1884
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Erzieher
im Hause Specht
Auf
pädagogischem Gebiete brachte mir das Schicksal eine
besondere Aufgabe. Ich wurde als Erzieher in eine Familie
empfohlen, in der vier Knaben waren. Dreien hatte ich nur erst
den vorbereitenden Volksschul- und dann den
Nachhilfeunterricht für die Mittelschule zu geben. Der
vierte, der ungefähr zehn Jahre alt war, wurde mir zunächst
zur vollständigen Erziehung übergeben. Er war das Sorgenkind
der Eltern, besonders der Mutter. Er hatte, als ich ins Haus
kam, sich kaum die allerersten Elemente des Lesens, Schreibens
und Rechnens erworben. Er galt als abnormal in seiner
körperlichen und seelischen Entwickelung in einem so hohen
Grade, daß man in der Familie an seiner Bildungsfähigkeit
zweifelte. Sein Denken war langsam und träge. Selbst geringe
geistige Anstrengung bewirkte Kopfschmerz, Herabstimmung der
Lebenstätigkeit, Blaßwerden, besorgniserregendes seelisches
Verhalten.
Ich bildete
mir. nachdem ich das Kind kennen gelernt hatte, das Urteil,
daß eine diesem körperlichen und seelischen Organismus
entsprechende Erziehung die schlummernden Fähigkeiten zum
Erwachen bringen müsse: und ich machte den Eltern den
Vorschlag, mir die Erziehung /u überlassen. Die Mutter des
Knaben brachte diesem Vorschlage Vertrauen entgegen, und
dadurch konnte ich mir diese besondere pädagogische Aufgabe
stellen.
Ich mußte den
Zugang zu einer Seele finden, die sich zunächst wie in einem
schlafähnlichen Zustande befand und die allmählich dazu zu
bringen war, die Herrschaft über die Körperäußerungen zu
gewinnen. Man hatte gewissermaßen die Seele erst in den
Körper einzuschalten. Ich war von dem Glauben durchdrungen,
daß der Knabe zwar verborgene, aber sogar große geistige
Fähigkeiten habe. Das gestaltete mir meine Aufgabe zu einer
tief befriedigenden. Ich konnte das Kind bald zu einer
liebevollen Anhänglichkeit an mich bringen. Das bewirkte,
daß der bloße Verkehr mit demselben die schlummernden
Seelenfähigkeiten zum Erwachen brachte. Für das Unterrichten
mußte ich besondere Methoden ersinnen. Jede Viertelstunde,
die über ein gewisses dem Unterricht zugeteiltes Zeitmaß
hinausging, bewirkte eine Beeinträchtigung des
Gesundheitszustandes. Zu manchen Unterrichtsfächern konnte
der Knabe nur sehr schwer ein Verhältnis finden.
Diese
Erziehungsaufgabe wurde für mich eine reiche Quelle des Lernens.
Es eröffnete sich mir durch die Lehrpraxis, die ich anzuwenden hatte,
ein Einblick in den Zusammenhang zwischen Geistig-Seelischem und
Körperlichem im Menschen. Da machte ich mein eigentliches Studium
in Physiologie und Psychologie durch. Ich wurde gewahr, wie Erziehung
und Unterricht zu einer Kunst werden müssen, die in wirklicher Menschen-Erkenntnis
ihre Grundlage hat. Ein ökonomisches Prinzip hatte ich sorgfältig
durchzuführen. Ich mußte mich oft für eine halbe Unterrichtsstunde
zwei Stunden lang vorbereiten, um den Unterrichtsstoff so zu gestalten,
daß ich dann in der geringsten Zeit und mit möglichst wenig Anspannung
der geistigen und körperlichen Kräfte ein Höchstmaß der Leistungsfähigkeit
des Knaben erreichen konnte. Die Reihenfolge der Unterrichtsfächer
mußte sorgfältig erwogen, die ganze Tageseinteilung sachgemäß bestimmt
werden. Ich hatte die Befriedigung, daß der Knabe im Verlaufe von
zwei Jahren den Volksschulunterricht nachgeholt hatte und die Reifeprüfung
in das Gymnasium bestehen konnte. Auch seine Gesundheitsverhältnisse
hatten sich wesentlich gebessert. Die vorhandene Hydrocephalie war
in starker Rückbildung begriffen. Ich konnte den Eltern den Vorschlag
machen, den Knaben in die öffentliche Schule zu schicken. Es erschien
mir nötig, daß er seine Lebensentwickelung im Verein mit ändern
Knaben finde. Ich blieb als Erzieher in der Familie für mehrere
Jahre und widmete mich besonders diesem Knaben, der ganz darauf
angewiesen war, seinen Weg durch die Schule so zu nehmen, daß seine
häusliche Betätigung in dem Geiste fortgeführt wurde, in dem sie
begonnen war. Ich hatte da Veranlassung, in der schon früher erwähnten
Art meine griechischen und lateinischen Kenntnisse fortzubilden,
denn ich hatte für den Gymnasialunterricht dieses und noch eines
ändern Knaben in der Familie die Nachhilfestunden zu besorgen.
