1894 -
1896
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Weimar
Es gibt
keine absoluten Erkenntnisgrenzen
Wie einsam ich
damals mit dem stand, was ich im stillen als meine
«Weltanschauung» in mir trug, während meine Gedanken auf
Goethe einerseits und Nietzsche andererseits gelenkt waren,
das konnte ich auch empfinden an dem Verhältnis zu mancher
Persönlichkeit, mit der ich mich freundschaftlich verbunden
fühlte, und die doch mein Geistesleben energisch ablehnte.
Der Freund, den
ich in jungen Jahren gewonnen hatte, nachdem unsere Ideen so
aneinandergeprallt waren, daß ich ihm sagen mußte: «Wäre
richtig, was du über das Wesen des Lebens denkst, so wäre
ich lieber das Holzstück, auf dem meine Füße stehen, als
ein Mensch», verblieb mir in Liebe und Treue zugetan. Seine
warm gehaltenen Briefe aus Wien versetzten mich immer wieder
an den Ort, der mir so lieb war; namentlich durch die
menschlichen Beziehungen, in denen ich da leben durfte.
Aber wenn der
Freund in seinen Briefen auf mein Geistesleben zu sprechen
kam, da tat sich ein Abgrund auf.
Er schrieb mir
oft, daß ich dem ursprünglich Menschlichen mich entfremde,
daß ich «meine Seelen-Impulse rationalisiere». Er hatte das
Gefühl, daß bei mir das Gefühlsleben sich umwandle in ein
reines Gedankenleben; und er empfand dieses als eine von mir
ausgehende Kälte. Es konnte mir alles nichts helfen, was ich
auch dagegen geltend machte. Ich mußte sogar bemerken, daß
zeitweilig die Wärme seiner Freundschaft abnahm, weil
er den Glauben nicht los werden konnte: ich müsse in
dem Menschlichen erkalten, da ich mein Seelenleben in der
Region des Gedankens verbrauche.
Wie ich, statt
im Gedankenleben zu erkalten, das ganze Menschliche in dieses
Leben mitnehmen mußte, um mit ihm in der Sphäre des
Gedanklichen die geistige Wirklichkeit zu ergreifen, das
wollte er nicht begreifen.
Er sah nicht,
daß das Rein-Menschliche verbleibt, auch wenn es in das
Gebiet des Geistes sich erhebt; er sah nicht, wie man im
Gedankengebiet leben könne; er vermeinte, man könne
da bloß denken und müsse sich in der kalten Region
des Abstrakten verlieren.
Und so machte
er mich zu einem «Rationalisten». Ich empfand darin das
größte Mißverständnis dessen, was auf meinen Geisteswegen
lag. Alles Denken, das von der Wirklichkeit hinwegführte und
in Abstraktheit auslief, war mir im Innersten zuwider. Ich war
in einer Seelenverfassung, die den Gedanken aus der
sinnenfälligen Welt nur bis zu der Stufe herausführen
wollte, wo er droht, abstrakt zu werden; in diesem
Augenblicke, sagte ich mir, müsse er den Geist ergreifen.
Mein Freund sah, wie ich mit dem Gedanken aus der Welt des
Physischen heraustrete; aber er gewahrte nicht, wie ich in
demselben Augenblicke in das Geistige hineintrete. Und so war
ihm, wenn ich von dem wirklich Geistigen sprach, dies alles
ein Wesenloses; und er vernahm in meinen Worten nur ein Gewebe
von abstrakten Gedanken.
Ich litt schwer
unter der Tatsache, daß ich eigentlich, indem ich das mir
Bedeutungsvollste aussprach, für meinen Freund von einem
«Nichts» sprach. — Und so stand ich vielen Menschen
gegenüber.
Ich mußte, was
mir so im Leben gegenübertrat, auch an meiner Auffassung des Naturerkennens
sehen. Ich konnte die rechte Methode des Forschens in der Natur
nur darin anerkennen, daß man die Gedanken dazu verwendet, um die
Erscheinungen der Sinne in ihren gegenseitigen Verhältnissen zu
durchschauen; nicht aber konnte ich zugeben, daß man durch die Gedanken,
über das Gebiet der Sinnesanschauung hinaus, Hypothesen bilde, die
dann auf eine außersinnliche Wirklichkeit deuten wollen, die in
Wahrheit aber nur ein Gespinnst von abstrakten Gedanken bilden.
