1888
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Äußere
Geselligkeit - Innere Einsamkeit
In dieser Zeit
— um 1888 herum — ward ich auf der einen Seite zur
scharfen geistigen Konzentration durch mein inneres
Seelenleben gedrängt; auf der ändern stellte mich das Leben
in einen ausgebreiteten geselligen Verkehr hinein. In meinem
Innern ergab sich durch die ausführliche Einleitung, die ich
zum zweiten Bande der von mir herauszugebenden
naturwissenschaftlichen Werke Goethes zu schreiben hatte, die
Nötigung, meine Anschauung von der geistigen Welt in die Form
einer gedanklich durchsichtigen Darstellung zu bringen. Das
erforderte eine innere Abgezogenheit von allem, womit ich
durch das äußere Leben verbunden war. Ich verdanke dem
Umstände viel, daß mir diese Abgezogenheit möglich war. Ich
konnte damals in einem Kaffeehause sitzen, um mich herum das
lebhafteste Treiben haben, und doch im Innern ganz still sein,
die Gedanken darauf gewandt, im Konzept niederzuschreiben, was
dann in die erwähnte Einleitung übergegangen ist. So führte
ich ein inneres Leben, das in gar keinem Zusammenhange stand
mit der Außenwelt, in die meine Interessen doch wieder
intensiv verflochten waren.
Es war das die
Zeit, in der sich in dem damaligen Österreich diese
Interessen den krisenhaften Erscheinungen zuwenden mußten,
die in den öffentlichen Angelegenheiten sich offenbarten.
Persönlichkeiten, mit denen ich viel verkehrte, widmeten ihre
Arbeit und Kraft den Auseinandersetzungen, die sich zwischen
den Nationalitäten Österreichs vollzogen. Andere
beschäftigten sich mit der sozialen Frage. Wieder andere
standen in Bestrebungen nach einer Verjüngung des
künstlerischen Lebens darinnen.
Wenn ich mit
meiner Seele in der geistigen Welt lebte, dann hatte ich oft
die Empfindung, daß alle diese Zielsetzungen in ein
Unfruchtbares auslaufen müßten, weil sie es doch vermieden,
an die geistigen Kräfte des Daseins heranzutreten. Die
Besinnung auf diese geistigen Kräfte schien mir das zuerst
Notwendige. Ein deutliches Bewußtsein davon aber konnte ich
in dem geistigen Leben nicht finden, das mich umgab.
TB 636 (VIII.), S
104
Robert
Hamerlings «Homunculus»
Es erschien
damals Robert Hamerlings satyrisches Epos «Homunculus». In
diesem ward der Zeit ein Spiegel vorgehalten, aus dem ihr
Materialismus, ihre dem Äußerlichen des Lebens zugewandten
Interessen in beabsichtigt karikaturenhaften Bildern
erschienen. Der Mann, der nur noch in
mechanistisch-materialistischen Vorstellungen und
Betätigungen leben kann, geht eine Verbindung ein mit dem
Weibe, das sein Wesen nicht in einer wirklichen, sondern in
einer phantastischen Welt hat. Die zwei Seiten, in denen sich
die Zivilisation verbildet hatte, wollte Hamerling treffen.
Auf der einen Seite stand ihm das geistlose Streben, das die
Welt als einen Mechanismus dachte und das Leben
maschinenmäßig gestalten wollte; auf der ändern die
seelenlose Phantastik, die gar kein Interesse daran hat, daß
ihr geistiges Scheinleben in irgend eine wahrhaftige Beziehung
zur Wirklichkeit kommt.
Das Groteske
der Bilder, in denen Hamerling malte, stieß viele ab, die
seine Verehrer durch seine früheren Werke geworden waren.
Auch in dem Hause delle Grazies, in dem man vorher in
restloser Bewunderung Hamerlings lebte, wurde man bedenklich,
als dieses Epos erschien.
Auf
mich aber machte der «Homunculus» doch einen sehr tiefen Eindruck.
