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Rudolf Steiner

Anthroposophische Leitsätze


DIE GESCHICHTLICHEN ERSCHÜTTERUNGEN BEIM HERAUFKOMMEN DER BEWUSSTSEINSSEELE

Der Untergang des Römischen Reiches im Zusammenhang mit dem Auftreten von Völkern, die von Osten herankommen - der sogenannten Völkerwanderung -, ist eine geschichtliche Erscheinung, auf die der Blick des forschenden Menschen immer wieder sich richten muß. Denn die Gegenwart enthält noch vieles von Nachwirkungen dieser erschütternden Geschehnisse.

Aber das Verständnis gerade dieser Ereignisse ist einer äußerlichen geschichtlichen Betrachtung nicht möglich. Man muß auf die Seelen der Menschen blicken, die in «Völkerwanderung» und Untergang des römischen Kaiserreiches gestellt sind.

Griechentum und Römertum blühen in der Zeit, als sich in der Menschheit die Verstandes- oder Gemütsseele entfaltet. Ja, Griechen und Römer sind die eigentlichen Träger dieser Entfaltung. Aber die Entwickelung dieser Seelen-Etappe trägt bei diesen Völkern nicht einen Keim in sich, der in rechter Art die Bewußtseinsseele aus sich entwickeln könnte. Alles, was an Geist- und Seelen-Inhalt in der Verstandes- oder Gemütsseele steckt, tritt in reichem Leben in dem Dasein des Griechen- und Römertums zutage. Mit Eigenkraft hinüberströmen in die Bewußtseinsseele kann es nicht.

Trotzdem tritt natürlich das Stadium der Bewußtseinsseele auf. Aber es ist, als ob die Bewußtseinsseele nicht etwas aus der Persönlichkeit des Griechen und Römers Hervorgehendes wäre, sondern etwas von außen seinem Wesen Eingepflanztes.

Das Verbunden- und Losgelöstsein von den göttlichgeistigen Wesenheiten, von dem in diesen Betrachtungen so viel die Rede war, vollzieht sich im Laufe der Zeiten mit verschiedener Intensität. In alten Zeiten war es eine mit starkem Geschehen in die Menschheitsentwickelung eingreifende Macht. Im griechischen und römischen Erleben der ersten christlichen Jahrhunderte ist es eine schwächere Macht. Aber es ist vorhanden. Solange er voll in sich die Verstandes- oder Gemütsseele entfaltete, fühlte der Grieche und Römer - unbewußt, aber für die Seele bedeutsam - ein Losgelöst-Werden von der göttlich-geistigen Wesenhaftigkeit, ein Selbständig-Werden des Menschhaften. Das hörte in den ersten christlichen Jahrhunderten auf. Das Hereindämmern der Bewußtseinsseele wurde als ein Verbundensein mit dem Göttlich-Geistigen empfunden. Man entwickelte sich wieder zurück von einer größeren zu einer geringeren Selbständigkeit der Seele. Man konnte den christlichen Inhalt nicht in die menschliche Bewußtseinsseele aufnehmen, weil man diese selbst nicht in die menschliche Wesenheit hereinnehmen konnte.

So empfand man diesen christlichen Inhalt als etwas von außen - von der geistigen Außenwelt - Gegebenes, nicht aber als etwas, mit dem man durch seine Erkenntniskräfte zusammenwuchs.

Anders war es bei den in die Geschichte eintretenden, von Nordosten kommenden Völkern. Sie hatten das Stadium der Verstandes- oder Gemütsseele in einem Zustande durchgemacht, der sich für sie als Abhängigkeit von der Geistwelt empfinden ließ. Sie fingen erst an, etwas von der menschlichen Selbständigkeit zu empfinden, als die ersten Kräfte der Bewußtseinsseele in den christlichen Anfängen heraufdämmerten. Bei ihnen trat die Bewußtseinsseele als etwas der Menschenwesenheit Verbundenes auf. Sie empfanden sich in froher innerer Kraftentfaltung, indem die Bewußtseinsseele in ihnen auflebte.

In dieses sprießende Leben der heraufdämmernden Bewußtseinsseele fiel bei diesen Völkern der christliche Inhalt. Sie fühlten ihn als etwas in der Seele Auflebendes, nicht als etwas von außen Gegebenes.

