Sokrates: Eins, zwei, drei - wo aber bleibt uns denn
der Vierte, mein lieber Timaios, von denen, welche
gestern bewirtet wurden, jetzt aber selber bewirten
sollen?
Timaios: Es hat ihn gewiß irgend eine Unpäßlichkeit
befallen, lieber Sokrates, denn aus freien Stücken
würde er wohl nicht aus dieser Gesellschaft wegbleiben.
Sokrates: Demnach dürfte es denn deine Aufgabe und
die der Übrigen sein, hier auch die Stelle des Abwesenden auszufüllen?
Timaios: Gewiß, und wir werden es in nichts daran
fehlen lassen, soweit es in unseren Kräften steht.
Denn nachdem wir gestern von dir mit allem, was
sich geziemt, gastfreundlich bewirtet worden sind,
wäre es nicht recht, wenn wir anderen dich nicht
bereitwillig wiederbewirten wollten.
Sokrates: Nun denn, erinnert ihr euch noch, wieviel
und worüber ich euch zu sprechen aufgab?
Timaios: Zum Teil erinnern wir uns dessen noch; was
uns aber entfallen ist, an das uns wieder zu erinnern bist du ja da. Oder lieber, wenn es dir nicht
lästig ist, wiederhole es uns von Anfang an in der
Kürze noch einmal, damit es sich besser in uns
befestige!
Sokrates: Das soll geschehen. Der Hauptinhalt meiner gestrigen Erörterungen über den Staat war
ungefähr dieser, wie und aus was für Männern er sich
nach meiner Meinung am besten gestalten würde.
Timaios: Ja, und zwar ganz nach unser aller Sinne
stelltest du ihn dar.
Sokrates: Schieden wir nun nicht zuerst in ihm den
Beruf der Landbauer und alle andern Gewerbe von
der Klasse derer, denen die Kriegführung für alle
obliegen sollte?
Timaios: Ja.
Sokrates: Und indem wir je nach seiner Naturbeschaffenheit einem jeden nur die eine, ihm allein
angemessene Beschäftigung [und einem jeden nach
seiner Art sein Gewerbe] zuerteilten, erklärten wir,
daß diejenigen, welche für alle in den Krieg ziehen
sollten, auch nichts weiter als Wächter des Staates
sein dürften, wenn etwa einer von außen her oder
auch einer von den Einwohnenden käme, um ihm
zu schaden, und zwar so, daß sie dabei die von
ihnen Beherrschten als ihre natürlichen Freunde
milde richten, denen aber, welche ihnen in den
Schlachten als Feinde begegneten, hart zusetzen
sollten.
Timaios: Allerdings.
Sokrates: Denn die Seelen der Wächter müßten - so,
denke ich, sagten wir - eine gewisse zugleich willenskräftige, zugleich aber auch ganz vorzüglich
zur richtigen Erkenntnis hinstrebende Natur besitzen, damit sie gegen jeden von beiden Teilen mild
oder hart zu sein vermöchten.
Timaios: Jawohl.
Sokrates: Und dann, was ihre Erziehung anlangte,
sagten wir da nicht, daß sie im Turnen und in der
Tonkunst und in allen für sie erforderlichen Zweigen des Wissens gebildet werden müßten?
Timaios: Freilich.
Sokrates: Und wenn sie dann so gebildet wären - so
etwa fuhren wir fort -, sollten sie weder Gold noch
Silber noch überhaupt irgend etwas anderes jemals
als ihr ausschließliches Eigentum ansehen dürfen,
sondern als Beschützer von ihren Schützlingen für
deren Bewachung einen Sold von der Größe empfangen, wie sie zu einem mäßigen Leben hinreicht,
und sollten diesen dann gemeinsam mit einander
verzehren und zusammenspeisend mit einander
leben und ihr Streben durchaus allein auf die Tugend richten, von allen andern Geschäften aber
befreit sein.
Timaios: Auch das ward so festgesetzt.