Er zeigte, so schien es mir, die Kräfte, die als geist-verfinsternd
in der modernen Zivilisation walten. Ich fand in ihm eine ernste
Mahnung an die Zeit. Aber ich hatte auch Schwierigkeiten, eine Stellung
zu Hamerling zu gewinnen. Und das Erscheinen des «Homunculus» vermehrte
in meiner Seele zunächst die Schwierigkeiten. Ich sah in Hamerling
eine Persönlichkeit, die mir in einer besondern Art selbst eine
Offenbarung der Zeit war. Ich blickte zurück auf die Zeit, in der
Goethe und die mit ihm Wirkenden den Idealismus auf eine menschenwürdige
Höhe gebracht hatten. Ich erkannte die Notwendigkeit, durch das
Tor dieses Idealismus in die wirkliche Geistwelt einzudringen. Mir
erschien dieser Idealismus als der herrliche Schatten, den nicht
die Sinnenwelt hinein in die Seele des Menschen wirft, sondern als
derjenige, der aus einer geistigen Welt in das Innere des Menschen
fällt, und der eine Aufforderung darstellt, von dem Schatten aus
die Welt zu erreichen, die den Schatten wirft.
Ich liebte
Hamerling, der in so gewaltigen Bildern den idealistischen
Schatten gemalt hatte. Aber es war mir eine tiefe Entbehrung,
daß er dabei stehen blieb. Daß sein Blick weniger nach
vorwärts auf das Durchbrechen zu einer neuen Form der
wirklichen Geistwelt gerichtet war, als nach rückwärts, auf
den Schatten einer durch den Materialismus zerschlagenen
Geistigkeit. Dennoch zog mich der «Homunculus» an. Zeigte er
nicht, wie man in die geistige Welt eindringt, so stellte er
doch dar, wohin man kommt, wenn man sich allein in einer
geistlosen bewegen will.
TB 636 (VIII.), S
104 ff
Die Beschäftigung mit
dem «Homunculus» fiel für mich in eine Zeit, in der ich dem Wesen
des künstlerischen Schaffens und der Schönheit nachsann. Was mir
damals durch die Seele zog, hat seinen Niederschlag in der kleinen
Schrift
«Goethe als Vater einer neuen Ästhetik»
gefunden, die einen Vortrag wiedergibt, den ich im Wiener Goethe-Verein
gehalten habe. Ich wollte die Ursachen finden, warum der Idealismus
einer mutigen Philosophie, die in Fichte und Hegel so eindringlich
gesprochen hatte, doch nicht bis zum lebendigen Geiste hat vordringen
können. Von den Wegen, die ich ging, um diese Ursachen zu finden,
war einer das Nachsinnen über die Irrtümer der bloß idealistischen
Philosophie auf ästhetischem Gebiete. Hegel und die, die ähnlich
wie er dachten, fanden den Inhalt der Kunst in dem sinnlichen Erscheinen
der «Idee». Wenn die «Idee» im sinnlichen Stoffe erscheint, so offenbart
sie sich als das Schöne. Dies war ihre Ansicht. Aber die auf diesen
Idealismus folgende Zeit wollte ein Wesenhaftes der «Idee» nicht
mehr anerkennen. Weil die Idee der idealistischen Weltanschauung,
so wie sie im Bewußtsein der Idealisten lebte, nicht auf eine Geistwelt
hinwies, konnte sie sich bei den Nachfolgern nicht als etwas behaupten,
das Wirklichkeitswert hatte. Und so entstand die «realistische»
Ästhetik, die nicht auf das Scheinen der Idee im sinnlichen Bilde
beim Kunstwerk hinsah, sondern nur auf das sinnliche Bild, das aus
den Bedürfnissen der Menschennatur heraus im Kunstwerk eine unwirkliche
Form annimmt.
Ich
wollte im Kunstwerk als das Wesentliche dasjenige ansehen, was
den Sinnen erscheint. Aber mir zeigte sich der Weg, den der
wahre Künstler in seinem Schaffen geht, als ein Weg zum
wirklichen Geiste. Er geht aus von dem, was sinnlich
wahrnehmbar ist; aber er gestaltet dieses um. Bei dieser
Umgestaltung läßt er sich nicht von einem bloß subjektiven
Drang leiten, sondern er sucht dem sinnlich Erscheinenden eine
Form zu geben, die es so zeigt, als ob das Geistige selbst da
stehe. Nicht die Erscheinung der Idee in der Sinnenform ist
das Schöne, so sagte ich mir, sondern die Darstellung des
Sinnlichen in der Form des Geistes. So erblickte ich in dem
Dasein der Kunst ein Hereinstellen der Geist-Welt in die
sinnliche. Der wahre Künstler bekennt sich mehr oder weniger
unbewußt zum Geiste. Und es bedarf nur - so sagte ich mir
damals immer wieder - der Umwandlung derjenigen Seelenkräfte,
die im Künstler an dem sinnlichen Stoffe wirken, zu einem
sinnenfreien, rein geistigen Anschauen, um in die Erkenntnis
der geistigen Welt einzudringen. Es gliederten sich mir
dazumal die wahre Erkenntnis, die Erscheinung des Geistigen in
der Kunst und das sittliche Wollen im Menschen zu einem Ganzen
zusammen. In der menschlichen Persönlichkeit mußte ich einen
Mittelpunkt sehen, in dem diese ganz unmittelbar mit dem
ursprünglichsten Wesen der Welt zusammenhängt. Aus diesem
Mittelpunkt heraus quillt das Wollen. Und wirkt in dem
Mittelpunkt das klare Licht des Geistes, so wird das Wollen
frei. Der Mensch handelt dann in Übereinstimmung mit der
Geistigkeit der Welt, die nicht aus einer Notwendigkeit,
sondern nur in der Verwirklichung des eigenen Wesens
schöpferisch wird. In diesem Mittelpunkte des Menschen werden
nicht aus dunklen Antrieben heraus, sondern aus «moralischen
Intuitionen» Tatenziele geboren, aus Intuitionen, die in sich
so durchsichtig sind wie die durchsichtigsten Gedanken. So
wollte ich durch das Anschauen des freien Wollens den Geist
finden, durch den der Mensch als Individualität in der Welt ist.