Das war die Stimmung, in der diese Völkerschaften an das Römische Reich und alles, was damit zusammenhing, herankamen. Das war die Stimmung des Arianismus gegenüber dem Athanasianismus. Ein tiefer innerer Gegensatz war in der weltgeschichtlichen Entwickelung da.

In der dem Menschen äußerlichen Bewußtseinsseele des Römers und Griechen wirkte zunächst die nicht völlig mit dem Erdenleben sich vereinende, sondern nur hereinstrahlende göttlich-geistige Wesenheit. In der erst aufdämmernden Bewußtseinsseele der Franken-, Germanen und so weiter wirkte nur noch schwach, was von Göttlich-Geistigem mit der Menschheit sich verbinden konnte.

Das Nächste war, daß der christliche Inhalt, der in der über dem Menschen schwebenden Bewußtseinsseele lebte, sich im Leben ausbreitete; der mit der Seele vereinigt etwas blieb, das als Antrieb, Impuls in dem Innern der Menschen verblieb und auf seine Entfaltung wartete, die erst eintreten kann, wenn ein gewisses Stadium in der Entfaltung der Bewußtseinsseele erreicht ist.

Es ist die Zeit, von den ersten christlichen Jahrhunderten angefangen bis in das Zeitalter der Bewußtseinsseelenentwickelung hinein, eine solche, in der als maßgebliches Geistesleben über der Menschheit ein geistiger Inhalt waltet, mit dem sich der Mensch erkennend nicht verbinden kann. Er verbindet sich deshalb äußerlich; er «erklärt» ihn, und er denkt darüber nach, inwiefern die Seelenkräfte nicht ausreichend sind, um die erkennende Verbindung herbeizuführen. Er unterscheidet zwischen dem Gebiete, in das die Erkenntnis reicht, und dem, wohin sie nicht reicht. Es macht sich der Verzicht geltend, Seelenkräfte zu betätigen, die sich erkennend in die Geistwelt erheben. Und so kommt die Zeit heran, Wende des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, in der man sich mit den auf das Geistige gerichteten Seelenkräften von dem Geistigen überhaupt erkennend abwendet. - Man beginnt, nur in den Seelenkräften zu leben, die auf das sinnlich Wahrnehmbare gerichtet sind.

Stumpf werden die Erkenntniskräfte für das Geistige besonders im achtzehnten Jahrhundert.

Die Denker verlieren aus ihren Ideen den geistigen Inhalt. Sie machen im Idealismus von der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die geistleeren Ideen selbst als schaffenden Welt-Inhalt geltend. So Fichte, Schelling, Hegel; oder sie weisen auf ein Übersinnliches, das sich verflüchtigt, weil es entgeistigt ist. So Spencer, John Stuart Mill und andere. Die Ideen sind tot, wenn sie den lebendigen Geist nicht suchen.

Der geistige Blick für das Geistige geht nun einmal verloren.

Eine «Fortsetzung» des alten Geist-Erkennens ist nicht möglich. Es müssen die Seelenkräfte, indem die Bewußtseinsseele sich in ihnen entfaltet, ihre erneuerte elementare, unmittelbar lebendige Verbindung mit der Geist-Welt erstreben. Anthroposophie will dieses Erstreben sein.

Im geistigen Leben des Zeitalters wissen gerade die führenden Persönlichkeiten zunächst nicht, was sie will. Und damit werden weite Kreise, die diesen Führern folgen, auch abgehalten. Die Führer leben in einem Seelen-Inhalt, der sich allmählich ganz entwöhnt hat, die geistigen Kräfte zu gebrauchen. Für sie ist es, als ob man einen Menschen, der ein gelähmtes Organ hat, veranlassen wollte, dieses zu gebrauchen. Denn gelähmt waren in der Zeit vom sechzehnten bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die höheren Erkenntniskräfte. Und die Menschheit blieb darüber ganz unbewußt; sie betrachtete das einseitige Gebrauchen der auf die Sinnenwelt gerichteten Erkenntnis als einen besonderen Fortschritt.

Goetheanum, März 1925. 

 

Lit.: GA 26

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