Sokrates: Und was dann ferner ihre Frauen anbetrifft,
so gedachten wir doch auch dessen, daß man nur
solche von ähnlicher Beschaffenheit ihnen
zugesellen dürfe, und daß man ihnen in bezug auf
den Krieg sowie auf die übrige Lebensweise allen
ganz die nämlichen Beschäftigungen zuerteilen
müßte.
Timaios: In dieser Weise ward auch dieses ausgemacht.
Sokrates: Was stellten wir denn ferner hinsichtlich
der Kinderzeugung fest? Doch das ist wohl schon
wegen der Ungewöhnlichkeit dessen, was darüber
angeordnet ward, leicht zu behalten, daß wir nämlich alles, was Ehen und Kinder anlangt, allen
insgesamt gemeinschaftlich machten, indem wir Anstalten dafür treffen ließen, daß keiner jemals seine
Abkömmlinge vor denen der andern heraus erkennen könnte, sondern alle sie insgesamt als von
gleicher Abkunft betrachten würden, nämlich als
Schwestern und Brüder, soweit sie innerhalb des
passenden Alters geboren wären, die aber ein Menschenalter vorher und noch weiter zurück
Geborenen als Eltern und Großeltern, und die in absteigender Linie Geborenen als Kinder und
Kindeskinder.
Timaios: Ja, und es ist dies, wie du sagst, leicht zu
behalten.
Sokrates: Damit sie nun aber gleich mit so vortrefflicher Naturanlage als möglich geboren würden, -
erinnern wir uns nicht, daß wir zu diesem Zwecke
festsetzten, es müßten die Vorsteher und Vorsteherinnen des Staates für die Schließung der Ehen
vermittelst gewisser Lose die Einrichtung treffen, daß
die Guten und die Schlechten gesondert von einander beide mit Frauen von gleicher Beschaffenheit
zusammenkämen und daß so deswegen keine
Feindschaft unter ihnen entstände, indem sie vielmehr den Zufall als die Ursache der jedesmaligen
Verbindung ansähen?
Timaios: Wir erinnern uns dessen.
Sokrates: Und doch wohl auch dessen, daß wir feststellten, daß die Kinder der Guten aufgezogen, die
der Schlechten aber heimlich unter die übrigen Angehörigen des Staates verteilt werden müßten, und
wie die Staatsvorsteher dann die Heranwachsenden
zu beobachten und die Würdigen von ihnen wieder
in ihren Geburtsstand zurückzuversetzen, die Unwürdigen innerhalb dieses letzteren selbst aber in
den Platz dieser Wiederhinaufgerückten einzustellen hätten?
Timaios: Freilich.
Sokrates: Nun hätten wir denn wohl alles ebenso wie
gestern bereits wieder durchgegangen, soweit dies
für eine Wiederholung in den Hauptzügen erforderlich, oder vermissen wir, mein lieber Timaios, noch
irgend etwas von dem Gesagten, was wir etwa
übergangen hätten?
Timaios: Nein, sondern gerade dies war sein Inhalt.
