Sokrates: Wissen wir nun nicht vom Eleatischen
Palamedes, daß er kunstmäßig spricht, so daß den
Hörenden dasselbe als gleich und ungleich, als eins
und vieles, als bleibend ferner und als bewegt erscheint?
Phaidros: Gar wohl!
Sokrates: Nicht also nur für die Gerichte und für die
Volksrede ist die Kunst des Gegeneinandersprechens, sondern, wie es scheint, für alles, was
gesprochen wird, dürfte die eine und dieselbe Kunst,
wenn sie überhaupt eine ist, die sein, durch welche
einer in den Stand gesetzt wird, alles mögliche
allem möglichen zu verähnlichen und, wenn ein anderer es verähnlicht und versteckt, es ans Licht zu
ziehen.
Phaidros: Wie meinst du doch dieses?
Sokrates: Klar wird's also den Suchenden, dünkt
mich. - Entsteht Täuschung eher bei dem, was
viel, oder bei dem, was wenig verschieden ist?
Phaidros: Bei dem, was wenig verschieden ist!
Sokrates: Nun aber wirst du, wenn du kleine Übergänge machst, wohl eher unvermerkt zum
Gegenteil kommen, als wenn du große Übergänge
machst?
Phaidros: Wie sollte ich nicht?
Sokrates: Wer also einen anderen täuschen, selbst
aber nicht getäuscht werden will, der muß die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der Gegenstände nach
ihrer wirklichen Beschaffenheit gründlich zu
beurteilen wissen.
Phaidros: Notwendig wohl!
Sokrates: Und nun, wird er wohl imstande sein, wenn
er nicht jedesmal die wahre Beschaffenheit des Gegenstandes kennt, an den andern Gegenständen zu
unterscheiden, wo sie mit dem Nichtgekannten eine
kleine, wo eine große Ähnlichkeit haben?
Phaidros: Unmöglich!
Sokrates: Ist es also nicht klar, daß diejenigen, welche Meinungen hegen, die den Gegenständen nach
ihrer wirklichen Beschaffenheit zuwider laufen, und
sich täuschen lassen, in diesen Zustand durch gewisse Ähnlichkeiten hineingeraten sind?
Phaidros: Freilich wohl geht es so!
Sokrates: Ist es nun denkbar, daß einer die Kunstfertigkeit besitze, durch kleine Übergänge, die er
macht, an den Ähnlichkeiten hin von dem Gegenstand nach seiner wirklichen Beschaffenheit
jedesmal zum Gegenteil fortzuleiten oder aber selbst
gegen dieses Verfahren sich zu sichern, wenn er
nicht erkannt hat, was jedesmal der Gegenstand
nach seiner wirklichen Beschaffenheit ist?
Phaidros: Mitnichten!
Sokrates: Wer also, mein Freund, die Wahrheit nicht
weiß, sondern nur Meinungen nachjagt, der wird,
wie mir dünkt, eine gar lächerliche und kunstlose
Redekunstlehre zustande bringen.
Phaidros: Fast scheint es so!
Sokrates: Willst du nun an der Rede des Lysias, die
du bei dir trägst, und an denen, die wir gehalten
haben, etwas sehen von dem, was wir teils als
kunstlos, teils als kunstmäßig bezeichnen?
Phaidros: Nichts lieber als das; denn wir reden jetzt
nur eben ins Blaue hinein, wenn wir keine passenden Belege haben.
Sokrates: Und da ist es ja nun ein rechtes Glück, wie
es scheint, daß da jene zwei Reden gehalten worden sind, die in gewisser Art einen Beleg davon
enthalten, wie einer, der die Wahrheit weiß, mit
seinen Reden die Hörenden spielend irre leiten
könne. Und ich wenigstens, o Phaidros, schreibe
hiervon die Ursache den hier zu Ort heimischen
Göttern zu; vielleicht aber auch, daß die Propheten
der Musen, die Sänger über unseren Häuptern, es
sind, durch deren Hauch uns dieses Geschenk
zukam. Denn ich wenigstens bin der Kunst des Redens in keinerlei Weise teilhaftig.
Phaidros: Es mag sein, wie du sprichst! Nur mach' es
deutlich, was du sagen willst!
Sokrates: Wohlan denn, so lies mir den Anfang der
Rede des Lysias!
Phaidros: »Meine Verhältnisse zwar kennst du nun,
und wie ich glaube, daß es uns vorteilhaft sei, wenn
dieses geschieht, hast du gehört. Indessen sollte
ich, wie ich billig erachte, mit dem, was ich bitte,
darum noch nicht unglücklich sein, weil ich zufällig nicht dein Liebhaber bin. Diese nämlich reut
alsbald -«
Sokrates: Es ist genug! Worin es also nun dieser verfehle und es kunstlos mache, das soll besprochen
werden? Nicht wahr?
Phaidros: Ja.
Sokrates: Ist nun nicht jedermann so viel wenigstens
klar, daß wir über etliches dieser Art einig sind,
über etliches aber zwiespältig?
Phaidros: Wie mir dünkt, verstehe ich zwar, was du
sprichst; allein sage es noch deutlicher!
Sokrates: Wenn jemand das Wort »Eisen« oder »Silber« sagt, denken wir uns dabei nicht alle
dasselbe?
Phaidros: Jawohl.
Sokrates: Wie aber, wenn er sagt »gerecht« oder
»gut«? Wird da nicht der eine dahin, der andere
dorthin geraten? Und sind wir da nicht im Widerstreit sowohl unter einander, als auch mit uns
selbst?
Phaidros: Gar sehr!
Sokrates: In einigem also stimmen wir zusammen, in
anderem nicht.
Phaidros: So ist's!
Sokrates: Nach welcher von beiden Seiten hin sind
wir nun leichter zu täuschen, und in welchem von
beiden Gebieten vermag die Redekunst mehr?
Phaidros: Offenbar in dem, worin wir auseinandergehen!
Sokrates: Muß nun nicht der, der mit Redekunst sich
befassen will, vorerst dieses ordnungsmäßig trennen und ein gewisses Merkmal für jede der beiden
Begriffsformen zu gewinnen suchen, sowohl für
diejenige, worin die Menge notwendig auseinandergeht, als für diejenige, worin sie nicht
auseinandergeht?
Phaidros: Eine schöne Begriffsform, fürwahr, o Sokrates, dürfte derjenige erdacht haben, der dieses
gewänne!
Sokrates: Sodann darf er, glaube ich, in jedem einzelnen Fall nicht unbeachtet lassen, sondern muß er
scharf ins Auge fassen, welcher der beiden Arten
nun gerade das, worüber er reden wolle, zugehöre?
Phaidros: Wie anders?
Sokrates: Wie nun der Liebesgott? Wollen wir sagen,
er gehöre zu den strittigen Gegenständen oder zu
den anderen?
Phaidros: Sicherlich zu den strittigen! Oder glaubst
du, er hätte dir sonst zu sagen erlaubt, was du da
eben über ihn sagtest, einmal, daß er ein Verderben
sei sowohl für den Geliebten als für den Verliebten,
und dann wieder, daß er gerade eines der größten
unter den Gütern sei?
Sokrates: Sehr gut gesprochen! Aber sage auch das, -
denn wegen des begeisterten Zustandes, in dem ich
war, kann ich mich nicht genau erinnern, - ob ich
beim Beginn der Rede die Liebe begrifflich bestimmt habe?
Phaidros: Ja, beim Zeus, und unbeschreiblich genau!
Sokrates: Ha! Wieviel bessere Künstlerinnen müssen
nach dem, was du sagst, die Nymphen, die Töchter
des Acheloos, und Pan, der Sohn des Hermes, in
Reden sein als Lysias, der Sohn des Kephalos!