Ich muß dem
Schicksal dafür dankbar sein, daß es mich in ein solches
Lebensverhältnis gebracht hat. Denn ich erwarb mir dadurch
auf lebendige Art eine Erkenntnis der Menschenwesenheit, von
der ich glaube, daß sie so lebendig auf einem ändern Wege
von mir nicht hätte erworben werden können. Auch war ich in
die Familie in einer ungewöhnlich liebevollen Art
aufgenommen; es bildete sich eine schöne Lebensgemeinschaft
mit derselben aus. Der Vater des Knaben war als Agent für
indische und amerikanische Baumwolle tätig. Ich konnte einen
Einblick gewinnen in den Gang des Geschäftes und in vieles,
das damit zusammenhängt. Auch dadurch lernte ich vieles. Ich
sah in die Führung eines außerordentlich interessanten
Importgeschäftszweiges hinein, konnte den Verkehr unter
Geschäftsfreunden, die Verkettung verschiedener kommerzieller
und industrieller Betätigungen beobachten.
Mein Pflegling
konnte durch das Gymnasium durchgeführt werden; ich blieb an
seiner Seite bis zur Unter-Prima. Da war er so weit, daß er
meiner nicht mehr bedurfte. Er ging nach absolviertem
Gymnasium an die medizinische Fakultät, wurde Arzt und ist
als solcher ein Opfer des Weltkrieges geworden. Die Mutter,
die mir durch meine Tätigkeit für den Sohn zur treuen
Freundin geworden war, und die mit innigster Liebe an diesem
Sorgenkinde hing, ist ihm bald nachgestorben. Der Vater hat
schon früher die Erde verlassen.
Ein gut Teil
meines Jugendlebens ist mit der Aufgabe verknüpft, die mir so
erwachsen war. Ich ging durch mehrere Jahre mit der Familie
der von mir zu erziehenden Kinder jeden Sommer an den Attersee
im Salzkammergute und lernte da die herrliche Alpennatur
Oberösterreichs kennen. Allmählich konnte ich die anfangs
auch noch während dieser Erziehertätigkeit fortgesetzten
Privatstunden bei andern abstreifen; und so blieb mir Zeit
für das Fortführen meiner Studien.
Ich hatte in
meinem Leben, bevor ich in diese Familie eintrat, wenig
Gelegenheit, an kindlichen Spielen teilzunehmen. Und so kam
es, daß meine «Spielzeit» erst in meine zwanziger Jahre
fiel. Ich mußte da auch lernen, wie man spielt. Denn ich
mußte das Spielen leiten. Und ich tat es mit großer
Befriedigung. Ich glaube sogar, ich habe im Leben nicht
weniger gespielt als andere Menschen. Nur habe ich eben
dasjenige, was man sonst vor dem zehnten Lebensjahre nach
dieser Richtung vollbringt, vom drei- bis achtundzwanzigsten
Jahre nachgeholt.
TB 636 (VI.), S
78 ff
Die
Philosophie Eduard von Hartmanns
In
diese Zeit fällt meine Beschäftigung mit der Philosophie Eduard
von Hartmanns. Ich studierte seine «Erkenntnistheorie», indem sich
fortwährender Widerspruch in mir regte. Die Meinung, daß das wahrhaft
Wirkliche als Unbewußtes jenseits der Bewußtseinserlebnisse liege,
und diese nichts weiter sein sollen als ein unwirklicher, bildhafter
Abglanz des Wirklichen, war mir tief zuwider. Ich stellte dem entgegen,
daß die Bewußtseinserlebnisse durch die innerliche Verstärkung des
Seelenlebens in das wahrhaft Wirkliche untertauchen können. Ich
war mir klar darüber, daß sich im Menschen das Göttlich-Geistige
offenbart, wenn der Mensch durch sein Innenleben diese Offenbarung
möglich macht.