Sokrates: Hört nun ferner, wie es mir in bezug auf
diesen Staat, wie wir ihn entwickelt haben, geht:
Ich habe nämlich ungefähr dieselbe Empfindung
dabei, wie wenn einer schöne Tiere sieht, sei es
bloß gemalte, sei es auch wirklich lebende, die sich
aber in Ruhe verhalten, und ihn dann das Verlangen ankommt, sie auch in Bewegung zu erblicken
und etwas von den Eigenschaften, welche belebten
Körpern zukommen, im Kampfe erproben zu
sehen. Ebenso also geht es mir mit dem von uns
entwickelten Staate. Denn gerne möchte ich jemanden darstellen hören, wie er diejenigen Kämpfe,
welche einem Staate zukommen, gegen andere
Staaten bestehen würde, indem er auf eine würdige
Weise zum Kriege geschritten wäre und nunmehr
während desselben das der in ihm herrschenden Erziehung und Bildung Entsprechende sowohl in der
Ausführung durch Taten als in der Verhandlung in
Worten dem jedesmaligen anderen Staate gegenüber leisten würde. Hierin nun, mein Kritias und
Hermokrates, bin ich mir selber bewußt, daß ich
niemals imstande sein werde, den Staat und die
Männer gebührend zu verherrlichen. Und was mich
betrifft, so ist das kein Wunder; aber ich habe dieselbe Meinung auch von den vormaligen sowie von
den jetzt lebenden Dichtern gewonnen: nicht als ob
ich damit das Geschlecht der Dichter herabsetzen
wollte; vielmehr ist es jedem klar, daß alles, was zu
der Klasse der nachahmenden Künstler gehört, dasjenige am leichtesten und besten nachahmen wird,
worin ein jeder auferzogen ward, und daß es dagegen für einen jeden schwer ist, dasjenige, was
außerhalb seines Bildungskreises liegt, in den Taten,
noch schwerer aber, es in den Worten gut nachzuahmen. Das Geschlecht der Sophisten aber
wiederum halte ich zwar für sehr erfahren in Reden und
vielen anderen schönen Dingen, fürchte aber, weil
es in den Staaten umherzieht und nirgends eigene
Wohnsitze hat, daß es unfähig sei, das Richtige zu
treffen, wenn es sich darum handelt, wieviel und
welcherlei wissenschaftliche und zugleich staatskluge Männer in Kampf und Schlachten, sowie in
der jedesmaligen Unterhandlung, in Tat und Wort
zur Ausführung bringen dürften. So bleiben denn
nur noch die Leute eures Schlages übrig, welche
beides zugleich, und zwar durch Anlage und durch
Bildung, sind. Denn Timaios hier ist aus dem italischen Lokris gebürtig, welches sich der
vortrefflichsten Verfassung erfreut, steht keinem von seinen Landsleuten an Vermögen und Herkunft nach
und hat dabei einerseits die höchsten Ämter und
Ehrenstellen im Staate bekleidet, andererseits in
allem, was nur wissenschaftliches Streben heißt,
nach meinem Dafürhalten das Höchste erreicht.
Von dem Kritias aber wissen wir Athener es ja alle,
daß ihm nichts von den Dingen, um welche es hier
sich handelt, fremd ist, und ebenso darf man es von
der Naturanlage wie der Bildung des Hermokrates
glauben, daß sie ihnen allen gewachsen sei, da dies
von so vielen Seiten bezeugt wird. Dies erwog ich
auch schon gestern, und als ihr mich daher batet,
das Wesen des Staates zu erörtern, so ging ich
gerne darauf ein, weil ich wußte, daß niemand geschickter als ihr, wenn ihr wolltet, dazu sein würde,
die Fortsetzung hierzu zu liefern; denn darzustellen, wie der Staat zu einem seiner würdigen Kriege
schreiten und sodann in allem auf die ihm zukommende Weise handeln würde, dürftet ihr allein von
allen, die jetzt leben, geeignet sein. Nachdem ich
mich daher dessen entledigt, was ihr mir aufgetragen, trug ich euch denn hinwiederum das eben
Erwähnte auf. Ihr nun setztet nach gemeinschaftlicher
Beratung auf heute meine Gegenbewirtung durch
Reden fest, und da bin ich denn nun, gerüstet und
ganz gewärtig, sie zu empfangen. Hermokrates: Und wir unsererseits, lieber Sokrates,
wie es schon unser Timaios hier sagte, werden es
gewiß an gutem Willen nicht fehlen lassen; auch
haben wir so wenig einen Vorwand, uns dem zu
entziehen, daß wir schon gestern, gleich als wir von
hier in das Gastzimmer beim Kritias, wo wir wohnen, eingetreten waren, und noch vorher auf dem
Wege dahin, eben den betreffenden Gegenstand mit
einander betrachtet haben. Da trug uns denn nun
unser Wirt eine Geschichte aus alter Überlieferung
vor, und - dieselbe, lieber Kritias, könntest du nun
auch dem Sokrates mitteilen, auf daß auch er mit
uns prüfe, ob sie zur Erfüllung des uns Aufgetragenen etwas Geeignetes enthält oder nicht.