Ich wollte in dem Augenblicke, wo der Gedanke an der Feststellung
dessen, was die Sinneserscheinungen, recht angeschaut, durch sich
selbst aufklären, genug getan hat, nicht mit einer Hypothesenbildung,
sondern mit der Anschauung, mit der Erfahrung des
Geistigen beginnen, das in der Sinneswelt und im wahren Sinne
nicht hinter der Sinnesanschauung wesenhaft lebt. Was ich
damals, Mitte der neunziger Jahre, intensiv als meine Anschauung
in mir trug, das faßte ich später in einem
Aufsatz, den ich 1900 in Nr. 16 des «Magazin für Literatur» schrieb,
so zusammen: «Eine
wissenschaftliche Zergliederung unserer Erkenntnistätigkeit führt
... zu der Überzeugung, daß die Fragen, die wir an die Natur zu
stellen haben, eine Folge des eigentümlichen Verhältnisses sind,
in dem wir zur Welt stehen. Wir sind beschränkte Individualitäten,
und können deshalb die Welt nur stückweise wahrnehmen. Jedes Stück,
an und für sich betrachtet, ist ein Rätsel, oder, anders ausgedrückt,
eine Frage für unser Erkennen. Je mehr der Einzelheiten wir aber
kennen lernen, desto klarer wird uns die Welt. Eine Wahrnehmung
erklärt die andere. Fragen, welche die Welt an uns stellt und die
mit den Mitteln, die sie uns bietet, nicht zu beantworten wären,
gibt es nicht. Für den Monismus existieren demnach keine prinzipiellen
Erkenntnisgrenzen. Es kann zu irgendeiner Zeit dies oder jenes unaufgeklärt
sein, weil wir zeitlich oder räumlich noch nicht in der Lage waren,
die Dinge aufzufinden, welche dabei im Spiele sind. Aber was heute
noch nicht gefunden ist, kann es morgen werden. Die hierdurch
bedingten Grenzen sind nur zufällige,
die mit dem Fortschreiten der Erfahrung und des Denkens verschwinden.
In solchen Fällen tritt
dann die Hypothesenbildung in ihr Recht ein. Hypothesen dürfen nicht
über etwas aufgestellt werden, das unserer Erkenntnis prinzipiell
unzugänglich sein soll. Die atomistische Hypothese ist eine völlig
unbegründete, wenn sie nicht bloß als ein Hilfsmittel des abstrahierenden
Verstandes, sondern als eine Aussage über wirkliche, außerhalb der
Empfindungsqualitäten liegende wirkliche Wesen gedacht werden soll.
Eine Hypothese kann nur eine Annahme über einen Tatbestand sein,
der uns aus zufälligen Gründen nicht zugänglich ist, der aber seinem
Wesen nach der uns gegebenen Welt angehört.»
Ich habe diese
Anschauung über Hypothesenbildung damals ausgesprochen, indem
ich die «Erkenntnisgrenzen» als unberechtigt, die Grenzen
der Naturwissenschaft als notwendige hinstellen wollte. Ich
habe es damals nur im Hinblick auf die Naturerkenntnis getan.
Aber diese Ideengestaltung hat mir immer den Weg gebahnt, da
wo man mit den Mitteln der Naturerkenntnis an der notwendigen
«Grenze» steht, mit den Mitteln der Geisteserkenntnis
weiterzuschreiten.
Seelisches
Wohlbefinden und etwas innerlich tief Befriedigendes erlebte
ich in Weimar durch das künstlerische Element, das in die
Stadt durch die Kunstschule und durch das Theater mit dem sich
daranschließenden Musikalischen gebracht wurde.