Der Pessimismus
Eduard von Hartmanns erschien mir als das Ergebnis einer ganz
falschen Fragestellung an das menschliche Leben. Den Menschen
mußte ich so auffassen, daß er dem Ziele zustrebt, aus dem
Quell seines Innern zu holen, was ihm das Leben zu seiner
Befriedigung erfüllt. Wäre, so sagte ich mir, ein «bestes
Leben» dem Menschen von vorneherein durch die Welteinrichtung
zugeteilt, wie könnte er diesen Quell in sich zum Strömen
bringen? Die äußere Weltordnung gelangt zu einem
Entwickelungsstadium, in dem sie Gutes und Böses an die Dinge
und Tatsachen vergeben hat. Da erwacht erst das Menschenwesen
zum Eigenbewußtsein und führt die Entwickelung weiter, ohne
daß sie von den Dingen und Tatsachen, sondern nur von dem
Quell des Seins die in Freiheit einzuschlagende Richtung
erhält. Schon das Aufwerfen der Pessimismus- oder
Optimismusfrage schien mir gegen die freie Wesenheit des
Menschen zu verstoßen. Ich sagte mir oft: wie könnte der
Mensch der freie Schöpfer seines höchsten Glückes sein,
wenn ihm ein Maß von Glück durch die äußere Weltordnung
zugeteilt wäre?
Dagegen zog
mich Hartmanns Werk «Phänomenologie des sittlichen
Bewußtseins» an. Da, fand ich, wird die sittliche
Entwickelung der Menschheit am Leitfaden des empirisch zu Beobachtenden
verfolgt. Es wird nicht, wie in der Hartmann'schen
Erkenntnistheorie und Metaphysik dies geschieht, die
Gedankenspekulation auf ein jenseits des Bewußten liegendes
unbekanntes Sein gelenkt, sondern es wird, was als
Sittlichkeit erlebt werden kann, in seiner Erscheinung erfaßt.
Und ich war mir klar darüber, daß keine philosophische
Spekulation über die
Erscheinung hinausdenken darf, wenn sie an das wahrhaft
Wirkliche herankommen will. Die Erscheinungen der Welt
offenbaren selbst dieses wahrhaft Wirkliche, wenn sich erst
die bewußte Seele bereit macht, es zu erfassen. Wer nur das
Sinnlich-Ergreifbare in das Bewußtsein aufnimmt, der kann das
wahrhaft Seiende in einem dem Bewußtsein Jenseitigen suchen;
wer das Geistige in der Anschauung erfaßt, der spricht von
ihm als von einem Diesseitigen, nicht von einem Jenseitigen im
erkenntnistheoretischen Sinne. Mir erschien die Betrachtung
der sittlichen Welt bei Hartmann sympathisch, weil er dabei
seinen Jenseitsstandpunkt völlig zurücktreten läßt und
sich an das Beobachtbare hält. Durch die Vertiefung in die
Phänomene bis zu dem Grade, daß sie ihre geistige Wesenheit
enthüllen, wollte ich Erkenntnis des Seienden zustande
gebracht wissen, nicht durch Nachdenken darüber, was
«hinter» den Phänomenen ist.
Da ich stets
darnach strebte, eine menschliche Leistung nach ihrer
positiven Seite zu empfinden, wurde mir Eduard von Hartmanns
Philosophie wertvoll, trotzdem mir gerade ihre Grundrichtung
und ihre Lebensanschauung zuwider war, weil sie vieles in den
Erscheinungen auf eine eindringliche Art beleuchtet. Und ich
fand auch in denjenigen Schriften des «Philosophen des
Unbewußten», die ich im Prinzipe ablehnte, vieles, das mir
außerordentlich anregend war. Und so ging es mir auch mit den
populären Schriften Eduard von Hartmanns, die
kulturhistorische, pädagogische, politische Probleme
behandeln. Ich fand «gesunde» Lebenserfassung bei diesem
Pessimisten, wie ich sie bei manchem Optimisten nicht finden
konnte. Gerade ihm gegenüber empfand ich, was ich brauchte:
anerkennen zu können, auch wenn ich widersprechen mußte.
Ich verbrachte
so manchen Spätabend am Attersee, wenn ich meine Buben sich
selbst überlassen konnte und die Sternenwelt vom
Balkon des Hauses aus bewundert war, mit dem Studium der
«Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins» und dem
«Religiösen Bewußtsein der Menschheit im Stufengange seiner
Entwicklung». Und während ich diese Schriften las, bekam ich
eine immer größere Sicherheit über meine eigenen
erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte.