Oder ist es nichts, was ich sage, sondern hat auch
Lysias beim Beginn seiner erotischen Rede uns genötigt, den Eros als ein bestimmtes Wesen, als das,
das er selbst wollte, aufzufassen, um dann diesem
gemäß die ganze folgende Rede abzufassen und
durchzuführen? Willst du, daß wir ihren Anfang
noch einmal lesen?
Phaidros: Wenn es dir beliebt; indessen, was du
suchst, steht nicht darin!
Sokrates: So lies, damit ich ihn selbst höre!
Phaidros: »Meine Verhältnisse zwar kennst du nun,
und wie ich glaube, daß es uns vorteilhaft sei, wenn
dieses geschieht, hast du gehört. Indessen sollte
ich, wie ich billig erachte, mit dem, was ich bitte,
darum noch nicht unglücklich sein, weil ich zufällig nicht dein Liebhaber bin. Diese nämlich reut
alsbald, was sie Gutes erzeigt haben, sobald sie
ihre Begierde befriedigt haben.«
Sokrates: Freilich, wie es scheint, fehlt viel dazu, daß
er das wirklich leiste, was wir suchen, er, der nicht
einmal vom Anfang, sondern vorn Ende aus, rücklings schwimmend, seine Rede von hinten herein
durchzuführen versucht und mit dem anfängt, was
der Liebhaber sonst, erst am Schluß angekommen,
zu dem Liebling zu sagen pflegt. Oder ist nichts an
dem, was ich sage, Phaidros, geliebtes Haupt?
Phaidros: Es ist freilich, o Sokrates, wohl eigentlich
das Ende, worüber er seine Rede hält!
Sokrates: Und dann wie? Die übrigen Stücke der Redescheinen sie nicht stoßweise hingeworfen zu
sein? Oder ist irgend ein zwingender Grund ersichtlich, warum das als Zweites Vorgetragene gerade
als Zweites gesetzt werden mußte, und so auch das
übrige des Vertrags? Denn mir, der freilich nichts
davon versteht, kam es vor, als ob von dem Schreiber, in etwas vornehmer Weise eben, was ihm
gerade in den Mund kam, vorgetragen worden sei. Du
aber hast wohl einen solchen zwingenden, aus der
Redeschreibekunst genommenen Grund, warum
jener dieses so in der Reihe nach einander gesetzt
hat?
Phaidros: Es ist gar gutherzig von dir zu glauben, ich
sei der Mann, die Erzeugnisse von jenem so gründlich zu durchschauen!
Sokrates: Aber das wirst du, glaube ich, doch wohl
zugeben, daß jede Rede wie ein lebendes Wesen
organisch zusammengefügt sein, und daß sie gewissermaßen ihren Leib haben müsse, so daß sie
weder kopflos ist noch ohne Füße, sondern Mitten
und Enden hat, so verfaßt, daß die Teile unter sich
und mit dem Ganzen in rechtem Verhältnis stehen?
Phaidros: Wie sollte ich nicht?
Sokrates: So untersuche nun die Rede deines Freundes, ob es sich mit ihr so oder anders verhalte, und
du wirst finden, daß sie in nichts sich unterscheidet
von jener Inschrift, die, wie einige sagen, auf den
Phryger Midas geschrieben worden ist.
Phaidros: Was für eine ist das, und was hat es mit ihr
für eine Bewandtnis?
Sokrates: Es ist diese:
Jungfrau bin ich von Erz und lieg' auf dem Grabe
des Midas,
Ob abfließet das Wasser und grünt hochstämmiger
Baumwuchs,
Immer bleibend allhier auf vielbetränetem Hügel,
Wanderern tue ich kund, daß hier liegt Midas
begraben!
Daß es nun hier ganz einerlei ist, ob man etwas zuerst oder zuletzt liest, siehst du, denke ich, doch
wohl ein?
Phaidros: Du treibst deinen Spott mit unserer Rede, o
Sokrates!
Sokrates: So wollen wir sie, damit du nicht unwillig
wirst, beiseite lassen, - obgleich sie mir recht viele
Belege zu enthalten scheint, deren Betrachtung
einem ersprießlich sein könnte, nur daß er ja nicht
versuchen darf, sie nachzuahmen, - und wir wollen
nun an die anderen Reden gehen! Denn es war, wie
mir vorkommt, etwas in diesen, das zu beachten
denen wohl ansteht, die über Reden eine Untersuchung anstellen wollen!
Phaidros: Was meinst du da wohl?
Sokrates: Beide waren sich doch wohl entgegengesetzt; denn sie sprachen, die eine davon, daß man
dem Verliebten, die andere davon, daß man dem,
der es nicht ist, sich gefällig zeigen müsse?
Phaidros: Ja, und auf gar mannhafte Weise!
Sokrates: Ich glaubte, du würdest der Wahrheit
gemäß sagen, auf gar wahnsinnige Weise! Wenigstens das, was ich suche, ist eben dieses! Denn wir
behaupteten, daß die Liebe eine Art von Wahnsinn
sei! Nicht wahr?
Phaidros: Ja!
Sokrates: Es gibt aber zwei Arten von Wahnsinn: den
einen infolge von menschlichen Krankheiten, den
anderen infolge einer göttlich bewirkten
Veränderung der gewöhnlichen regelmäßigen Zustände.
Phaidros: Sehr wohl!
Sokrates: Den göttlich bewirkten Wahnsinn aber
haben wir dann nach vier Göttern in vier Teile geteilt, indem wir die wahrsagerische Eingebung dem
Apollon zueigneten, dem Dionysos aber die die
Weihen betreffende, ferner den Musen die dichterische, die vierte aber der Aphrodite und dem Eros;
sodann haben wir gesagt, der erotische Wahnsinn
sei der beste, und, den erotischen Zustand ich weiß
nicht womit vergleichend, vielleicht dabei etwas
Wahres berührend, möglicherweise aber auch nach
anderer Richtung hin falsch geführt, haben wir eine
ganz und gar nicht überzeugungsunkräftige Rede
zubereitet und einen mythischen Hymnos mit Anstand und in frommer Weise spielend angestimmt
deinem und meinem Gebieter, dem Eros, o Phaidros, dem Aufseher schöner Knaben!
Phaidros: Und mir wenigstens gar nicht unangenehm
zu hören!
Sokrates: Das nun wollen wir daraus entnehmen, wie
die Rede den Übergang fand vom Tadeln zum
Loben.
Phaidros: Wie zeigst du also dieses?
Sokrates: Das übrige zwar scheint mir in der Tat nur
zu freundlichem Spiele vorgebracht zu sein; was
aber die folgenden zwei, den gehaltenen Vorträgen
glücklicherweise eigenen Redeformen betrifft, so
wäre es nichts Undankbares, wenn jemand ihre Bedeutung kunstmäßig aufzufassen vermöchte.
Phaidros: Was für Formen denn?
Sokrates: Einmal indem er das vielseitig Zerstreute in
der Anschauung zusammennehmend auf eine Idee
zurückführt, um, jedes begriffsmäßig bestimmend,
klarzumachen, worüber er jedesmal belehren wolle,
so wie ja eben von der Liebe, nachdem zuvor ihr
Wesen begriffsmäßig bestimmt war, gesprochen
worden ist, gleichviel ob gut oder schlecht, - sicherlich hat wenigstens die Rede daher den
Ausdruck der Deutlichkeit und der Übereinstimmung
mit sich selbst.
Phaidros: Was aber verstehst du unter der zweiten
Redeform, o Sokrates?
