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Rudolf Steiner

Anthroposophische Leitsätze


WO IST DER MENSCH ALS DENKENDES UND SICH ERINNERNDES WESEN?

Mit dem Vorstellen (Denken) und dem Erleben von Erinnerungen befindet sich der Mensch innerhalb der physischen Welt. Aber, wo immer er den Blick in dieser physischen Welt hinrichtet: mit seinen Sinnen wird er nirgends etwas finden, das ihm die Kräfte zum Vorstellen und Erinnern geben könnte.

Im Vorstellen erscheint das Selbstbewußtsein. Dieses ist - im Sinne der vorangehenden Betrachtungen - ein Erwerb, den der Mensch von den Kräften des Irdischen hat. Aber diese irdischen Kräfte sind solche, die dem sinnlichen Anschauen verborgen bleiben. Der Mensch denkt zwar im Erdenleben nur das, was ihm seine Sinne vermitteln; aber die Kraft zum Denken gibt ihm nichts von alle dem, was er so denkt.

Wo findet man diese Kraft, die aus dem Irdischen heraus das Vorstellen (Denken) und die Erinnerungsbilder formt?

Man findet sie, wenn man den Geistesblick auf das richtet, was sich der Mensch aus den vorigen Erdenleben mitbringt. Das gewöhnliche Bewußtsein kennt dieses nicht. Es lebt im Menschen zunächst unbewußt. Aber es erweist sich, indem der Mensch nach dem geistigen Sein die Erde betritt, sogleich als verwandt mit den irdischen Kräften, die nicht in den Bereich von Sinnesbeobachten und Sinnesdenken fallen.

Nicht mit dem Vorstellen (Denken) ist der Mensch in diesem Bereich, sondern mit dem Wollen, das sich im Sinne des Schicksals abspielt.

Man kann in Anbetracht dessen, daß die Erde Kräfte enthält, die außerhalb des Sinnenbereiches fallen, von der «geistigen Erde» als Gegenpol der physischen sprechen. Dann ergibt sich, daß der Mensch als Willenswesen in und mit der «geistigen Erde» lebt, daß er aber als vorstellendes (denkendes) Wesen zwar innerhalb der physischen Erde ist, daß er aber als solches nicht mit ihr lebt.

Der Mensch als denkendes Wesen trägt aus der Geist-Welt Kräfte in die physische; aber er bleibt mit diesen Kräften Geistwesen, das in der physischen Welt nur erscheint, aber keine Gemeinsamkeit mit ihr eingeht.

Eine Gemeinsamkeit geht der vorstellende (denkende) Mensch während des Erdendaseins nur mit der «geistigen Erde» ein. Und aus dieser Gemeinsamkeit erwächst ihm sein Selbstbewußtsein. - Dessen Entstehung ist also verdankt solchen Vorgängen, die sich im Erdenleben mit dem Menschen als geistige abspielen.

Umfaßt man mit der Geistesschau, was da beschrieben ist, so hat man das «menschliche Ich» vor dieser Schau.

Mit den Erinnerungs-Erlebnissen kommt man in das Gebiet des menschlichen Astralleibes. Im Erinnern strömen nicht bloß wie beim Vorstellen (Denken) die Ergebnisse voriger Erdenleben in das gegenwärtige Ich, sondern es strömen die Kräfte der Geist-Welt, die der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt erlebt, in sein Inneres ein. Dieses Einströmen geschieht in den Astralleib.

Nun gibt es innerhalb der physischen Erde auch für die unmittelbare Aufnahme der so einströmenden Kräfte kein Gebiet. Der Mensch kann als sich erinnerndes Wesen noch ebensowenig mit den Dingen und Vorgängen, die seine Sinne wahrnehmen, sich verbinden, wie er sich als vorstellendes Wesen mit diesen verbinden kann.

Aber er geht Gemeinsamkeit ein mit dem, was zwar nicht physisch ist, was aber das Physische in Vorgänge, in Geschehnisse umsetzt. Es sind dies die rhythmischen Vorgänge in Natur- und Menschenleben. In der Natur wechseln rhythmisch Tag und Nacht, folgen rhythmisch Jahreszeiten und so weiter. Im Menschen erfolgt das Atmen und die Blutzirkulation im Rhythmus. Es geht so der Wechsel von Schlafen und Wachen vor sich und so weiter.

Rhythmische Vorgänge sind weder in der Natur, noch im Menschen etwas Physisches. Man könnte sie halbgeistig nennen. Das Physische als Ding verschwindet im rhythmischen Vorgang. Im Erinnern ist der Mensch mit seinem Wesen in seinen und in den Naturrhythmus versetzt. Er lebt in seinem Astralleib.

Indischer Yoga will ganz in dem Erleben des Rhythmus aufgehen. Er will das Gebiet des Vorstellens, des Ich verlassen und in einem inneren Erleben, das dem Erinnern ähnlich ist, in die Welt schauen, die hinter dem liegt, was das gewöhnliche Bewußtsein kennen kann.

Das westliche Geistesleben darf zum Erkennen das Ich nicht unterdrücken. Es muß das Ich an die Wahrnehmung des Geistigen heranbringen.

Es kann das nicht geschehen, wenn man von der sinnenfälligen in die rhythmische Welt so vordringt, daß man im Rhythmus nur das Halbgeistig-Werden des Physischen erlebt. Man muß vielmehr die Sphäre der Geistwelt finden, die im Rhythmus sich offenbart.

Zweierlei ist also möglich. Erstens: Erleben des Physischen im Rhythmischen, wie dieses Physische halbgeistig wird. Es ist dies ein älterer, heute nicht mehr zu betretender Weg. Zweitens: Erleben der Geist-Welt, die den Weltenrhythmus in und außerhalb des Menschen so zu ihrer Sphäre hat, wie der Mensch die Erdenwelt mit ihren physischen Wesen und Vorgängen.

Zu dieser Geist-Welt nun gehört alles, was im gegenwärtigen kosmischen Augenblicke durch Michael geschieht. Ein Geist wie Michael bringt dasjenige, was sonst im luziferischen Gebiet liegen würde, dadurch in das der rein menschlichen Entwickelung - die von Luzifer nicht beeinflußt ist -, daß er die rhythmische Welt zu seinem Wohnplatz erwählt.

Angeschaut kann das alles werden, indem der Mensch in die Imagination eintritt. Denn die Seele lebt mit der Imagination im Rhythmus; und Michaels Welt ist diejenige, die im Rhythmus sich offenbart.

Erinnerung, Gedächtnis steht schon in dieser Welt darinnen, aber noch nicht tief. Das gewöhnliche Bewußtsein erlebt davon nichts. Tritt man aber in die Imagination ein, dann taucht aus der Rhythmus-Welt zunächst die Welt der subjektiven Erinnerungen auf; diese geht aber sogleich über in die im Ätherischen lebenden von der göttlich-geistigen Welt geschaffenen Urbilder für die physische Welt. Den in kosmischen Bildern aufleuchtenden, das Weltenschaffen in sich bergenden Äther erlebt man. Und die in diesem Äther webenden Sonnenkräfte: die sind da nicht bloß strahlend, die zaubern Welten-Urbilder aus dem Lichte heraus. Die Sonne erscheint als der kosmische Weltenmaler. Sie ist das kosmische Gegenbild der Impulse, die im Menschen die Vorstellungs- (Denk-) Bilder malen.

Goetheanum, Januar 1925.

 

Lit.: GA 26

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