In den malenden
Lehrern und Schülern der Kunstschule offenbarte sich, was
damals aus älteren Traditionen heraus nach einer neuen,
unmittelbaren Anschauung und Wiedergabe von Natur und Leben
strebte. Recht viele waren unter diesen Malern, die im echten
Sinne als «suchende Menschen» erschienen. Wie dasjenige, was
der Maler als Farbe auf seiner Palette oder in seinem
Farbentopfe hat, auf die Malfläche zu bringen ist, damit, was
der Künstler schafft, ein berechtigtes Verhältnis habe zu
der im Schaffen lebenden und vor dem menschlichen Auge
erscheinenden Natur: das war die Frage, die mit anregender,
oft wohltuend phantasievoller, oft auch doktrinärer Art in
den mannigfaltigsten Formen erörtert wurde, und von deren
künstlerischem Erleben die zahlreichen Bilder zeugten, die
von Weimarer Malern in der ständigen Kunstausstellung in
Weimar vorgeführt wurden.
Suche nach einer
geistgemäßen Auffassung des Künstlerischen
Meine
Kunstempfindung war damals noch nicht so weit wie mein
Verhältnis zu den Erkenntnis-Erlebnissen. Aber ich suchte
doch auch im anregenden Verkehr mit den Weimarer Künstlern
nach einer geistgemäßen Auffassung des Künstlerischen.
Ziemlich
chaotisch steht vor der rückschauenden Erinnerung, was ich in
der eigenen Seele empfand, wenn die modernen Maler, die Licht-
und Luftstimmung im unmittelbaren Anschauen ergreifen und
wiedergeben wollten, zu Felde zogen gegen die «Alten», die
aus der Tradition «wußten», wie man dies oder jenes zu
behandeln habe. Es war in Vielen ein begeistertes, aus den
ursprünglichsten Seelenkräften stammendes Bestreben,
«wahr» zu sein im Erlauschen der Natur.
Otto Fröhlich
Aber nicht so
chaotisch, sondern in den deutlichsten Formen steht vor meiner
Seele das Leben eines jungen Malers, dessen künstlerische
Art, sich zu offenbaren, mit meiner eigenen Entwickelung nach
der Seite der künstlerischen Phantasie hin innig
zusammenhing. Der damals in der Vollblüte der Jugend stehende
Künstler schloß sich für einige Zeit eng an mich an. Das
Leben hat auch ihn wieder von mir entfernt; aber ich lebte oft
in der Erinnerung an die gemeinsam verbrachten Stunden.
Das Seelenleben
dieses jungen Menschen war ganz Licht und Farbe. Was andere in
Ideen ausdrücken, sprach er durch «Farben im Lichte» aus.
Selbst sein Verstand wirkte so, daß er durch ihn die Dinge
und Vorgänge des Lebens verband wie sich Farben verbinden,
nicht wie sich die bloßen Gedanken verbinden, die der
gewöhnliche Mensch von der Welt sich bildet.
Dieser
junge Künstler war einmal auf einer Hochzeitsfeier, bei der ich
auch eingeladen war. Es wurden die üblichen Festreden gehalten.
Der Pastor suchte für den Inhalt seiner Rede in der Bedeutung der
Namen von Braut und Bräutigam; ich suchte mich der Rednerpflicht,
die mir oblag, weil ich oft in dem befreundeten Hause verkehrte,
dem die Braut entstammte, dadurch zu entledigen, daß ich von den
entzückenden Erlebnissen sprach, die die Gäste dieses Hauses haben
konnten. Ich redete, weil man erwartete, daß ich rede. Und man erwartete
von mir eine Hochzeitstischrede, wie «sich's gehört». Und so hatte
ich an «meiner Rolle» wenig Freude. — Nach mir erhob sich der junge
Maler, der längst auch Freund des Hauses geworden war. Von ihm erwartete
man eigentlich nichts. Denn man wußte, solche Vorstellungen, wie
man sie in Tischreden bringt, die hat der nicht. Er fing an etwa
so: «Über den rot erglimmenden Gipfel des Hügels liebend der Sonnenglanz
ergossen. Wolken über Hügel und im Sonnenglanz atmend; glühend rote
Wangen dem Sonnenlichte entgegenhaltend, zum Geistes-Farben-Triumphbogen
sich vereinend, das Geleite gebend dem zur Erde strebenden Lichte.