Sokrates: Wenn man umgekehrt den Gegenstand
formgerecht zerlegen kann, d.h. nach Gliedern, wie
er naturgemäß sich bestimmt, ohne daß man versucht, nach der Art eines schlechten Kochs
verfahrend, irgend ein Stück zu zerbrechen, sondern so
verfährt, wie vorhin die zwei Reden, indem sie zunächst den nichtbesonnenen Zustand des
Geisteslebens ungeschieden als eine Form auffaßten. Dann
aber, wie an dem einen Körper ein gleichnamiges
Doppeltes sich naturgemäß bestimmt, nämlich eine
sogenannte linke und rechte Seite, ebenso von der
Betrachtung des Zustandes der Verrückung als
einer in uns naturgemäß bestimmten einheitlichen
Form ausgehend, haben die zwei Reden, die eine
das Linke für sich ausscheidend, diese Seite selbst
wieder zerlegt und nicht geruht, bis sie darin eine
Liebe auffand, die sie die linke nannte und mit
Recht sehr schmähte, während die andere uns auf
die rechte Seite des Wahnsinns führte und eine
zwar jener gleichnamige, dagegen aber göttliche
Liebe auffand und vor Augen stellte, die sie als die
Quelle der größten Güter für uns rühmte.
Phaidros: Sehr wahr gesprochen!
Sokrates: Hiervon nun bin ich selbst meinesteils ein
Liebhaber, o Phaidros, von diesen Teilungen und
Zusammenfassungen nämlich, um sowohl reden als
auch denken zu können: und wenn ich von irgend
einem anderen der Ansieht bin, daß er das zur Einheit und zur Vielheit sich Bestimmende einzusehen
vermöge, dem gehe ich nach,
Auf dem Fuß ihm folgend als einem der Götter.
Ob ich jedoch diejenigen, die es zu leisten vermögen, richtig bezeichne oder nicht, das weiß ein
Gott: ich nenne sie aber bis jetzt Dialektiker. Aber
nun sage auch, wie man diejenigen, die bei dir und
Lysias gelernt haben, nennen soll? Oder ist das
eben die Redekunst, durch deren Anwendung Thrasymachos und die anderen teils selbst Weise im
Reden geworden sind, teils andere dazu machen,
welche Lust haben, ihnen, Königen gleich, Geschenke zu bringen?
Phaidros: Königliche Männer zwar, doch freilich ver-
stehen sie das nicht, wonach du fragst! Indessen
scheinst du wenigstens mir diese Art richtig zu benennen, wenn du sie die dialektische nennst; aber
die rhetorische, scheint mir, ist uns bis jetzt entgangen.
Sokrates: Wie sagst du? Etwas Schönes mag das
wohl sein, was nach Abzug von jenem doch noch
kunstmäßig aufgefaßt werden will? Indessen muß
man es nicht ganz entwerten, weder du noch ich,
sondern besprechen, was doch auch noch an diesem
Überbleibsel der Rhetorik ist!
Phaidros: Gewiß noch gar mancherlei, o Sokrates,
das ja in den über die Redekunst geschriebenen
Büchern steht!
Sokrates: Und recht schön von dir, daß du mich daran
erinnerst! Daß man, glaube ich, beim Beginn einer
Rede als Erstes den Eingang sprechen müsse, - dies meinst du, nicht wahr? Die Feinheiten der
Kunst?
Phaidros: Ja!
Sokrates: Als Zweites die Darstellung des Falls, und
in derselben die Zeugnisse, als Drittes die Beweise,
als Viertes die Wahrscheinlichkeiten; auch von der
Beglaubigung, meine ich, und der Nachbeglaubigung spricht der trefflichste Redendaidalos, der
Mann aus Byzanz?
Phaidros: Du meinst den biederen Theodoros?
Sokrates: Wen anders? Freilich auch die Widerlegung
und die Nachwiderlegung müsse man anbringen
sowohl bei der Anklage als bei der Verteidigung!
Den schönsten Parier aber, Buenos, sollten wir
nicht aufführen, der die Unteranzeige sowohl als
das mehrfältige Nebenlob zuerst erfunden hat? Einige sagen, er habe auch den mehrfältigen
Nebentadel in Verse gebracht, dem Gedächtnis zuliebe;
denn ein weiser Mann ist er! Den Teisias aber und
den Gorgias sollten wir schlafen lassen? Welche
ersahen, daß man das Wahrscheinliche höher anschlagen müsse als das Wahre, und welche das
Kleine groß und das Große klein erscheinen lassen
durch die Stärke der Rede, und das Neue alt, und
das Gegenteil neu, und die sowohl die Gedrängtheit
der Reden als die unbegrenzte Länge für alle Gegenstände erfanden? Als aber dieses Prodikos von
mir hörte, lachte er und sagte, er allein habe gefunden, was für Reden man kunstmäßig brauche: man
brauche nämlich weder lange noch kurze, sondern
mittelmäßige.
Phaidros: Freilich sehr weise, o Prodikos!
Sokrates: Von Hippias aber sprechen wir nicht? - Denn ich glaube, auch dieser Gast aus Elis stimmte
mit jenem überein.
Phaidros: Warum nicht?
Sokrates: Wie aber wollen wir ferner des Polos Redemuseen bezeichnen, als die Doppelsprache, und die
Denkspruchsprache, und die Bildersprache, sowie
des Likymnios Wörtersammlungen, womit dieser
jenen beschenkte zu Bewirkung des Schönredens?
Phaidros: Die Leistungen des Protagoras aber, o Sokrates, waren sie nicht ebenfalls etwas der Art?
Sokrates: Ja, ein gewisses Richtigreden, o Knabe,
und anderes Viele und Schöne! Dagegen in der
Kunst kläglich seufzender, auf Alter und Armut bezüglicher Reden scheint mir des Chalkedoniers
Kraft das Übergewicht behauptet zu haben. Und
ferner im Erbittern vieler zugleich war der Mann
gewaltig, und wiederum im Besprechen und Einwiegen der Erbitterten, wie er sagte; sowie im
Verleumden und Entkräften von Verleumdungen,
woher immer kommend, war er überwiegend stark.
Über den Schluß der Reden aber, scheint es, haben
alle zusammen einerlei Meinung, wobei die einen
den Namen Wiederholung brauchen, andere einen
anderen.
Phaidros: Du meinst das Erinnern der Zuhörer an
alles einzelne Gesagte am Ende durch einen zusammenfassenden Überblick?
Sokrates: Dieses meine ich, und was du sonst noch
etwa über die Redekunst zu sagen hast!
Phaidros: Nur Geringfügiges und nicht der Rede
wert!
Sokrates: So lassen wir denn das Geringfügige! Das
aber wollen wir noch näher beim Lichte besehen:
welche Bedeutung für die Kunst dieses alles habe,
und in welchem Fall?
Phaidros: Ja, eine gar mächtige, o Sokrates, gewiß
wenigstens in Versammlungen der Menge!
Sokrates: Da freilich! Aber nun, du Dämonischer,
siehe zu, ob wohl auch dir ihr Gewebe als ein eben
so lockeres erscheint wie mir?
Phaidros: Zeige es nur!
Sokrates: So sage mir einmal: Wenn jemand zu deinem Freund Eryximachos käme oder zu dessen
Vater Akumenos und sagte: »Ich weiß dieses und
jenes Mittel für den Körper zu verordnen, so daß
ich ihm Hitze, wenn es mir beliebt, und Abkühlung, oder wenn es mir so gut dünkt, Erbrechen,
wenn anders. Abführen verursache, und gar manches andere der Art; und weil ich dieses weiß,
behaupte ich, ein Arzt zu sein und jeden andern dazu
zu machen, dem ich etwa die Wissenschaft davon
mitteile«; - was, glaubst du, werden jene sagen,
wenn sie dies hören?