Durch die Empfindung des wahren Schönen wollte ich den
Geist schauen, der durch den Menschen wirkt, wenn er im
Sinnlichen sich so betätigt, daß er sein eigenes Wesen nicht
bloß geistig als freie Tat darstellt, sondern so, daß dieses
sein Geisteswesen hinausfließt in die Welt, die zwar aus dem
Geiste ist, aber diesen nicht unmittelbar offenbart. Durch die
Anschauung des Wahren wollte ich den Geist erleben, der
sich in seinem eigenen Wesen offenbart, dessen geistiger
Abglanz die sittliche Tat ist, und zu dem das künstlerische
Schaffen durch das Gestalten einer sinnlichen Form hinstrebt.
Eine «Philosophie
der Freiheit», eine Lebensansicht von der
geistdurstenden, in Schönheit strebenden Sinneswelt, eine
geistige Anschauung der lebendigen Wahrheitswelt schwebte vor
meiner Seele.
TB 636 (VIII.), S
106 ff
Begegnungen im Haus
des evangelischen Pfarrers Alfred Formey
Christine Hebbel
Es war auch im
Jahre 1888, als ich in das Haus des Wiener evangelischen
Pfarrers Alfred Formey eingeführt wurde. Einmal in der
Woche versammelte sich dort ein Kreis von Künstlern und
Schriftstellern. Alfred Formey war selbst als Dichter
aufgetreten. Fritz Lemmermayer charakterisierte ihn aus
Freundesherzen heraus so: «Warmherzig, innig in der
Naturempfindung, schwärmerisch, trunken fast im Glauben an
Gott und Seligkeit, so dichtet Alfred Formey in weichen,
brausenden Akkorden. Es ist, als ob sein Schritt nicht die
harte Erde berührte, sondern als ob er hoch in den Wolken
hindämmerte und träumte.» Und so war Alfred Formey auch als
Mensch. Man fühlte sich recht erdentrückt, wenn man in
dieses Pfarrhaus kam und zunächst nur der Hausherr und die
Hausfrau da waren. Der Pfarrer war von kindlicher
Frömmigkeit; aber die Frömmigkeit ging in seinem warmen
Gemüte auf die selbstverständlichste Art in lyrische
Stimmung über. Man war sogleich von einer Atmosphäre von
Herzlichkeit umgeben, wenn Formey nur einige Worte gesprochen
hatte. Die Hausfrau hatte den Bühnenberuf mit dem Pfarrhaus
vertauscht. Kein Mensch konnte in der liebenswürdigen, die
Gäste mit hinreißender Anmut bewirtenden Pfarrerin die
frühere Schauspielerin entdecken. Den Pfarrer pflegte sie
fast mütterlich; und mütterliche Pflege war fast jedes Wort,
das man sie zu ihm sprechen hörte. In den beiden
kontrastierte in einer entzückenden Art Anmut der Seele mit
einer äußerst stattlichen Erscheinung. In die weltfremde
Stimmung dieses Pfarrhauses brachten nun die Gäste «Welt»
aus allen geistigen Windrichtungen hinein. Da erschien von
Zeit zu Zeit die Witwe Friedrich Hebbels. Ihr Erscheinen
bedeutete jedesmal ein Fest. Sie entfaltete im hohen Alter
eine Kunst der Deklamation, die das Herz in seliges Entzücken
versetzte und den Kunstsinn völlig gefangen nahm.