Blumenflächen weit und breit, über sich gelb erglimmende Stimmung,
die in die Blumen schlüpft, Leben aus ihnen erweckend ...» Er sprach
so noch lange fort. Er hatte ja plötzlich all das Hochzeitgewühle
um sich vergessen und «im Geiste» zu malen begonnen. Ich weiß nicht
mehr, warum er aufgehört hat, so malend zu sprechen; ich glaube,
es hat ihn jemand an seinem Samtrock gezupft, der ihn sehr lieb
hatte, der es aber nicht weniger lieb hatte, daß die Gäste zum ruhigen
Genüsse des Hochzeitsbratens kamen.
Der junge Maler
hieß Otto Fröhlich. Er saß viel bei mir auf meiner Stube,
wir machten zusammen Spaziergänge und Ausflüge. Otto
Fröhlich malte «im Geiste» immer neben mir. Man konnte
neben ihm vergessen, daß die Welt noch einen ändern Inhalt
hat als Licht und Farbe.
So empfand ich
den jungen Freund. Ich weiß, wie, was ich ihm zu sagen hatte,
ich vor seiner Seele in ein Farbenkleid hüllte, um mich ihm
verständlich zu machen.
Und der junge
Maler brachte es auch wirklich dahin, den Pinsel so zu
führen, die Farbe so zu legen, daß seine Bilder bis zum
hohen Grade ein Abglanz wurden seiner lebend-üppigen
Farbenphantasie. Wenn er einen Baumstamm malte, dann war auf
der Leinwand nicht die Linienform des Gebildes, wohl aber, was
Licht und Farben aus sich heraus offenbaren, wenn der
Baumstamm ihnen die Gelegenheit gibt, sich darzuleben.
Ich suchte in
meiner Art nach dem Geistgehalt des leuchtend Farbigen. In ihm
mußte ich das Geheimnis des Farbenwesens sehen. In Otto
Fröhlich stand ein Mensch an meiner Seite, der persönlich
instinktiv als sein Erleben in sich trug, was ich für das
Ergreifen der Farbenwelt durch die menschliche Seele suchte.
Ich empfand es
als beglückend, gerade durch mein eigenes Suchen dem jungen
Freunde manche Anregung geben zu können. Eine solche bestand
im folgenden. Ich erlebte selbst das intensiv Farbige, das
Nietzsche in dem Zarathustra-Kapitel vom «häßlichsten
Menschen» darbietet, in einem hohen Maße. Dieses «Tal des
Todes», dichtend gemalt, enthielt für mich vieles von dem
Lebensgeheimnis der Farben.
Ich gab Otto
Fröhlich den Rat: er möge Nietzsches dichtend gemaltes Bild
von Zarathustra und dem häßlichsten Menschen nun malend
dichten. Er tat dieses. Es kam nun eigentlich etwas
Wunderbares zustande. Die Farben konzentrierten sich
leuchtend, vielsagend in der Zarathustra-Figur. Diese kam nur
nicht als solche voll zustande, weil in Fröhlich noch nicht
die Farbe selbst bis zur Schöpfung des Zarathustra sich
entfalten konnte. Aber um so lebendiger umwellte das
Farbenschillern die «grünen Schlangen» im Tal des
häßlichsten Menschen. In dieser Partie des Bildes lebte der
ganze Fröhlich. Nun aber der «häßlichste Mensch». Da
hätte es der Linie bedurft, der malenden Charakteristik. Da
versagte Fröhlich. Er wußte noch nicht, wie in der Farbe
gerade das Geheimnis lebt, aus sich, durch ihre
Eigenbehandlung, das Geistige in der Form erstehen zu lassen.
Und so wurde der «häßlichste Mensch» eine Wiedergabe
desjenigen Modells, das unter weimarischen Malern der
«Füllsack» hieß. Ich weiß nicht, ob dies wirklich der
bürgerliche Name des Mannes war, den die Maler immer
benützten, wenn sie «charakteristisch ins Häßliche»
werden wollten; aber ich weiß, daß «Füllsacks»
Häßlichkeit schon keine bürgerlich-philiströse mehr war,
sondern etwas vom «Genialischen» hatte. Aber ihn so ohne
weiteres als den «häßlichen Füllsack» in das Bild
hineinzusetzen, als Modellkopie, da, wo Zarathustras Seele
leuchtend in Antlitz und Kleid sich offenbarte, wo das Licht
wahres Farbenwesen aus seinem Verkehr mit den grünen
Schlangen hervorzauberte, das verdarb Fröhlich das malerische
Werk. Und so konnte das Bild doch nicht das werden, was ich
gehofft hatte, daß es durch Otto Fröhlich zustande käme.