TB 636 (VI.), S
81 ff
Herausgeber von
Goethes naturwissenschaftlichen Schriften
Auf Schröers
Empfehlung hin lud mich 1882 Joseph Kürschner ein, innerhalb
der von ihm veranstalteten «Deutschen Nationalliteratur»
Goethes naturwissenschaftliche Schriften mit Einleitungen und
fortlaufenden Erklärungen herauszugeben. Schröer, der selbst
für dieses große Sammelwerk die Dramen Goethes übernommen
hatte, sollte den ersten der von mir zu besorgenden Bände mit
einem einführenden Vorworte versehen. Er setzte in diesem
auseinander, wie Goethe als Dichter und Denker innerhalb des
neuzeitlichen Geisteslebens steht. Er sah in der
Weltanschauung, die das auf Goethe folgende
naturwissenschaftliche Zeitalter gebracht hatte, einen Abfall
von der geistigen Höhe, auf der Goethe gestanden hatte. Die
Aufgabe, die mir durch die Herausgabe von Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften zugefallen war, wurde in
umfassender Art in dieser Vorrede charakterisiert.
Für mich
schloß diese Aufgabe eine Auseinandersetzung mit der
Naturwissenschaft auf der einen, mit Goethes ganzer
Weltanschauung auf der ändern Seite ein. Ich mußte, da ich
nun mit einer solchen Auseinandersetzung vor die
Öffentlichkeit zu treten hatte, alles, was ich bis dahin als
Weltanschauung mir errungen hatte, zu einem gewissen Abschluß
bringen.
Ich hatte mich
bis dahin nur in wenigen Zeitungsaufsätzen schriftstellerisch
betätigt. Mir wurde nicht leicht, was in meiner Seele lebte,
in einer solchen Art niederzuschreiben, daß ich diese der
Veröffentlichung wert halten konnte. Ich hatte immer das
Gefühl, daß das im Innern Erarbeitete in einer armseligen
Gestalt erschien, wenn ich es in eine fertige Darstellung
prägen sollte. So wurden mir alle schriftstellerischen
Versuche zu einem fortwährenden Quell innerer Unbefriedigung.
Die
Denkungsart, von der die Naturwissenschaft seit dem Beginn
ihres großen Einflusses auf die Zivilisation des neunzehnten Jahrhunderts
beherrscht war, schien mir ungeeignet, zu einem Verständnisse
dessen zu gelangen, was Goethe für die Naturerkenntnis
erstrebt und bis zu einem hohen Grade auch erreicht hatte.
Ich sah in
Goethe eine Persönlichkeit, welche durch das besondere
geistgemäße Verhältnis, in das sie den Menschen zur Welt
gesetzt hatte, auch in der Lage war, die Naturerkenntnis in
der rechten Art in das Gesamtgebiet des menschlichen Schaffens
hineinzustellen. Die Denkungsart des Zeitalters, in das ich
hineingewachsen war, schien mir nur geeignet, Ideen über die
leblose Natur auszubilden. Ich hielt sie für ohnmächtig, mit
den Erkenntniskräften an die belebte Natur heranzutreten. Ich
sagte mir, um Ideen zu erlangen, welche die Erkenntnis des
Organischen vermitteln können, ist es notwendig, die für die
unorganische Natur tauglichen Verstandesbegriffe erst selbst
zu beleben. Denn sie erschienen mir tot, und deshalb auch nur
geeignet, das Tote zu erfassen.
Wie sich
in Goethes Geist die Ideen belebt haben, wie sie Ideengestaltungen
geworden sind, das versuchte ich für eine Erklärung der
Goethe'schen Naturanschauung darzustellen.
Was Goethe im
einzelnen über dieses oder jenes Gebiet der Naturerkenntnis
gedacht und erarbeitet hatte, schien mir von geringerer
Bedeutung neben der zentralen Entdeckung, die ich ihm
zuschreiben mußte. Diese sah ich darin, daß er gefunden hat,
wie man über das Organische denken müsse, um ihm erkennend
beizukommen.