Und wenn Christine Hebbel erzählte, dann war der ganze Raum
von Seelenwärme durchdrungen. An diesen Formey-Abenden lernte
ich auch die Schauspielerin Willborn kennen. Eine interessante
Persönlichkeit, mit glänzender Stimme als Deklamatorin.
Lenaus «Drei Zigeuner» konnte man von ihr immer wieder mit
erneuter Freude hören. Es kam bald dazu, daß der Kreis, der
sich bei Formey zusammengefunden hatte, sich auch ab und zu
bei Frau Willborn versammelte. Aber wie anders war es da.
Weltfreudig, lebenslustig, humorbedürftig wurden da dieselben
Menschen, die im Pfarrhause selbst noch ernst blieben, wenn
der «Wiener Volksdichter» Friedrich Schlögl seine lustigen
Schnurren vorlas. Der hatte, zum Beispiel, als in Wien die
Leichenverbrennung in einem engen Kreise eingeführt wurde,
ein «Feuilleton» geschrieben. Da erzählte er, wie ein Mann,
der seine Frau in einer etwas «derben» Art liebte, ihr bei
jeder Gelegenheit, die ihm nicht paßte, zurief: «Alte, los
di verbrenna!» Bei Formey machte man über eine solche Sache
Bemerkungen, die eine Art kulturgeschichtlichen Kapitels über
Wien waren; bei Willborn lachte man, daß die Stühle
klapperten. Formey sah bei der Willborn wie ein Weltmann aus;
die Willborn bei Formey wie eine Äbtissin. Man konnte die
eingehendsten Studien über die Verwandlung der Menschen bis
in den Gesichtsausdruck hinein machen.
Bei Formey
verkehrte auch Emilie Mataja, die unter dem Namen Emil Marriot
ihre von eindringlicher Lebensbeobachtung getragenen Romane
schrieb. Eine faszinierende Persönlichkeit, die in ihrer
Lebensart die Härten des Menschendaseins anschaulich, genial,
oft aufreizend offenbarte. Eine Künstlerin, die das Leben
darzustellen versteht, wo es seine Rätsel in den Alltag
hineinwirft, wo es seine Schicksalstragik zermalmend über
Menschen hinwirft.
Da waren auch
öfters die vier Damen des österreichischen Damenquartetts
Tschempas zu hören; da rezitierte Fritz Lemmermayer
melodramatisch zu Alfred Stroß' feurigem Klavierspiel
wiederholt Hebbels «Heideknaben».
Ich liebte
dieses Pfarrhaus, in dem man soviel Wärme finden konnte. Es
war da edelstes Menschentum wirksam.
TB 636 (VIII.), S
108 f
Redakteur
der «Deutschen Wochenschrift»
In derselben
Zeit fand es sich, daß ich mich in eingehender Art mit den
öffentlichen Angelegenheiten Österreichs beschäftigen
mußte. Denn mir wurde 1888 für kurze Zeit die Redaktion der
«Deutschen Wochenschrift» übertragen. Diese Zeitschrift war
von dem Historiker Heinrich Friedjung begründet worden. Meine
kurze Redaktion fiel in die Zeit, in der die
Auseinandersetzung der Völker Österreichs einen besonders
heftigen Charakter angenommen hatte. Es wurde mir nicht
leicht, jede Woche einen Artikel über die öffentlichen
Vorgänge zu schreiben. Denn im Grunde stand ich aller
parteimäßigen Lebensauffassung so fern als nur möglich.
Mich interessierte der Entwickelungsgang der Kultur im
Menschheitsfortschritt. Und ich mußte den sich daraus
ergebenden Gesichtspunkt so einnehmen, daß unter seiner
vollen Wahrung meine Artikel doch nicht als die eines
«weltfremden Idealisten» erschienen. Dazu kam, daß ich in
der damals in Österreich besonders durch den Minister Gautsch
eingeleiteten «Unterrichtsreform» eine Schädigung der
Kulturinteressen sah. Auf diesem Gebiete wurden meine
Bemerkungen einmal sogar Schröer, der immerhin für
parteiliche Betrachtung viel Sympathie hatte, bedenklich. Ich
lobte die sachgemäßen Einrichtungen, die der
katholisch-klerikale Minister Leo Thun schon in den fünfziger
Jahren für die österreichischen Gymnasien getroffen hatte,
gegenüber den unpädagogischen Maßnahmen von Gautsch. Als
Schröer meinen Artikel gelesen hatte, sagte er: Wollen Sie
denn wieder eine klerikale Unterrichtspolitik in Österreich?