Obwohl ich
Geselligkeit im Charakter meines Wesens sehen muß, so fühlte
ich in Weimar doch nie in ausgiebigerem Maße den Antrieb,
mich dort einzufinden, wo die Künstlerschaft und alles, was
gesellschaftlich sich mit ihr verbunden wußte, die Abende
zubrachte.
Das war in
einem romantisch aus einer alten Schmiede umgestalteten,
gegenüber dem Theater gelegenen «Künstlervereinshaus». Da
saßen im dämmerigen, farbigen Licht vereint die Lehrer und
Schüler der Maler-Akademie, da saßen Schauspieler und
Musiker. Wer Geselligkeit «suchte», der mußte sich
gedrängt fühlen, am Abend dahin zu gehen. Und ich fühlte es
eben deshalb nicht, weil ich doch Geselligkeit nicht suchte,
sondern sie dankbar hinnahm, wenn die Verhältnisse sie mir
brachten.
Und so lernte
ich in anderen geselligen Zusammenhängen einzelne Künstler
kennen; nicht aber «die Künstlerschaft».
Und einzelne
Künstler in Weimar in jener Zeit kennen zu lernen, war schon
Gewinn des Lebens. Denn die Traditionen des Hofes, die
außerordentlich sympathische Persönlichkeit des Großherzogs
Karl Alexander gaben der Stadt eine künstlerische Haltung,
die fast alles, was Künstlerisches sich in jenem
Zeitabschnitt abspielte, in irgend ein Verhältnis zu Weimar
brachte.
Das Theaterleben in
Weimar
Da war vor
allem das Theater mit den guten alten Traditionen. In seinen
wichtigsten Darstellern durchaus abgeneigt, naturalistischen
Geschmack aufkommen zu lassen. Und wo das Moderne sich
offenbaren und manchen Zopf ausmerzen wollte, der immer auch
mit guten Traditionen doch verknüpft ist, da war die
Modernität doch weitab gelegen von dem, was Brahm auf der
Bühne, Paul Schlenther journalistisch als die «moderne
Auffassung» propagierten. Da war unter diesen «Weimarer
Modernen» vor allem der durch und durch künstlerische, edle
Feuergeist Paul Wiecke. Solche Menschen in Weimar die ersten
Schritte ihres Künstlertums machen zu sehen, gibt
unauslöschliche Eindrücke und ist eine weite Schule des
Lebens. Paul Wiecke brauchte den Untergrund eines Theaters,
das, aus seinen Traditionen heraus, den elementarischen
Künstler ärgert. Es waren anregende Stunden, die ich im
Hause von Paul Wiecke verleben durfte. Er war mit meinem
Freunde Julius Wahle tief befreundet; und so kam es, daß ich
zu ihm in ein näheres Verhältnis trat. Es war oft entzückend,
Wiecke poltern zu hören fast über alles, was er erleben
mußte, wenn er die Proben für ein neu aufzuführendes Stück
absolvierte. Und im Zusammenhang damit dann ihn die Rolle
spielen zu sehen, die er sich so erpoltert hatte; die aber
immer durch das edle Streben nach Stil und auch durch schönes
Feuer der Begeisterung einen seltenen Genuß darbot.
Richard Strauß
In Weimar
machte damals seine ersten Schritte Richard Strauß. Er wirkte
als zweiter Kapellmeister neben Lassen. Die ersten
Kompositionen Richard Strauß' wurden in Weimar zur
Aufführung gebracht. Das musikalische Suchen dieser
Persönlichkeit offenbarte sich wie ein Stück weimarischen
Geisteslebens selbst. Solche freudig-hingebungsvolle Aufnahme
von etwas, das im Aufnehmen zum aufregenden künstlerischen
Problem wurde, war doch nur im damaligen Weimar möglich.