Ich fand, daß
die Mechanik das Erkenntnisbedürfnis aus dem Grunde
befriedigt, weil sie auf eine rationelle Art im Menschengeiste
Begriffe ausbildet, die sie dann in der Sinnes-Erfahrung des
Leblosen verwirklicht findet. Goethe stand als der Begründer
einer Organik vor mir, die in der gleichen Art sich zu
dem Belebten verhält. Wenn ich in der Geschichte des neueren
Geisteslebens auf Galilei sah, so mußte ich bemerken, wie er
durch die Ausbildung von Begriffen über das Anorganische der
neueren Naturwissenschaft ihre Gestalt gegeben hat. Was er
für das Anorganische geleistet hat, das hat Goethe für das
Organische angestrebt. Mir wurde Goethe zum Galilei der
Organik.
Ich hatte für
den ersten Band der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes
zunächst dessen Metamorphosen-Ideen zu bearbeiten. Es wurde
mir schwer, auszusprechen, wie sich die lebendige
Ideengestalt, durch die das Organische erkannt werden
kann, zu der ungestalteten Idee, die für das Erfassen
des Anorganischen geeignet ist, verhält. Aber es schien mir
für meine Aufgabe alles darauf anzukommen, diesen Punkt in
rechter Art anschaulich zu machen.
Im Erkennen des
Anorganischen wird Begriff an Begriff gereiht, um den
Zusammenhang von Kräften zu überschauen, die eine Wirkung in
der Natur hervorbringen. Dem Organischen gegenüber ist es
notwendig, einen Begriff aus dem ändern so hervorwachsen zu
lassen, daß in der fortschreitenden lebendigen
Begriffsverwandlung Bilder dessen entstehen, was in der
Natur als gestaltete Wesen erscheint. Das hat Goethe dadurch
erstrebt, daß er von dem Pflanzenblatte ein Ideenbild im
Geiste festzuhalten versuchte, das nicht ein starrer, lebloser
Begriff ist, sondern ein solcher, der sich in den
verschiedensten Formen darstellen kann. Läßt man im Geiste
diese Formen auseinander hervorgehen, so konstruiert man die
ganze Pflanze. Man schafft auf ideelle Art den Vorgang in der
Seele nach, durch den die Natur in realer Art die Pflanze
gestaltet.
Sucht man in
dieser Art das Pflanzenwesen zu begreifen, so steht man dem
Natürlichen mit dem Geiste viel näher, als bei dem Erfassen
des Anorganischen mit den gestaltlosen Begriffen. Man erfaßt
für das Anorganische nur ein geistiges Scheinbild dessen, was
auf geistlose Art in der Natur vorhanden ist. In dem Werden
der Pflanze lebt aber etwas, das schon eine entfernte
Ähnlichkeit hat mit dem, was im Menschengeiste als Bild der
Pflanze ersteht. Man wird gewahr, wie die Natur, indem sie das
Organische hervorbringt, selbst geistähnliche Wesenheit in
sich zur Wirkung bringt.
Daß Goethe mit
seiner Metamorphosenlehre die Richtung nahm, die organischen
Naturwirkungen auf geistähnliche Art zu denken, wollte ich in
der Einleitung zu Goethes botanischen Schriften zeigen.
Noch
geistähnlicher erscheinen für Goethes Denkungsart die Wirkungen
in der tierischen Natur und in der natürlichen Unterlage des
Menschenwesens.
In bezug auf
das Tierisch-Menschliche ging Goethe von dem Durchschauen
eines Irrtums aus, den er bei seinen Zeitgenossen bemerkte.
Diese wollten der organischen Grundlage des Menschenwesens
dadurch eine besondere Stellung in der Natur anweisen, daß
sie nach einzelnen Unterscheidungsmerkmalen zwischen Menschen
und Tier suchten. Sie fanden ein solches in dem
Zwischenkieferknochen, den die Tiere haben, und in dem die
oberen Schneidezähne sitzen. Dem Menschen soll ein solcher
besonderer Zwischenknochen im Oberkiefer fehlen. Sein
Oberkiefer soll aus einem Stücke bestehen.
Das erschien
Goethe als ein Irrtum. Für ihn ist die menschliche Gestalt
eine Umwandlung des Tierischen zu einer höheren Stufe. Alles,
was in der tierischen Bildung erscheint, muß auch in der
menschlichen da sein, nur in einer höheren Form, so daß der
menschliche Organismus zum Träger des selbstbewußten Geistes
werden kann.
In der
Erhöhung der Gesamtform des Menschen sieht Goethe dessen
Unterschied vom Tier, nicht im Einzelnen.