Kritias: Das mag geschehen, wenn es auch den Timaios, als unsern dritten Gesprächsgenossen, also
gut dünkt.
Timaios: Ich bin damit einverstanden.
Kritias: So höre denn, Sokrates, eine gar seltsame,
aber durchaus wahre Geschichte, wie sie einst
Solon, der Weiseste unter den Sieben, erzählt hat.
Er war nämlich, wie bekannt, ein Verwandter und
vertrauter Freund meines Urgroßvaters Dropides,
wie er auch selber wiederholt in seinen Gedichten
sagt; meinem Großvater Kritias aber erzählte er bei
irgend einer Gelegenheit, wie es dieser als Greis
wiederum mir mitteilte, daß es viele vor Alters von
unserem Staat vollbrachte bewunderungswürdige
Taten gäbe, welche durch die Länge der Zeit und
den Untergang der Menschen in Vergessenheit geraten wären; von allen aber sei eine die größte; und
diese ist es, deren Andenken mir jetzt zu erneuern
geziemt, um sowohl dir meinen Dank abzutragen,
als auch zugleich die Göttin an ihrem gegenwärtigen Feste auf eine echte und gebührende Weise wie
durch einen Lobgesang zu verherrlichen.
Sokrates: Wohlgesprochen! Aber was für eine Tat ist
denn das, die Kritias, obgleich sie der Überlieferung unbekannt ist, dir dennoch als eine in
Wahrheit vor alters von dieser Stadt vollbrachte nach
dem Berichte des Solon mitteilte? Kritias: So will ich denn diese alte Geschichte
erzählen, die ich von einem nicht mehr jungen Manne
vernommen. Es war nämlich damals Kritias, wie er
sagte, schon beinahe neunzig Jahre, ich aber so ungefähr zehn alt. Nun war gerade der Knabentag der
Apaturien, und was sonst jedesmal an diesem Feste
gebräuchlich ist, geschah auch diesmal mit den
Kindern: Preise setzten uns nämlich die Väter für
den besten Vortrag von Gedichten aus. So wurden
denn viele Gedichte von vielen anderen Dichtern
hergesagt; namentlich aber trugen viele von uns
Kindern manche von denen des Solon vor, weil
diese zu jener Zeit noch etwas Neues waren. Da äußerte nun einer von den Genossen unserer Phratrie,
sei es, daß dies damals wirklich seine Ansicht war,
sei es, um dem Kritias etwas Angenehmes zu
sagen, es scheine ihm Solon sowohl in allen anderen Stücken der Weiseste als auch in bezug auf die
Dichtkunst unter allen Dichtern der edelste zu sein.
Der Greis nun - denn ich erinnere mich dessen
noch sehr wohl - ward sehr erfreut und erwiderte
lächelnd: »Wenigstens, Amynandros, wenn er die
Dichtkunst nicht bloß als Nebensache betrieben,
sondern, wie andere, seinen ganzen Fleiß auf sie
verwandt und die Erzählung, welche er aus Ägypten mit hierher brachte, vollendet und nicht wegen
der Unruhen und durch alle anderen Schäden, welche er hier bei seiner Rückkehr vorfand, sich
gezwungen gesehen hätte, sie liegen zu lassen, dann
wäre, wenigstens nach meinem Dafürhalten, weder
Homeros noch Hesiodos noch irgend ein anderer
Dichter je berühmter geworden als er.«
»Aber was für eine Geschichte war denn dies?«
fragte jener.
