingebung auf. Ich lebte
ganz stark in diesen Lehren. Aber mein Verhältnis zu ihnen
war dadurch bestimmt, daß mir die geistige Welt als ein
Inhalt der menschlichen Anschauung galt. Gerade deshalb
drangen diese Lehren so tief in meine Seele, weil ich an ihnen
empfand, wie der menschliche Geist erkennend den Weg ins
Übersinnliche finden kann. Die Ehrfurcht vor dem Geistigen -
das weiß ich ganz bestimmt — wurde mir durch dieses
Verhältnis zur Erkenntnis nicht im geringsten genommen.
Auf der ändern
Seite beschäftigte mich unaufhörlich die Tragweite der
menschlichen Gedankenfähigkeit. Ich empfand, daß das Denken
zu einer Kraft ausgebildet werden könne, die die Dinge und
Vorgänge der Welt wirklich in sich faßt. Ein «Stoff», der
außerhalb des Denkens liegen bleibt, über den bloß
«nachgedacht» wird, war mir ein unerträglicher Gedanke. Was
in den Dingen ist, das muß in die Gedanken des Menschen
herein, das sagte ich mir immer wieder.
An dieser
Empfindung stieß aber auch immer wieder das an, was ich bei
Kant las. Aber ich merkte damals diesen Anstoß kaum. Denn ich
wollte vor allem durch die «Kritik der reinen Vernunft»
feste Anhaltspunkte gewinnen, um mit dem eigenen Denken
zurecht zu kommen. Wo und wann ich meine Ferienspaziergänge
machte: ich mußte mich irgendwo still hinsetzen, und mir
immer von neuem zurechtlegen, wie man von einfachen,
überschaubaren Begriffen zur Vorstellung über die
Naturerscheinungen kommt. Ich verhielt mich zu Kant damals
ganz unkritisch; aber ich kam durch ihn nicht weiter.
TB 636 (II.), S 29 ff
Praktische Tätigkeit
Ich wurde durch
alles dieses nicht abgezogen von den Dingen, welche die
praktische Handhabung von Verrichtungen und die Ausbildung der
menschlichen Geschicklichkeit betrafen. Es fand sich, daß
einer der Beamten, die meinen Vater im Dienste ablösten, die
Buchbinderei verstand. Ich lernte von ihm das Buchbinden und
konnte mir in den Ferien, die zwischen der vierten und
fünften Realschulklasse lagen, meine Schulbücher selbst
einbinden. Auch lernte ich in dieser Zeit während der Ferien
die Stenographie ohne Lehrer. Trotzdem machte ich dann die
Stenographiekurse mit, die von der fünften Klasse an gehalten
wurden.
Gelegenheit zum
praktischen Arbeiten gab es genug. Meinen Eltern war in der
Umgebung des Bahnhofes ein kleiner Garten mit Obstbäumen und
ein kleines Kartoffelfeld zugeteilt. Kirschenpflücken, die
Gartenarbeiten besorgen, die Kartoffeln für die Aussaat
vorbereiten, den Acker bestellen, die reifen Kartoffeln
ausgraben, das alles wurde von meinen Geschwistern und mir
mitbesorgt. Den Lebensmitteleinkauf im Dorfe zu besorgen,
ließ ich mir in den Zeiten, die mir die Schule frei ließ,
nicht nehmen.
TB 636 (II.), S 31 f
Carl
Hickel und die deutsche Literatur
Als ich etwa
fünfzehn Jahre alt war, durfte ich zu dem schon erwähnten
Arzte in Wiener-Neustadt in ein näheres Verhältnis treten.
Ich hatte ihn durch die Art, wie er bei seinen Neudörfler
Besuchen mit mir sprach, sehr lieb gewonnen. So schlich ich
denn öfter an seiner Wohnung, die in einem Erdgeschosse an
der Ecke zweier ganz schmaler Gäßchen in Wiener-Neustadt
lag, vorbei. Einmal war er am Fenster. Er rief mich in sein
Zimmer. Da stand ich vor einer für meine damaligen Begriffe
«großen» Bibliothek. Er sprach wieder von Literatur, nahm
dann Lessings «Minna von Barnhelm» aus der Büchersammlung
und sagte, das solle ich lesen und dann wieder zu ihm kommen.