Phaidros: Was anders denn, als daß sie ihn fragten,
ob er auch das noch dazu wisse, bei wem und wann
man jedes dieser Mittel anwenden müsse, und bis
zu welchem Grade?
Sokrates: Wenn er nun sagen würde: »Das keineswegs; aber ich behaupte, daß derjenige, der jenes
bei mir gelernt hat, auch von sich selbst imstande
sein wird, das, wonach du fragst, zu leisten?«
Phaidros: So würde er, glaube ich, sagen: »Der
Mensch ist wahnsinnig: weil er irgendwoher aus
einem Buch es erfahren oder einige Mittelchen
überkommen hat, glaubt er, ein Arzt zu sein, ohne
doch etwas von der Kunst zu verstehen!«
Sokrates: Ferner wie, wenn jemand zu Sophokles und
Euripides käme und spräche, er wisse über eine
kleine Sache sehr lange Vorträge zu halten und
über eine große sehr kleine, und wenn es ihm beliebe, klägliche und im Gegenteil wieder furchtbare
und drohende und was sonst derart ist, und indem
er hierin Unterricht erteile, glaube er die Abfassung
der Tragödie zu lehren?
Phaidros: Auch diese, o Sokrates, glaube ich, würden
eben lachen, wenn jemand glaubte, die Tragödie sei
etwas anderes als eine organische Zusammenfügung jener Stücke, welche sowohl den Teilen unter
sich das rechte Verhältnis, als dem Ganzen den
Charakter organischer Zusammenfügung verleihe.
Sokrates: Aber nicht auf derbe Weise, glaube ich,
würden sie ihn schmähen, sondern wie ein Musiker, wenn er einem Manne begegnete, der glaubte,
ein Harmoniekünstler zu sein, weil er etwa eine
Saite möglichst hoch und möglichst tief zu stimmen weiß, gewiß nicht auf herbe Weise sagen
würde: »Du ärmlicher Mensch, du bist verrückt«,
sondern, da er ja ein Musiker ist, in sanfterem
Tone: »Mein Bester, zwar muß der, welcher ein
Harmoniekünstler werden will, notwendig auch
dieses wissen; dies hindert aber nicht, daß der, welcher deine Fertigkeit besitzt, darum noch nicht das
mindeste von der Harmonie versteht; denn nur die
notwendigen Vorkenntnisse der Harmonie weißt
du, aber nicht die harmonische Kunst.«
Phaidros: Gewiß sehr richtig!
Sokrates: Und würde nicht auch Sophokles von dem,
der sich ihnen so zeigen wollte, sagen, er wisse die
Vorkenntnisse der Tragödie, aber nicht die tragische Kunst, und Akumenos, er wisse die
Vorkenntnisse der Heilkunde, aber nicht die Heilkunst?
Phaidros: Allerdings freilich!
Sokrates: Was aber, glauben wir, würde der honigstimmige Adrastos oder auch Perikles, wenn sie
von den wunderschönen Kunststücken hörten, die
wir jetzt eben durchgingen, von den verschiedenen
Arten des Kurzsprechens und der Bildersprache,
und was wir sonst durchmusterten und, wie wir
sagten, näher beim Lichte betrachten mußten, - würden sie wohl ungehalten wie ich und du mit
Derbheit eine so unartige Rede sagen gegen die,
welche diese Dinge geschrieben haben und als rhetorische Kunst lehren, und nicht vielmehr, da sie ja
weiser als wir sind, uns beide dafür strafen und
sagen: »O Phaidros und Sokrates, man muß nicht
ungehalten sein, sondern nachsichtig, wenn Leute,
die dialektisch nicht gebildet, nicht imstande sind,
begriffsmäßig zu bestimmen, was die Rhetorik eigentlich ist, bei diesem Bildungsstand aber, weil
sie die notwendigen Vorkenntnisse der Kunst besitzen, glauben, sie haben die Rhetorik gefunden, und
indem sie andere in jenen unterrichten, der Meinung sind, es sei von ihnen in der Rhetorik ein
vollständiger Unterricht gegeben worden: - jede
einzelne dieser Kenntnisse aber überzeugungskräftig in einer Rede anzuwenden und ein Ganzes
organisch zusammenzufügen, das müssen die Schüler
als etwas ohne Belang sich von sich selbst bei
ihren Reden verschaffen.«
Phaidros: Allerdings, o Sokrates, droht es mit der
Angelegenheit der Kunst, die diese Männer als
Rhetorik lehren und schriftlich darstellen, so
beschaffen zu sein, und mir wenigstens scheinst du
wahr geredet zu haben. Aber wie und woher nun
wird sich jemand die Kunst des wirklichen und
überredungskräftigen Redners verschaffen können?
Sokrates: Was das Können betrifft, o Phaidros, nämlich daß er ein vollkommener Streitmann werde, so
hat es damit wahrscheinlich, vielleicht aber auch
notwendig dieselbe Bewandtnis wie mit anderem:
Wenn du natürliche Anlage zum Redner hast, so
wirst du, wenn du noch teils Wissenschaft, teils
Übung admit verbindest, ein namhafter Redner
sein; in dem Maße aber, in dem es dir an einem von
diesen beiden fehlt, wirst du ein unvollkommener
sein. Soweit aber Kunst dabei ins Spiel kommt,
scheint mir der Weg, den Lysias und Thrasymachos
einschlagen, nicht der rechte zu sein.
Phaidros: Aber welcher denn?
Sokrates: Perikles, mein Bester, ist doch, wie es fast
scheint, wohl sicher unter allen in der Redekunst
der Vollkommenste gewesen?
Phaidros: Wieso?
Sokrates: Alles, was irgend von Künsten bedeutend
ist. bedarf unter anderem »jenes müßigen und überschwänglichen Geredes über die Natur«. Denn
eben daher scheint sich ihnen das Hochsinnige und
allseitig Tatkräftige mitzuteilen, was auch Perikles
neben seiner guten Naturanlage sich angeeignet
hatte. Indem er nämlich, glaube ich, mit einem
Manne dieser Art, dem Anaxagoras, in Berührung
kam und, dadurch »von jenen überschwenglichen
Reden« erfüllt, auf das Wesen sowohl der Vernunft
als der Unvernunft geleitet wurde, über welche Gegenstände ja Anaxagoras so viele Worte machte, so
zog er von daher in die Redekunst herüber, was für
diese ersprießlich war.
Phaidros: Wie meinst du dies?
Sokrates: Es ist sicher mit der Redekunst dasselbe
Verhältnis wie mit der Heilkunst?
Phaidros: Wieso?
Sokrates: In beiden mußt du die Natur und zwar die
des Körpers in der einen, die der Seele in der anderen unterscheiden, wenn du nicht bloß nach Art der
gemeinen Übung und gemeiner Erfahrung, sondern
nach den Regeln der Kunst jenem mittelst Arzneien
und Nahrungsmitteln Gesundheit und Stärke verschaffen, dieser aber mittelst gesetzmäßiger Reden
und Anweisungen jedwede beliebige Überzeugung
und Tugend mitteilen willst.
Phaidros: Aller Wahrscheinlichkeit nach, o Sokrates,
ist es so.
Sokrates: Glaubst du nun, daß es möglich sei, die
Natur der Seele vernunftgemäß zu begreifen ohne
die Natur des Ganzen?
Phaidros: Nicht einmal den Körper, ohne diesen Weg
einzuschlagen, wenigstens wenn man dem Hippokrates, dem Abkömmling der Asklepiaden, einigen
Glauben schenken muß!
Sokrates: Und mit Recht, o Freund, sagt er dies.
Doch muß man neben dem Hippokrates auch die
Vernunft ausforschen und sehen, ob sie damit übereinstimme.
Phaidros: Ich gebe es zu.