Ringsum Ruhe des Traditionellen, getragene, würdige Stimmung:
nun fährt da hinein Richard Strauß'
«Zarathustra-Symphonie», oder gar seine Musik zum
Eulenspiegel. Alles wacht auf aus Tradition, Getragenheit,
Würde; aber es wacht so auf, daß die Zustimmung
liebenswürdig, die Ablehnung harmlos ist — und der
Künstler so in der schönsten Art da; Verhältnis zu der
eigenen Schöpfung finden kann.
Heinrich Zeller
Wir saßen so
viele Stunden lang bei der Erst-Aufführung von Richard
Strauß' Musikdrama «Guntram», wo der so liebwerte,
menschlich so ausgezeichnete Heinrich Zeller die Hauptrolle
hatte und sich fast stimmlos sang.
Ja, dieser tief
sympathische Mensch, Heinrich Zeller, auch er mußte Weimar
haben, um zu werden, was er geworden ist. Er hatte die
schönste elementarste Sängerbegabung. Er brauchte, um sich
zu entfalten, eine Umgebung, die in voller Geduld
entgegennahm, wenn sich eine Begabung nach und nach
hinaufexperimentierte. Und so war die Entfaltung Heinrich
Zellers zu dem Menschlich-Schönsten zu zählen, das man
erleben kann. Dabei war Zeller eine so liebenswürdige
Persönlichkeit, daß man Stunden, die man mit ihm verlebte,
zu den reizvollsten zählen mußte.
Und so kam es,
daß, obwohl ich nicht oft daran dachte, abends in die
Künstlervereinigung zu gehen: wenn Heinrich Zeller mich traf
und sagte, ich solle mitgehen, ich dieser Aufforderung jedes
Mal gerne folgte.
Tradition und
Moderne
Nun hatten die
weimarischen Zustände auch ihre Schattenseiten. Das
Traditionelle, Ruhe-Liebende hält nur zu oft den Künstler
wie in einer Art von Dumpfheit zurück. Heinrich Zeller ist
der Welt außerhalb Weimars wenig bekannt geworden. Was
zunächst geeignet war, seine Schwingen zu entfalten, hat sie
dann doch wieder gelähmt. Und so ist es ja wohl auch mit
meinem lieben Freunde Otto Fröhlich geworden. Der brauchte,
wie Zeller, Weimars künstlerischen Boden; den nahm aber auch
die abgedämpfte geistige Atmosphäre zu stark in ihre
künstlerische Behaglichkeit auf.
Und man fühlte
diese «künstlerische Behaglichkeit» in dem Eindringen des
Geistes Ibsens und von anderem Modernen. Da machte man alles
mit. Den Kampf, den die Schauspieler kämpften, um den Stil z.
B. für eine «Nora» zu finden. Ein solches Suchen, wie man
es hier bemerken konnte, findet nur da statt, wo man durch die
Fortpflanzung der alten Bühnentraditionen eben
Schwierigkeiten findet, um das darzustellen, was von Dichtern
herrührt, die nicht wie Schiller von der Bühne, sondern wie
Ibsen von dem Leben ausgegangen sind.
Man machte aber
auch die Spiegelung dieses Modernen aus der «künstlerischen
Behaglichkeit» des Theaterpublikums mit. Man sollte nun doch
den Weg finden mitten durch das, was einem der Umstand
auferlegte, daß man ein Bewohner des «klassischen Weimar»
war, und auch durch das, was Weimar doch groß gemacht hat,
nämlich daß es immerdar Verständnis für das Neue gehabt
hat.
Die Aufführungen der
Wagner'schen Musikdramen
Mit Freude
denke ich an die Aufführungen der Wagner'schen Musikdramen
zurück, die ich in Weimar mitgemacht habe. Der Intendant v.