So gab er mir immer wieder Bücher zum Lesen und erlaubte mir,
von Zeit zu Zeit zu ihm zu gehen. Ich mußte ihm dann jedesmal,
wenn ich ihn besuchen durfte, von meinen Eindrücken aus dem
Gelesenen erzählen. Er wurde dadurch eigentlich mein Lehrer
in dichterischer Literatur. Denn diese war mir bis dahin
sowohl im Elternhause wie in der Schule, außer einigen
«Proben», ziemlich ferne geblieben. Ich lernte in der
Atmosphäre des liebevollen, für alles Schöne begeisterten
Arztes besonders Lessing kennen. TB 636 (II.), S
32
Mathematik
Ein anderes
Ereignis beeinflußte tief mein Leben. Die mathematischen
Bücher, die Lübsen zum Selbstunterricht geschrieben hat,
wurden mir bekannt. Da konnte ich analytische Geometrie,
Trigonometrie und auch Differential- und Integralrechnung mir
aneignen, lange bevor ich sie schulmäßig lernte. Das setzte
mich in den Stand, zu der Lektüre der Bücher über «Die
allgemeine Bewegung der Materie als Grundursache aller
Naturerscheinungen» wieder zurückzukehren. Denn nunmehr
konnte ich sie durch meine mathematischen Kenntnisse besser
verstehen.
TB 636 (II.), S
32
Chemie
Es
war ja auch mittlerweile zum Physikunterricht der aus der Chemie
getreten und damit für mich eine neue Anzahl von Erkenntnisrätseln
zu den alten. Der Chemielehrer war ein ausgezeichneter Mann. Er
gab den Unterricht fast ausschließlich experimentierend. Er sprach
wenig. Er ließ die Naturvorgänge für sich sprechen. Er war einer
unserer beliebtesten Lehrer. Es war etwas Merkwürdiges an ihm, wodurch
er sich für seine Schüler von den ändern Lehrern unterschied. Man
setzte von ihm voraus, daß er zu seiner Wissenschaft in einem nähern
Verhältnisse stehe als die ändern. Diese sprachen wir Schüler mit
dem Titel «Professor» an; ihn, trotzdem er ebensogut «Professor»
war, mit «Herr Doktor». Er war der Bruder des sinnigen tirolischen
Dichters
Hermann v. Gilm. Er hatte einen Blick, der die Aufmerksamkeit
stark anzog. Man bekam das Gefühl, dieser Mann ist gewohnt, scharf
auf die Naturerscheinungen hinzusehen und sie dann im Blicke zu
behalten.
Sein Unterricht
verwirrte mich ein wenig. Die Fülle der Tatsachen, die er
brachte, konnte meine damals nach Vereinheitlichung drängende
Seelenart nicht immer zusammenhalten. Dennoch muß er die
Ansicht gehabt haben, daß ich in der Chemie gute Fortschritte
mache. Denn er gab mir von Anfang an die Note «lobenswert»,
die ich dann durch alle Klassen beibehielt.
TB 636 (II.), S 33 Die
Weltgeschichte von Rotteck
In einem
Antiquariat in Wiener-Neustadt entdeckte ich eines Tages in
jener Zeit die Weltgeschichte von Rotteck. Geschichte war
meiner Seele vorher, trotzdem ich in der Schule die besten
Noten bekam, etwas Äußerliches geblieben. Jetzt wurde sie
mir etwas Innerliches. Die Wärme, mit der Rotteck die
geschichtlichen Ereignisse ergriff und schilderte, riß mich
hin. Seinen einseitigen Sinn in der Auffassung bemerkte ich
noch nicht. Durch ihn wurde ich dann weiter zu zwei ändern
Geschichtsschreibern gebracht, die durch ihren Stil und durch
ihre geschichtliche Lebensauffassung den tiefsten Eindruck auf
mich machten: Johannes von Müller und Tacitus. Es wurde unter
solchen Eindrücken für mich recht schwer, mich in den
Schulunterricht aus Geschichte und Literatur hineinzufinden.