Für mich war
diese kurze Redaktionstätigkeit doch von großer Bedeutung.
Sie lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Stil, mit dem man
damals in Österreich die öffentlichen Angelegenheiten
behandelte. Mir war dieser Stil tief unsympathisch. Ich wollte
auch in die Besprechungen über diese Angelegenheiten etwas
hineinbringen, das einen die großen geistigen und
menschheitlichen Ziele in sich schließenden Zug hatte. Diesen
vermißte ich in der damaligen Tagesschriftstellerei. Wie
dieser Zug zur Wirksamkeit zu bringen sei, das war damals
meine tägliche Sorge. Und Sorge mußte es sein, denn ich
hatte nicht die Kraft, die eine reiche Lebenserfahrung auf
diesem Gebiete hätte geben können.
Ich war im
Grunde ganz unvorbereitet in diese Redaktionstätigkeit
hineingekommen. Ich glaubte zu sehen, wohin auf den
verschiedensten Gebieten zu steuern war; aber ich hatte die
Formulierungen nicht in den Gliedern, die den Lesern der
Zeitungen einleuchtend sein konnten. So war denn das
Zustandekommen jeder Wochennummer für mich ein schweres
Ringen.
Und so fühlte
ich mich denn wie von einer großen Last befreit, als diese
Tätigkeit dadurch ein Ende fand, daß der damalige Besitzer
der Wochenschrift mit dem Begründer derselben in einen Streit
über den Kaufschilling verwickelt wurde.
Doch brachte
mich diese Tätigkeit in eine ziemlich enge Beziehung zu
Persönlichkeiten, deren Tätigkeit auf die mannigfaltigsten
Zweige des öffentlichen Lebens gerichtet war. Ich lernte
Viktor Adler kennen, der damals der unbestrittene Führer der
Sozialisten in Österreich war. In dem schmächtigen,
anspruchslosen Mann steckte ein energischer Wille. Wenn er am
Kaffeetisch sprach, hatte ich stets das Gefühl: der Inhalt
dessen, was er sagte, sei unbedeutend, alltäglich, aber so
spricht ein Wille, der durch nichts zu beugen ist. Ich lernte
Pernerstorfer kennen, der sich in der Umwandlung vom
deutschnationalen zum sozialistischen Parteigänger befand.
Eine starke Persönlichkeit von umfassendem Wissen. Ein
scharfer Kritiker der Schäden des öffentlichen Lebens. Er
gab damals eine Monatsschrift «Deutsche Worte» heraus. Die
war mir eine anregende Lektüre. In der Gesellschaft dieser
Persönlichkeiten traf ich andere, die wissenschaftlich oder
parteigemäß den Sozialismus zur Geltung bringen wollten.
Durch sie wurde ich veranlaßt, mich mit Karl Marx, Friedrich
Engels, Rodbertus und anderen sozialökonomischen
Schriftstellern zu befassen. Ich konnte zu alledem ein inneres
Verhältnis nicht gewinnen. Es war mir persönlich
schmerzlich, davon sprechen zu hören, daß die
materiell-ökonomischen Kräfte in der Geschichte der
Menschheit die eigentliche Entwickelung tragen und das
Geistige nur ein ideeller Überbau dieses «wahrhaft realen»
Unterbaues sein sollte. Ich kannte die Wirklichkeit des
Geistigen. Es waren die Behauptungen der theoretisierenden
Sozialisten für mich das Augen-Verschließen vor der wahren
Wirklichkeit.
Und dabei ward
mir doch klar, daß die «soziale Frage» selbst eine
unbegrenzte Bedeutung habe. Es erschien mir aber als die
Tragik der Zeit, daß sie behandelt wurde von
Persönlichkeiten, die ganz von dem Materialismus der
zeitgenössischen Zivilisation ergriffen waren. Ich hielt
dafür, daß gerade diese Frage nur von einer
geistgemäßen Weltauffassung richtig gestellt werden könne.
So war ich denn
als Siebenundzwanzigjähriger voller «Fragen» und
«Rätsel» in bezug auf das äußere Leben der Menschheit,
während sich mir das Wesen der Seele und deren Beziehung zur
geistigen Welt in einer in sich geschlossenen Anschauung in
immer bestimmteren Formen vor das Innere gestellt hatte. Ich
konnte zunächst nur aus dieser Anschauung heraus geistig
arbeiten. Und diese Arbeit nahm immer mehr die Richtung, die
dann einige Jahre später mich zur Abfassung meiner «Philosophie
der Freiheit» geführt hat.
TB 636 (VIII.), S
110 ff
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