Bronsart entwickelte besonders für diese Seite der
Theaterleistungen verständnisvollste Hingabe. Heinrich
Zellers Stimme kam da zur vorzüglichsten Geltung. Eine
bedeutende Kraft als Sängerin war Frau Agnes Stavenhagen, die
Frau des Pianisten Bernhard Stavenhagen, der auch eine
Zeitlang Kapellmeister am Theater war. Wiederholte Musikfeste
brachten die die Zeit repräsentierenden Künstler und deren
Werke nach Weimar. Man sah z. B. da Mahler als Kapellmeister
bei einem Musikfest in seinen Anfängen. Unauslöschlich der
Eindruck, wie er den Taktstock führte, Musik nicht im Flusse
der Formen fordernd, sondern als Erleben eines
Übersinnlich-Verborgenen, zwischen den Formen sinnvoll
pointierend.
Was sich mir
hier von Weimarer Vorgängen, scheinbar ganz losgelöst von
mir, vor die Seele stellt, ist aber in Wirklichkeit doch tief
mit meinem Leben verbunden. Denn es waren das Ereignisse und
Zustände, die ich eben als das erlebte, das mich in
intensivster Art anging. Ich habe oftmals später, wenn ich
einer Persönlichkeit oder deren Werk begegnete, die ich in
ihren Anfängen in Weimar miterlebt habe, dankbar
zurückgedacht an diese Weimarer Zeit, durch die so vieles
verständlich werden konnte, weil so vieles dorthin gegangen
war, um dort den Keimzustand durchzumachen. So erlebte ich
gerade damals in Weimar das Kunststreben so, daß ich über
das meiste mein eigenes Urteil in mir trug, oft recht wenig in
Übereinstimmung mit dem der ändern. Aber daneben
interessierte mich alles, was die ändern empfanden, ebenso
stark wie das eigene. Auch da bildete sich in mir ein inneres
Doppelleben der Seele aus.
Eine
schicksalsgemäß herangebrachte Seelen-Übung, um über das
abstrakte Entweder-Oder des Verstandes-Urteiles hinauszukommen
Es war dies
eine rechte, durch das Leben selbst schicksalsgemäß
herangebrachte Seelen-Übung, um über das abstrakte
Entweder-Oder des Verstandes-Urteiles hinauszukommen. Dieses
Urteil errichtet für die Seele Grenzen vor der
übersinnlichen Welt. In dieser sind nicht Wesen und
Vorgänge, die zu einem solchen Entweder-Oder Anlaß geben.
Man muß dem Übersinnlichen gegenüber vielseitig werden. Man
muß nicht nur theoretisch lernen, sondern man muß es in die
innersten Regungen des Seelenlebens gewohnheitsmäßig
aufnehmen, alles von den mannigfaltigsten Gesichtspunkten aus
zu betrachten. Solche «Standpunkte» wie Materialismus,
Realismus, Idealismus, Spiritualismus, wie sie von abstrakt
orientierten Persönlichkeiten in der physischen Welt zu
umfangreichen Theorien ausgebildet werden, um etwas an den
Dingen selbst zu bedeuten, verlieren für den Erkenner des
Übersinnlichen alles Interesse. Er weiß, daß z. B.
Materialismus nichts anderes sein kann, als der Anblick der
Welt von dem Gesichtspunkte aus, von dem sie sich in
materieller Erscheinung zeigt.
Eine praktische
Schulung in dieser Richtung ist es nun, wenn man sich in ein
Dasein versetzt sieht, das einem das Leben, das außerhalb
seine Wellen schlägt, innerlich so nahe bringt wie das eigene
Urteilen und Empfinden. Das aber war so für mich mit vielem
in Weimar. Mir scheint, mit dem Ende des Jahrhunderts hat das
dort aufgehört. Vorher ruhte doch noch der Geist Goethes und
Schillers über allem. Und der alte, liebe Großherzog, der so
vornehm durch Weimar und seine Anlagen schritt, hatte als
Knabe noch Goethe erlebt. Er fühlte wahrhaftig seinen
«Adel» recht stark; aber er zeigte überall, daß er sich
durch «Goethes Werk für Weimar» ein zweites Mal geadelt
fühlte.
Es war wohl der
Geist Goethes, der von allen Seiten in Weimar so stark wirkte,
daß mir eine gewisse Seite des Mit-Erlebens dessen, was da
geschah, zu einer praktischen Seelen-Übung im rechten
Darstellen der übersinnlichen Welten wurde.
TB 636 (XIX.), S
199 ff
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