Aber ich versuchte, mir diesen Unterricht durch alles das zu
beleben, was ich außerhalb desselben mir angeeignet hatte. In
einer solchen Art verbrachte ich die Zeit in den drei obern
der sieben Realschulklassen. TB 636 (II.), S
33 f Nachhilfeunterricht
Von meinem
fünfzehnten Lebensjahre an gab ich Nachhilfestunden, entweder
an Mitschüler desselben Jahrganges oder an Schüler, die in
einem niedrigeren Jahrgange waren als ich selbst. Man
vermittelte mir von Seite des Lehrerkollegiums gerne diesen
Nachhilfeunterricht, denn ich galt ja als «guter Schüler».
Und mir war dadurch die Möglichkeit geboten, wenigstens ein
Geringes zu dem beizusteuern, was meine Eltern von ihrem
kärglichen Einkommen für meine Ausbildung aufwenden mußten.
Ich verdanke
diesem Nachhilfeunterricht sehr viel. Indem ich den
aufgenommenen Unterrichtsstoff an Andere weiterzugeben hatte,
erwachte ich gewissermaßen für ihn. Denn ich kann nicht
anders sagen, als daß ich die Kenntnisse, die mir selbst von
der Schule übermittelt wurden, wie in einem Lebenstraume
aufnahm. Wach war ich in dem, was ich mir selbst errang oder
was ich von einem geistigen Wohltäter, wie dem erwähnten
Wiener-Neustädter Arzt, erhielt. Von dem, was ich so in einen
vollbewußten Seelenzustand hereinnahm, unterschied sich
beträchtlich, was wie traumbildhaft als Schulunterricht an
mir vorüberging. Für die Umbildung dieses halbwach
Aufgenommenen sorgte nun die Tatsache, daß ich meine
Kenntnisse in den Nachhilfestunden beleben mußte.
Andererseits
war ich dadurch genötigt, mich in einem frühen Lebensalter
mit praktischer Seelenkunde zu beschäftigen. Ich lernte die
Schwierigkeiten der menschlichen Seelenentwickelung an meinen
Schülern kennen.
Den
Mitschülern des gleichen Jahrganges, die ich unterrichtete,
mußte ich vor allem die deutschen Aufsätze machen. Da ich
jeden solchen Aufsatz auch noch für mich selbst zu schreiben
hatte, mußte ich für jedes Thema, das uns gegeben wurde,
verschiedene Formen der Ausarbeitung finden. Ich fühlte mich
da oft in einer recht schwierigen Lage. Meinen eigenen Aufsatz
machte ich erst, nachdem ich die besten Gedanken für das
Thema weggegeben hatte.
TB 636 (II.), S 34
Deutsche
Sprache und Literatur - Herbart'sche Philosophie
Mit
dem Lehrer der deutschen Sprache und Literatur in den drei oberen
Klassen stand ich in einem ziemlich gespannten Verhältnis. Er galt
unter meinen Mitschülern als der «gescheiteste Professor» und als
besonders strenge. Meine Aufsätze waren immer besonders lange geworden.
Die kürzere Fassung hatte ich ja an meinen Mitschüler diktiert.
Der Lehrer brauchte lange, um meine Aufsätze zu lesen. Als er nach
der Abgangsprüfung beim Abschiedsfeste zum erstenmal mit uns Schülern
«gemütlich» zusammen war, sagte er mir, wie ärgerlich ich ihm durch
die langen Aufsätze geworden war.
Dazu kam noch
ein anderes. Ich fühlte, daß durch diesen Lehrer etwas in
die Schule hereinragte, mit dem ich fertig werden mußte. Wenn
er zum Beispiel über das Wesen der poetischen Bilder sprach,
da empfand ich, daß etwas im Hintergrunde stand. Nach einiger
Zeit kam ich darauf, was es war. Er bekannte sich zur
Herbart'schen Philosophie. Er selbst sagte davon nichts. Aber
ich kam dahinter. Und so kaufte ich mir denn eine «Einleitung
in die Philosophie» und eine «Psychologie», die beide vom
Herbart'schen philosophischen Gesichtspunkte aus geschrieben
waren.