Sokrates: So sieh nun zu, was denn Hippokrates und
die wahre Vernunft von der Natur sagt! Muß man
nicht die Natur eines jeden Dinges folgendermaßen
zu begreifen suchen? Erstens, ob das, worin wir
selbst Künstler sein und fähig sein wollen, einen
anderen dazu zu bilden, einfach oder vielartig sei?
Sodann, wenn es einfach ist, muß man sehen, welche Kraft ihm naturgemäß zukomme, um auf was
tätig zu wirken, oder welche, um von was Einwirkungen zu erleiden? Wenn es aber mehrere Arten
hat, muß man diese aufzählen und wie dort bei dem
einen, so nun bei jeder einzelnen Art betrachten,
was jeder auszurichten, und was jeder und von welcher Seite her zu leiden naturgemäß zukomme?
Phaidros: Fast scheint es so, o Sokrates.
Sokrates: Ohne dieses würde wenigstens der Gang
der Untersuchung aussehen wie der Wandel eines
Blinden. Gewiß aber darf der, der einen Gegenstand kunstmäßig zu behandeln weiß, weder mit
einem Blinden noch mit einem Tauben verglichen
werden: sondern offenbar muß der, welcher einem
andern auf kunstmäßigem Wege Reden an die
Hand geben will, ihm das Wesen der Natur
desjenigen gründlich zeigen, für das er seine Reden
berechnen wird. Dieses aber ist gewiß die Seele.
Phaidros: Was anders?
Sokrates: Muß nun nicht sein ganzer Eifer auf dieses
von ihm gespannt sein? Denn in diesem sucht er
Überzeugung zu bewirken. Nicht wahr?
Phaidros: Ja!
Sokrates: Offenbar ist also, daß Thrasymachos sowohl als wer sonst etwa im Ernst eine
Redekunstlehre herausgeben will, zuerst mit aller Gründlichkeit die Seele beschreiben und anschaulich machen
muß, ob sie ihrer Natur gemäß eins und dasselbe
sei, oder ob sie nach der Gestalt des Körpers vielartig sei? Denn dieses heißt, sagen wir, ihre Natur
zeigen.
Phaidros: Allerdings freilich!
Sokrates: Zweitens aber dann, was ihr naturgemäß
zukomme, an welchem Gegenstand auszurichten,
oder von welchem zu erleiden?
Phaidros: Was anders?
Sokrates: Drittens aber, wenn er die Gattungen der
Reden und der Seele und ihre Bestimmtheiten erörtert hat, wird er auch sämtliche Ursachen
durchgehen, jedes jedem anpassend, und lehrend,
aus welcher Ursache was für eine Seele von welcherlei Reden entweder überzeugt wird oder nicht
überzeugt wird.
Phaidros: Freilich würde es sich, wie es scheint, so
am schönsten machen.
Sokrates: Mitnichten also, mein Lieber, wird das,
was auf andere Weise gelehrt oder vorgetragen
wird, jemals kunstmäßig vorgetragen oder geschrieben sein, sei es über diesen oder einen
anderen Gegenstand. Aber die jetzigen Schreiber von
Redekunstlehren, die du gehörst hast, sind Schlauköpfe und verheimlichen es, daß sie über die Seele
gar hübsch unterrichtet sind. Bevor sie nun auf
diese Art sowohl sprechen als schreiben, wollen
wir uns ja nicht einreden, daß sie kunstmäßig
schreiben.
Phaidros: Auf welche Art denn?
Sokrates: Es fällt nicht so leicht, dies selbst in Worten auszudrücken; indessen will ich davon
sprechen, wie man schreiben müsse, wenn es kunstmäßig geschehen soll, soweit es zulässig ist.
Phaidros: So sprich denn!
Sokrates: Da die Kraft der Rede eine Seelenleitung
ist, so muß derjenige, der ein Redner werden will,
notwendig wissen, wie viele Arten die Seele hat.
Deren gibt es also so und so viele und so und so
beschaffene, daher auch die Menschen einige so,
andere so beschaffen sind. Nachdem aber nun die-
ses eingeteilt worden ist, gibt es andererseits auch
so und so viele Arten von Reden, und jede so oder
so beschaffen. Die so beschaffenen Menschen sind
nun durch die so beschaffenen Reden aus der so beschaffenen Ursache zu den so beschaffenen
Zwecken leicht zu bereden, - die so beschaffenen
aber sind aus diesen Gründen schwer zu bereden.
Hat er nun dies gehörig begriffen, so muß er, wenn
ihm in der Folge zur Anschauung kommt, wie eben
dasselbe im wirklichen Leben ist und in Wirkung
gesetzt wird, es mit scharfer Beobachtung verfolgen können; wo nicht, so wird er auch noch nicht
mehr davon wissen als die Reden, die er einst als
Schüler gehört hat. Wenn er aber gehörig zu sagen
weiß, was für ein Mensch durch was für Reden
überzeugt wird, auch imstande ist, sooft ihm ein
solcher vorkommt, ihn genau zu erkennen und sich
selbst deutlich zu machen, daß er dieser sei und
daß dieselbe Natur, von welcher damals die Reden
handelten, in der Tat ihm nun gegenwärtig sei, jene
nämlich, bei welcher gerade diese Reden auf diese
Art zur Überzeugung über diese Gegenstände angewendet werden müssen, - wenn er also dieses alles
schon inne hat und damit nun noch die Erkenntnis
der Zeit, wann geredet und wann inne gehalten
werden müsse, verbindet, wenn er ferner für das
Kurzreden und die Sprache des Mitleids und der
Steigerung, überhaupt für alle Redearten, die er
etwa gelernt hat, die rechte Zeit und die Unzeit zu
unterscheiden weiß, dann erst ist seine Kunst in
schönem und vollkommenem Maße ausgebildet,
eher aber nicht; sondern läßt er es in einem dieser
Stücke beim Sprechen oder Lehren oder Schreiben
an sich fehlen, behauptet aber doch, kunstmäßig zu
sprechen, so hat der recht, der ihm keinen Glauben
schenkt. »Und wie nun«, wird vielleicht der
Schriftsteller sagen, »o Phaidros und Sokrates, - dünkt euch die sogenannte Redekunstlehre so oder
anders annehmbar zu sein?«
Phaidros: Unmöglich anders, o Sokrates, obgleich sie
freilich als eine nicht geringe Arbeit erscheint!
Sokrates: Wahr sprichst du! Darum aber muß man
die sämtlichen Reden zu oberst und zu unterst wenden, um nachzusehen, ob irgendwo ein leichterer
und näherer Weg zu ihr sich zeigt, um nicht unnöti-
gerweise in einen weiten und rauhen abzulenken,
da doch ein kurzer und ebener frei steht. Hast du
aber von Lysias oder irgend einem andern hier irgendwie eine Hilfe vernommen, so versuche dich
zu erinnern und es anzugeben!
Phaidros: Des Versuchs halber möchte ich schon
etwas haben, aber gerade jetzt habe ich nichts in
Bereitschaft!
Sokrates: Willst du also, daß ich etwa mitteile, was
ich von einigen, die sich hiermit beschäftigen,
sagen gehört habe?
Phaidros: Was sonst?
Sokrates: Sagt man ja doch, o Phaidros,
Gerecht sein und vertreten auch des Wolfs Rechte.
Phaidros: So tue denn auch du so!