Stufenweise
sieht man die organischen Schaffenskräfte geistähnlicher
werden, indem man in der Betrachtung von dem Pflan-zenwesen zu
den verschiedenen Formen des Tierischen aufsteigt. In der
organischen Gestalt des Menschen sind geistige
Schaffenskräfte tätig, die eine höchste Metamorphose der
tierischen Bildung hervorbringen. Diese Kräfte sind im Werden
des menschlichen Organismus vorhanden; und sie leben sich
zuletzt als Menschengeist dar, nachdem sie sich in der
natürlichen Grundlage ein Gefäß gestaltet haben, das sie in
ihrer naturfreien Daseinsform aufnehmen kann.
In dieser
Goethe'schen Anschauung von dem Menschenorganismus erschien
mir alles Berechtigte, was später auf Darwin'-scher Grundlage
über die Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren gesagt
worden ist, schon vorausgenommen. Es erschien mir aber auch
alles Unberechtigte abgewiesen. Die materialistische
Auffassung von dem, was Darwin gefunden hat, führt dazu, aus
der Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren Vorstellungen
zu bilden, die den Geist da verleugnen, wo er im Erdendasein
in seiner höchsten Form, im Menschen erscheint. Die
Goethe'sche Auffassung führt dazu, in der tierischen
Gestaltung eine Geistschöpfung zu sehen, die nur noch nicht
die Stufe erreicht hat, auf welcher der Geist als solcher leben
kann. Was im Menschen als Geist lebt, das schafft
in der tierischen Form auf einer Vorstufe; und es
verwandelt diese Form am Menschen so, daß es nicht nur als
Schaffendes, sondern auch als sich selbst Erlebendes
erscheinen kann.
So angesehen,
wird die Goethe'sche Naturbetrachtung eine solche, die, indem
sie das natürliche Werden vom Anorganischen zu dem
Organischen stufenweise verfolgt, die Naturwissenschaft
allmählich in eine Geisteswissenschaft überführt. Dies
darzustellen, darauf kam es mir bei Ausarbeitung des ersten
Bandes der Goethe'schen naturwissenschaftlichen Schriften vor
allem an. Ich ließ daher meine Einleitung in eine Erklärung
darüber ausklingen, wie der Darwinismus in materialistischer
Färbung eine einseitige Anschauung bildet, die an der
Goethe'schen Denkungsart gesunden müsse.
Wie man
erkennen müsse, um
in die Erscheinungen des Lebens einzudringen, das wollte ich
in der Betrachtung der Goethe'schen Organik zeigen. Ich
fühlte bald, daß diese Betrachtung einer sie stützenden
Grundlage bedürfe. Das Wesen des Erken-nens wurde damals von
meinen Zeitgenossen in einer Art dargestellt, die nicht an
Goethes Anschauung herankommen konnte. Die
Erkenntnistheoretiker hatten die Naturwissenschaft, wie sie in
jener Zeit war, vor Augen. Was sie über das Wesen der
Erkenntnis sagten, galt nur für das Erfassen der
anorganischen Natur. Es konnte keinen Zusammenklang geben
zwischen dem, was ich über Goethes Erkenntnisart sagen mußte,
und den gebräuchlichen Erkenntnistheorien der damaligen Zeit.
Deshalb trieb
mich das, was ich in Anlehnung an Goethes Organik dargestellt
hatte, neuerdings an die Erkenntnistheorie heran. Vor mir
standen Ansichten wie die Otto Liebmanns, die in den
verschiedensten Formen den Satz aussprachen, das menschliche
Bewußtsein könne aus sich niemals heraus; es müsse sich
.dabei bescheiden, in dem zu leben, was ihm die Wirklichkeit
in die
menschliche Seele hereinschickt und was in ihm in geistiger
Form sich darstellt. Sieht man die Sache so an, dann kann man
nicht davon sprechen, daß man Geistverwandtes in der
organischen Natur in Goethe'scher Art findet. Man muß den
Geist innerhalb des menschlichen Bewußtseins suchen und eine
geistgemäße Naturbetrachtung als unzulässig ansehen.
Ich fand, es
gibt für die Goethe'sche Erkenntnisart keine
Erkenntnistheorie. Das führte mich dazu, den Versuch zu
machen, eine solche wenigstens andeutungsweise auszuführen.
Ich schrieb meine «Erkenntnistheorie der Goethe'schen
Weltanschauung» aus einem inneren Bedürfnisse heraus, bevor
ich daran ging, die weiteren Bände der
naturwissenschaftlichen Schriften Goethes zu bearbeiten. Das
Büchelchen wurde 1886 fertig.
TB 636 (VI.), S
83 ff
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