Und jetzt
begann eine Art Versteckspiel zwischen diesem Lehrer und mir
durch die Aufsätze. Ich fing an, manches bei ihm zu
verstehen, was er in der Färbung der Herbart'schen
Philosophie vorbrachte; und er fand in meinen Aufsätzen
allerlei Ideen, die auch aus dieser Ecke kamen. Es wurde nur
weder von ihm, noch von mir der Herbart'sche Ursprung genannt.
Das war wie durch ein stilles Übereinkommen. Aber einmal
schloß ich einen Aufsatz in einer gegenüber dieser Lage
unvorsichtigen Art. Ich hatte über irgendeine
Charaktereigenschaft bei den Menschen zu schreiben. Zum
Schluß brachte ich den Satz: «ein solcher Mensch hat
psychologische Freiheit.» Der Lehrer besprach mit uns
Schülern die Aufsätze, nachdem er sie korrigiert hatte. Als
er an die Besprechung des genannten Aufsatzes kam, verzog er
mit gründlicher Ironie die Mundwinkel und sagte: «Sie
schreiben da etwas von psychologischer Freiheit; die gibt es
ja gar nicht.» Ich erwiderte: «Ich meine, das ist ein
Irrtum, Herr Professor, die psychologische Freiheit) gibt es
schon; es gibt nur keine transzendentale Freiheit) im
gewöhnlichen Bewußtsein.» Die Mundfalten des Lehrers wurden
wieder glatt; er sah mich mit einem durchdringenden Blicke an
und sagte dann: «Ich bemerke schon lange an Ihren Aufsätzen,
daß Sie eine philosophische Bibliothek haben. Ich möchte
Ihnen raten, darin nicht zu lesen; Sie verwirren sich dadurch
nur Ihre Gedanken.» Ich konnte nun durchaus nicht begreifen,
warum ich meine Gedanken durch Lesen derselben Bücher
verwirren sollte, aus denen er die seinigen hatte. Und so
blieb denn das Verhältnis zwischen ihm und mir weiter ein
gespanntes.
Sein Unterricht
gab mir viel zu tun. Denn er umfaßte in der fünften Klasse
die griechische und lateinische Dichtung, von der Proben in
deutscher Übersetzung vorgebracht wurden. Erst jetzt begann
ich zuweilen schmerzlich zu empfinden, daß mich mein Vater
nicht in das Gymnasium, sondern in die Realschule geschickt
hatte. Denn ich fühlte, wie wenig ich von der Eigenart der
griechischen und lateinischen Kunst durch die Übersetzungen
berührt wurde. Und so kaufte ich mir griechische und
lateinische Lehrbücher und trieb ganz im stillen neben dem
Realschulunterricht einen privaten Gymnasialunterricht. Das
beanspruchte viel Zeit; aber es legte auch den Grund dazu,
daß ich doch noch später, zwar abnorm, aber ganz regelrecht
das Gymnasium absolvierte. Ich mußte nämlich, als ich an der
Hochschule in Wien war, erst recht viele Nachhilfestunden
geben. Ich bekam bald einen Gymnasiasten zum Schüler. Die
Umstände, von denen ich noch sprechen werde, bewirkten, daß
ich diesen Schüler fast durch das ganze Gymnasium hindurch
mit Hilfe von Privatstunden zu führen hatte. Ich
unterrichtete ihn auch im Lateinischen und Griechischen, so
daß ich an seinem Unterricht alle Einzelheiten des
Gymnasialunterrichtes mitzuerleben hatte.
TB 636 (II.), S 34 ff Geographie
Die Lehrer aus
der Geschichte und Geographie, die mir in den unteren Klassen
so wenig geben konnten, wurden nun in den oberen Klassen doch
noch von Bedeutung für mich. Gerade derjenige, der mich zu
einer so sonderbaren Kantlektüre getrieben hatte, schrieb
einmal einen Schulprogrammaufsatz über «Die Eiszeit und ihre
Ursachen». Ich nahm den Inhalt mit großer seelischer
Begierde auf und behielt davon ein reges Interesse für das
Eiszeitproblem. Aber dieser Lehrer war auch ein guter
Schüler des
ausgezeichneten Geographen Friedrich Simony. Das brachte ihn
dazu, in den oberen Klassen, zeichnend an der Schultafel, die
geologisch-geographischen Verhältnisse der Alpen zu
entwickeln. Da las ich nun allerdings nicht Kant, sondern war
ganz Auge und Ohr. Ich bekam von dieser Seite her viel von dem
Lehrer, dessen Geschichtsunterricht mich gar nicht
interessierte.