Sokrates: Sie sagen also: Man brauche mit jenem gar
nicht so vornehm zu tun, noch es auf großen Umwegen weit von oben her abzuleiten; denn
allerdings, was wir ja auch beim Beginne dieser Besprechung gesagt haben, - wer ein tüchtiger
Redner werden wolle, brauche keineswegs im Besitze
der Wahrheit zu sein weder hinsichtlich der Gegenstände, welche gerecht und gut, noch auch der
durch Naturanlage oder Erziehung so beschaffenen
Menschen. Denn bei den Gerichten bekümmere
man sich durchaus nichts um die Wahrheit hierin,
sondern nur um das Überredungskräftige. Dieses
aber sei das Wahrscheinliche, worauf also der, welcher kunstmäßig reden wolle, seine
Aufmerksamkeit richten müsse. Denn im Gegenteil, manchmal
dürfe er das wirklich Geschehene gar nicht in seine
Rede aufnehmen, wenn es nämlich nicht zugleich
auf wahrscheinliche Weise geschehen sei, sondern
nur das Wahrscheinliche, sowohl bei einer Anklage
als einer Verteidigung; und so müsse der Sprechende durchaus nur die Spur des
Wahrscheinlichen verfolgen, dem Wahren aber viel Glück auf
den Weg wünschen. Denn daß jenes sich durch das
Ganze der Rede hinziehe, das mache die ganze
Kunst aus.
Phaidros: Was du da auseinandergesetzt hast, o Sokrates, ist ja dasselbe, was diejenigen sagen, die in
den Reden für Künstler gelten wollen; denn ich erinnere mich, daß wir etwas der Art früher berührt
haben; es dünkt aber denen, die sich hiermit beschäftigen, etwas Wundergroßes zu sein.
Sokrates: Nun fürwahr, du hast ja den Teisias selbst
tüchtig geritten. So soll uns nun Teisias auch das
sagen: ob er mit dem Wahrscheinlichen etwas anderes bezeichne als das, was der Menge gut dünkt?
Phaidros: Was anderes denn?
Sokrates: Nun, dieses hat er ja, wie es scheint, als
einen weisen und zugleich künstlerischen Fund niedergeschrieben, nämlich: Wenn ein Schwacher und
zugleich Tapferer einen Starken und zugleich Feigen niedergeschlagen und ihm den Mantel oder
sonst etwas genommen hat und nun vor Gericht geführt wird, so darf ja keiner von beiden das Wahre
sagen, sondern der Feige darf nicht angeben, daß er
von dem Tapferen allein niedergeschlagen worden
sei, dieser aber muß zwar entgegen behaupten, daß
sie beide allein gewesen, dabei aber das geltend
machen: »Wie hätte ich, wie ich bin, mit diesem,
wie er ist, mich versuchen können?« Der aber wird
gewiß seine Schlechtigkeit nicht eingestehen, sondern indem er irgend etwas anderes zu lügen ver-
sucht, dürfte er seinem Gegner wohl alsbald eine
Gegenbehauptung an die Hand geben. Und dieser
Art ungefähr ist auch das, was in anderen Fällen
kunstmäßig gesprochen wird. Nicht so, o Phaidros?
Phaidros: Was sonst?
Sokrates: Ha, eine gar wunderbar geheime Kunst hat,
scheint es, Teisias erfunden oder ein anderer, wer er
immer sein mag, und woher er seinen Namen zu
haben sich erfreuen mag! Aber, mein Freund, wollen wir's ihm sagen oder nicht?
Phaidros: Was denn?
Sokrates: »Daß, o Teisias, wir schon lange, ehe auch
du hierhergekommen, zufällig davon sprachen, wie
gerade dieses Wahrscheinliche der Menge aus der
Ähnlichkeit mit dem Wahren insgemein sich ergebe. Die Ähnlichkeiten aber, haben wir sofort
auseinandergesetzt, weiß überall derjenige, welcher die
Wahrheit erkannt hat, am schönsten zu finden.
Wenn du daher etwas anderes über die Kunst der
Reden zu reden hast, wollen wir hören: wo nicht,
so werden wir dem, was wir jetzt eben auseinandergesetzt haben. Glauben schenken, daß nämlich,
wenn einer nicht die Naturen sowohl derjenigen,
welche ihn hören werden, aufzählen kann, als auch
die Gegenstände nach ihren Arten zu unterscheiden
und alles einzelne in einen Begriff zusammenzufassen vermag, er niemals ein Künstler im Reden sein
wird, soweit dieses überhaupt einem Menschen
möglich ist. Dies aber wird er sich niemals erwerben können ohne viele praktische Übung, der sich
aber nun der Besonnene nicht um des Redens und
Handelns mit Menschen willen unterziehen darf,
sondern um den Göttern Gefälliges reden und in
allem nach Vermögen ihnen gefällig handeln zu
können. Denn ja nicht darf, o Teisias«, - so sagen
die, welche weiser als wir sind, - »wer Vernunft
hat, sich bestreben, seinen Mitknechten sich gefällig zu zeigen, außer in Nebendingen, sondern
seinen guten und von Guten kommenden Gebietern.
Wundere dich denn nicht, wenn es auch ein langer
Umweg ist; denn großer Dinge wegen muß man ihn
machen, nicht wegen dessen, was du meinst. Wenn
dann einer, wie man sagt, nur will, so wird sich
ihm auch jenes (die Kunst zu reden) aus diesem im
schönsten Maß ergeben.«
Phaidros: Gar schön scheint mir wenigstens, o Sokrates, dann gesprochen zu werden, wenn es nur
jemand zu leisten imstande wäre!
Sokrates: Aber, wer sich einmal an dem Schönen versucht, dem ist es auch ein Schönes, zu erleiden,
was ihm zu erleiden zukommt.
Phaidros: Gar wohl!
Sokrates: Darüber nun, was Kunst und Kunstlosigkeit in Reden ist, möge dieses genügen!
Phaidros: Wohl!
Sokrates: Was aber die Frage über Angemessenheit
und Unangemessenheit der Schrift betrifft, inwiefern ihr Gebrauch etwas Schönes sein möchte, und
inwiefern etwas Unangemessenes, das ist noch
übrig. Nicht wahr?
Phaidros: Ja!
Sokrates: Weißt du nun, inwiefern du mit Reden teils
selbsttätig, teils davon redend einem Gott am meisten wohlgefällig sein kannst?
Phaidros: Nein, aber du?
Sokrates: Eine Erzählung wenigstens, die ich vernommen, habe ich mitzuteilen von den Alten; sie
wissen ja das Wahre! Fänden wir aber dieses selbst
auf, würden wir uns da wohl noch etwas um
menschliche Meinungen kümmern?
Phaidros: Lächerliches fragst du! Aber teile es mit,
was du vernommen zu haben behauptest!
Sokrates: Ich habe also vernommen, zu Naukratis in
Ägypten sei einer der dortigen alten Götter
gewesen, dem auch der heilige Vogel, den sie ja
Ibis nennen, eignete; der Dämon selbst aber habe
den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und
Rechnung erfunden, und Mathematik und Sternkunde, ferner Brettspiel und Würfelspiel, ja sogar
auch die Buchstaben. Weiter aber, da damals über
ganz Ägypten Thamus König war in der großen
Stadt des oberen Bezirks, welche die Hellenen das
ägyptische Theben nennen, wie sie den dortigen
Gott Ammon nennen, - so kam der Theuth zu diesem und zeigte ihm seine Künste und sagte, man
müsse sie nun den anderen Ägyptern mitteilen. Der
aber fragte, was für einen Nutzen eine jede habe?
Indem er's nun auseinandersetzte, so wußte er, wie
ihm jener etwas gut oder nicht gut zu sagen dünkte,
es bald zu tadeln, bald zu loben. Vieles nun soll da
Thamus dem Theuth über jede Kunst in beiderlei
Richtung frei heraus gesagt haben, was durchzugehen viele Worte fordern würde. Als er aber an den
Buchstaben war, sagte der Theuth: » Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und
erinnerungsfähiger machen; denn als ein Hilfsmittel für
das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden.« Er aber erwiderte: »O du sehr
kunstreicher Theuth! Ein anderer ist der, der das, was zur
Kunst gehört, hervorzubringen, ein anderer aber
der, der zu beurteilen vermag, welchen Teil
Schaden sowohl als Nutzen sie denen bringe, die
sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als
Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil
von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es
kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen
auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das
Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern
für das Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden.
Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur
Schein, nicht Wahrheit dar. Denn Vielhörer sind
sie dir nun ohne Belehrung, und so werden sie
Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein
Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind,
nicht Weise.«
Phaidros: O Sokrates, leicht erdichtest du ägyptische
und dir beliebig wo immer heimische Reden!
Sokrates: Es sagen ja gar welche, die ersten wahrsagerischen Reden seien die einer Eiche im Tempel
des Zeus in Dodona gewesen. Den damals Lebenden also, die eben keine Weisen waren wie ihr
Jüngeren, genügte es, in Einfalt den Baum und den
Fels anzuhören, wenn sie nur Wahres redeten. Dir
aber ist es vielleicht ein Unterschied, wer der
Redende und wo er heimisch ist? Denn nicht auf
jenes allein siehst du, ob es sich so, ob anders verhält.
Phaidros: Mit Recht hast du mich gescholten! Auch
mir scheint es sich in betreff der Buchstaben zu
verhalten, wie der Thebaier sagt.
Sokrates: Wer also glaubt, eine Kunst in Buchstaben
zu hinterlassen, und wieder, wer sie annimmt, als
ob aus Buchstaben etwas Deutliches und Zuverlässiges entstehen werde, der möchte wohl großer
Einfalt voll sein und in der Tat den Wahrspruch des
Ammon nicht kennen, indem er glaubt, geschriebene Reden seien etwas mehr als eine
Gedächtnishilfe für den, der das schon weiß, wovon das Geschriebene handelt.
Phaidros: Sehr richtig!
Sokrates: Dieses Mißliche nämlich, o Phaidros, hat
doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei
gleich. Denn die Erzeugnisse auch dieser stehen
wie lebendig da; wenn du sie aber etwas fragst,
schweigen sie sehr vornehm. Geradeso auch die
Reden: du könntest meinen, sie sprechen, als verständen sie etwas: wenn du aber in der Absicht,
dich zu belehren, nach etwas von dem Gesprochenen fragst, zeigen sie immer nur eines und dasselbe
an. Und wenn sie einmal geschrieben ist, so treibt
sich jede Rede aller Orten umher gleicherweise bei
den Verständigen wie nicht minder bei denen, für
die sie gar nicht paßt, und weiß nicht, bei wem sie
eigentlich reden und nicht reden soll; vernachlässigt aber und ungerecht geschmäht, hat sie immer
ihren Vater als Helfer nötig; denn selbst vermag sie
weder sich zu wehren noch sich zu helfen.
Phaidros: Auch dies ist sehr richtig von dir gesagt.
Sokrates: Wie aber? Wollen wir etwa eine andere
Rede ins Auge fassen, die leibliche Schwester von
dieser, auf welche Weise sie entsteht und wieviel
besser und wirksamer als jene sie in ihrem Wüchse
ist?
Phaidros: Welche denn, und wie soll sie nach deiner
Meinung entstehen?
Sokrates: Jene, die mit Wissenschaft in die Seele des
Lernenden geschrieben wird, und die sich nicht nur
selbst zu wehren vermag, sondern auch zu reden
und zu schweigen, weiß, gegen wen es sein soll.
Phaidros: Du redest von der lebendigen und beseelten Rede des Wissenden, von der die geschriebene
mit Recht ein Abbild genannt werden mag.
Sokrates: Nun freilich, allerdings! Sage mir denn dieses: Ein Landmann, der Verstand hat, - wird er den
Samen, an dem ihm gelegen ist und von dem er
gerne Frucht bekommen möchte, ernstlich im Sommer in Adonisgärtchen bauen und sich nun freuen,
wenn er schaut, daß diese binnen acht Tagen schön
stehen? Oder wird er dieses nicht des Spiels und
des Festes wegen so machen, wenn er es überhaupt
tut, den aber, mit dem es ihm Ernst ist, nach den
Regeln der Kunst des Landbaus dahin, wohin es
sich gehört, säen und vergnügt sein, wenn das, was
er säete, im achten Monat seine Zeitigung erlangt?
Phaidros: Sicher, o Sokrates, dürfte er dieses im
Ernst, jenes aber, wie du sagst, in ganz anderem
Sinne tun.
Sokrates: Wer aber die Wissenschaft des Gerechten
und des Schönen und des Guten inne hat, - wollen
wir sagen, daß der weniger Verstand habe hinsichtlich seines Samens als der Landmann?
Phaidros: Keineswegs.
Sokrates: Nicht also im Ernst wird er sie ins Wasser
schreiben, - wollte sagen, mit Tinte durch die
Feder in Reden aussäen, die unvermögend sind,
sich selber redend zu helfen, unvermögend auch,
das Wahre genügend zu lehren.
Phaidros: Nicht wohl, wie sich denken läßt!
Sokrates: Nein, sondern die Buchstabengärtchen wird
er, wie mir scheint, des Spiels halber besäen und
beschreiben, so zwar, daß er, wenn er schreibt,
einen Schatz von Denkwürdigkeiten sammelt sowohl für sich selbst auf die Zeit, da er in das Alter
des Vergessens kommt, als für jeden, der derselben
Spur nachgeht, und wenn er sie in ihrem zarten
Wüchse schaut, wird er seine Lust daran haben;
wenn aber andere andere Spiele treiben, bei Gastmahlen sich labend, oder was sonst damit verwandt
ist, wird er statt dessen, wie mir scheint, an dem,
wovon ich rede, seinen spielenden Zeitvertreib
haben.
Phaidros: Ein gar schönes Spiel nennst du da neben
einem unbedeutenden, o Sokrates, das Tun desjenigen, der in Reden zu spielen vermag, indem er in
mythischer Dichtung redet von der Gerechtigkeit
und anderem, wovon du sprichst.
Sokrates: Und es ist so, mein lieber Phaidros. Viel
schöner aber, glaube ich, ist das ernstliche Bemühen um diese Dinge, wenn einer, die dialektische
Kunst anwendend, eine geeignete Seele nimmt und
mit wissenschaftlichen Reden bepflanzt und besät,
die sich selbst und dem Pflanzenden zu helfen geschickt und nicht unfruchtbar sind, sondern einen
Samen enthalten, aus dem in andersgearteten Gemütern wieder andere Reden erwachsen, die
geschickt sind, denselben für immer unsterblich zu
erhalten und den, der ihn inne hat, so glücklich zu
machen, als es einem Menschen nur irgend möglich
ist.
Phaidros: Noch weit schöner ist das, was du da sagst.
Sokrates: Nun denn, o Phaidros, können wir erst
jenes beurteilen, nachdem wir uns über dieses
verständigt haben.
Phaidros: Was denn?
Sokrates: Das, was wir eigentlich betrachten wollen,
und was uns ja eben hierher geführt hat, daß wir
nämlich sowohl über den dem Lysias gemachten
Vorwurf wegen des Redenschreibens eine Prüfung
anstellen wollten, als über die Reden selbst, welche
wohl mit Kunst und ohne Kunst geschrieben würden. Und zwar scheint mir nun das, was
kunstmäßig sei oder nicht, gebührend erklärt worden zu
sein.
Phaidros: Wirklich schien es so. Indessen rufe mir's
noch einmal ins Gedächtnis zurück, wie?