TB 636 (II.), S 36 Geschichte
In der letzten
Realschulklasse bekam ich erst einen Lehrer, der mich auch
durch seinen Geschichtsunterricht fesselte. Er unterrichtete
Geschichte und Geographie. In dieser wurde die Alpengeographie
in der reizvollen Art fortgesetzt, die schon bei dem andern
Lehrer vorhanden war. In der Geschichte wirkte der neue Lehrer
stark auf uns Schüler. Er war für uns eine Persönlichkeit
aus dem Vollen heraus. Er war Parteimann, ganz begeistert für
die fortschrittlichen Ideen der damaligen österreichischen
liberalen Richtung. Aber in der Schule bemerkte man davon gar
nichts. Er trug von seinen Parteiansichten nichts in die
Schule hinein. Aber sein Geschichtsunterricht hatte durch
seinen Anteil am Leben selbst starkes Leben. Ich hörte mit
den Ergebnissen meiner Rotteck-Lektüre in der Seele die
temperamentvollen geschichtlichen Auseinandersetzungen dieses
Lehrers. Es gab einen schönen Einklang. Ich muß es als
wichtig für mich ansehen, daß ich gerade die neuzeitliche
Geschichte auf diese Art in mich aufnehmen konnte.
Im Elternhause
hörte ich damals viel diskutieren über den
russisch-türkischen Krieg (1877/78). Der Beamte, der damals
die Ablösung meines Vaters im Dienste an jedem dritten Tag
hatte, war ein origineller Mensch. Er kam immer zur Ablösung
mit einer mächtigen Reisetasche. Darinnen hatte er große
Manuskriptpakete. Es waren Auszüge aus den verschiedensten
wissenschaftlichen Büchern. Er gab sie mir nach und nach zum
Lesen. Ich verschlang sie. Mit mir diskutierte er dann über
diese Dinge. Denn er hatte wirklich auch im Kopfe eine zwar
chaotische, aber umfassende Anschauung von alledem, was er
zusammengeschrieben hatte. — Mit meinem Vater aber
politisierte er. Er nahm begeistert Partei für die Türken;
mein Vater verteidigte mit starker Leidenschaft die Russen. Er
gehörte zu denjenigen Persönlichkeiten, die Russland damals
noch dankbar waren für die Dienste, die es den Österreichern
beim ungarischen Aufstande (1849) geleistet hatte. Denn mit
den Ungarn war mein Vater gar nicht einverstanden. Er lebte ja
an dem ungarischen Grenzorte Neudörfl in der Zeit der
Magyarisierung. Und immer war über seinem Haupte das
Damoklesschwert, daß er nicht Leiter der Station Neudörfl
sein könne, weil er nicht magyarisch sprechen könne. Es war
dies in der dortigen urdeutschen Gegend zwar ganz unnötig.
Aber die ungarische Regierung arbeitete darauf hin, daß die
ungarischen Linien der Eisenbahnen mit magyarisch sprechenden
Beamten auch bei Privatbahnen besetzt würden. Mein Vater
wollte aber seinen Posten in Neudörfl so lange behalten, bis
ich mit der Schule in Wiener-Neustadt fertig war. Durch alles
dieses war er den Ungarn recht wenig geneigt. Und weil er die
Ungarn nicht mochte, liebte er in seiner einfachen Art zu
denken: die Russen, die 1849 den Ungarn «den Herrn gezeigt
hatten». Diese Denkweise wurde außerordentlich
leidenschaftlich, aber in der zugleich außerordentlich
liebenswürdigen Art meines Vaters gegenüber dem
«Türkenfreund» in der Person seines «Ablösers»
vertreten. Die Wogen der Diskussion gingen manchmal recht
hoch. Mich interessierte das Aufeinanderplatzen der
Persönlichkeiten stark, ihre politischen Ansichten fast gar
nicht. Denn mir war damals weit wichtiger, die Frage zu
beantworten: inwiefern läßt sich beweisen, daß im
menschlichen Denken realer Geist das Wirksame ist?
TB 636 (II.), S 37 f
|