Sokrates: Bevor einer das Wahre der einzelnen Gegenstände, über die er spricht und schreibt, sich
zum Bewußtsein gebracht, sodann sich in den
Stand gesetzt hat, das Ganze begrifflich zu bestimmen, sofort, nachdem er es bestimmt hat, es wieder
nach Arten bis zum Unteilbaren zu teilen versteht,
ferner auf dieselbe Weise, die Natur der Seele
durchschauend, die jeder Seele entsprechende Art
auffindet und danach die Rede setzt und anordnet,
also einer vielgestaltigen Seele vielgestaltige und
tonreiche Reden darbietet, einer einfachen aber einfache, - eher, sagten wir, werde er nicht imstande
sein, mit Kunst, soweit es die Natur des Gegenstandes fordert, das Geschlecht der Reden zu
handhaben, weder zum Zweck der Belehrung noch
zu dem der Überredung, wie die ganze bisherige
Rede uns dargetan hat.
Phaidros: Allerdings nun hat sich dieses ungefähr so
herausgestellt.
Sokrates: Wie aber ferner hinsichtlich der Frage, ob
es schön oder schimpflich sei. Reden zu sprechen
und zu schreiben, und in welchem Falle man daraus
mit Recht einen Vorwurf machen könne oder
nicht, - hat dies nicht das eben erst Gesprochene
klargemacht?
Phaidros: Welches denn?
Sokrates: Daß, wenn Lysias oder irgend ein anderer
jemals geschrieben hat oder schreiben wird in besonderer Angelegenheit oder in öffentlicher, indem
er Gesetze vorschlagend ein staatliches Schriftwerk
verfaßt und er nun der Ansicht ist, es sei irgend
große Zuverlässigkeit und Deutlichkeit darin, - daß in diesem Fall den Schreibenden ein Vorwurf
treffe, möge es ihm jemand sagen oder nicht. Denn
vom Gerechten und Ungerechten und vom Schlechten und Guten wachend und schlafend nichts
wissen, das kann man doch nicht umhin, für vorwurfsvoll zu halten, auch nicht, wenn es die ganze
Volksmenge loben würde!
Phaidros: Und gewiß nicht!
Sokrates: Wenn er aber der Ansicht ist, daß in einer
über einen beliebigen Gegenstand geschriebenen
Rede notwendig vieles Spiel ist, und daß noch nie
eine Rede weder im Versmaß noch ohne Versmaß
als ernster Beachtung würdig geschrieben oder gesprochen worden, wenn es in der Art geschah, wie
die von den Rhapsoden vorgetragenen gesprochen
werden ohne Untersuchung und Belehrung, nur der
Überredung halber, daß vielmehr die besten derselben in Wirklichkeit nur eine Gedächtnishilfe für die
schon Wissenden sind, daß aber in den zur Belehrung verfaßten und zum Unterricht gesprochenen
und in Wirklichkeit in die Seele geschriebenen über
das Gerechte und Schöne und Gute, und zwar nur
in diesen, etwas Einleuchtendes und Vollkommenes und ernster Beachtung Würdiges sei; ferner daß
solche Reden dann als sein eigen, die gleichsam
seine leiblichen Kinder sind bezeichnet werden
müssen, und zwar als Erstling die in ihm selbst geborene, wenn sie als Fund ihm angehört, sodann
als Sprößlinge und Brüder von dieser die, welche
etwa in den Seelen anderer in Würdiger Gestalt erwachsen, während er die übrigen alle unbeachtet
läßt, - dieser, o Phaidros, verspricht ein solcher
Mann zu sein, wie ich und du wünschen dürften,
daß du und ich würden.
Phaidros: Allerdings möchte und wünsche ich freilich, was du sagst.
Sokrates: Und nun möge das Maß unseres Spielens
über das, was Reden betrifft, voll sein! Und du
gehe nun und berichte dem Lysias, daß wir zwei an
den Bach der Nymphen und den Musensitz herabgekommen und Reden gehört haben, die uns
beauftragten, dem Lysias und wenn sonst jemand Reden
verfaßt, und dem Homeros und wenn sonst jemand
eine Dichtung ohne oder mit Gesangbegleitung verfaßt hat, drittens dem Solon und wer irgend in
staatlichen Reden Schriftwerke unter dem Namen
von Gesetzen schrieb, zu sagen, daß, wenn er diese
verfaßte, wohl wissend, wie das Wahre sich verhält, und imstande Hilfe zu leisten, wenn er zum
Beweis dessen, was er geschrieben, kommt, und so
redend, daß er selbst das Geschriebene als nichtswürdig dagegen erscheinen zu lassen vermag, - daß, sage ich, er dann auch nicht von dem allem
seinen Beinamen erhalten und ein solcher genannt
werden soll, sondern von jenem, womit er sich im
Ernste beschäftigt hat.
Phaidros: Welche Beinamen teilst du ihm nun zu?
Sokrates: Zwar ihn einen Weisen zu nennen, dünkt
mit etwas zu Großes zu sein, o Phaidros, und nur
einem Gott wohl anzustehen; aber einen Philosophen, einen Weisheitsfreund, oder etwas
dergleichen, das möchte wohl ihm selbst mehr passen und
wohllautender sein.
Phaidros: Und auch nicht eben gegen den Gebrauch!
Sokrates: Dagegen wer nichts Wertvolleres hat, als
was er verfaßt und geschrieben hat, es lange zu
oberst und zu unterst wendend, bald aneinander leimend, bald trennend, - nennst du wohl den nicht
mit Recht einen Dichter oder Redenschreiber oder
Gesetzesschreiber?
Phaidros: Wie anders?
Sokrates: Das also berichte deinem Freund!
Phaidros: Was aber du? Wie wirst du's halten? Denn
mitnichten ja dürfen wir deinen Freund übergehen.
Sokrates: Welchen denn?
Phaidros: Den schönen Isokrates! Was wirst du diesem melden, o Sokrates? Wer, werden wir sagen,
daß dieser sei?
Sokrates: Jung noch, o Phaidros, ist Isokrates! Was
ich jedoch von ihm weissage, will ich aussprechen.
Phaidros: Was denn nun?
Sokrates: Er dünkt mir besser zu sein nach seinen
Naturanlagen, um mit Lysias in Reden verglichen
zu werden, auch von edlerem Maß der Gemütsart,
so daß es kein Wunder wäre, wenn er mit vorrückendem Alter in denselben Reden, mit denen er
sich jetzt befaßt, alle, die irgend einmal mit Reden
sich abgegeben haben, weit wie Kinder und noch
mehr überträfe, ja wenn, sollte ihm dieses nicht
mehr genügen, ein gewisser göttlicher Antrieb ihn
zu Größerem hinleitete. Denn von Natur, mein Lieber, ist etwas von Philosophie in dem Geistesleben
des Mannes. Dieses denn nun will ich von den hier
waltenden Göttern dem Isokrates als meinem Lieblinge melden, du aber jenes dem deinigen, dem
Lysias.
Phaidros: Das soll geschehen! Aber laß uns
gehen, da auch die Hitze milder geworden!
Sokrates: Ziemt es sich nicht, zu diesen hier zu beten,
bevor wir gehen?
Phaidros: Wie anders?
Sokrates: O lieber Pan und all' ihr anderen Götter
hier! Verleihet mir, schön zu werden im Innern,
was ich aber von außen her habe, daß es dem Inneren befreundet sei! Für reich aber möge ich den
Weisen achten. Des Goldes Fülle aber möge mir
werden in solchem Maße, in welchem es ein anderer weder führen noch tragen könnte als der Weise.
Bedürfen wir noch weiter etwas, o Phaidros? Denn
für mich ist damit das volle Maß erbeten!
Phaidros: Auch für mich bete das mit! Denn Freunden ist das Ihrige gemeinschaftlich.
Sokrates: Gehen wir!
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