»Traun von der größten und mit vollem Rechte
ruhmwürdigsten Tat von allen, welche diese Stadt
vollbracht, von welcher aber wegen der Länge der
Zeit und des Unterganges derer, die sie vollbracht
haben, die Überlieferung sich nicht bis auf uns erhalten hat.«
»So erzähle mir denn vom Anfange an«, versetzte der andere, »was und wie und von wem Solon
hierüber Beglaubigtes gehört und es danach berichtet hat.«
»Es gibt in Ägypten«, versetzte Kritias, »in dem
Delta, um dessen Spitze herum der Nilstrom sich
spaltet, einen Gau, welcher der saïtische heißt, und
die größte Stadt dieses Gaus ist Saïs, von wo ja
auch der König Amasis gebürtig war. Die Einwohner nun halten für die Gründerin ihrer Stadt eine
Gottheit, deren Name auf ägyptisch Neith, auf griechisch aber, wie sie angeben, Athene ist; sie
behaupten daher, große Freunde der Athener und gewissermaßen mit ihnen stammverwandt zu sein.
Als daher Solon dorthin kam, so wurde er, wie er
erzählte, von ihnen mit Ehren überhäuft, und da er
Erkundigungen über die Vorzeit bei denjenigen
Priestern einzog, welche hierin vorzugsweise erfahren waren, so war er nahe daran zu finden, daß
weder er selbst noch irgend ein anderer Grieche,
fast möchte man sagen, auch nur irgend etwas von
diesen Dingen wisse. Und einst habe er, um sie zu
einer Mitteilung über die Urzeit zu veranlassen, begonnen, ihnen die ältesten Geschichten
Griechenlands zu erzählen, ihnen vom Phoroneus, welcher
für den ersten Menschen gilt, und von der Niobe,
und wie nach der Flut Deukalion und Pyrrha übrigblieben, zu berichten und das Geschlechtsregister
ihrer Abkömmlinge aufzuzählen, und habe versucht, mit Anführung der Jahre, welche auf jedes
einzelne kamen, wovon er sprach, die Zeiten zu bestimmen. Da aber habe einer der Priester, ein sehr
bejahrter Mann, ausgerufen: 'O Solon, Solon, ihr
Hellenen bleibt doch immer Kinder, und einen
alten Hellenen gibt es nicht!'
Als nun Solon dies vernommen, habe er gefragt:
'Wieso? Wie meinst du das?'
'Ihr seid alle jung an Geiste', erwiderte der Priester, 'denn ihr tragt in ihm keine Anschauung,
welche aus alter Überlieferung stammt, und keine mit
der Zeit ergraute Kunde. Der Grund hiervon aber
ist folgender: Es haben schon viele und vielerlei
Vertilgungen der Menschen stattgefunden und werden auch fernerhin noch stattfinden, die
umfänglichsten durch Feuer und Wasser, andere, geringere
aber durch unzählige andere Ursachen. Denn was
auch bei euch erzählt wird, daß einst Phaïton, der
Sohn des Helios, den Wagen seines Vaters bestieg
und, weil er es nicht verstand, auf dem Wege seines
Vaters zu fahren, alles auf der Erde verbrannte und
selber vom Blitze erschlagen ward, das klingt zwar
wie eine Fabel, doch ist das Wahre daran die veränderte Bewegung der die Erde umkreisenden
Himmelskörper und die Vernichtung von allem, was
auf der Erde befindlich ist, durch vieles Feuer, welche nach dem Verlauf gewisser großer Zeiträume
eintritt. Von derselben werden dann die, welche auf
Gebirgen und in hochgelegenen und wasserlosen
Gegenden wohnen, stärker betroffen als die
Anwohner der Flüsse und des Meeres, und so rettet
auch uns der Nil, wie aus allen andern Nöten, so
auch alsdann, indem er uns auch aus dieser befreit.
Wenn aber wiederum die Götter die Erde, um sie
zu reinigen, mit Wasser überschwemmen, dann
bleiben die, so auf den Bergen wohnen, Rinder- und Schafhirten, erhalten; die aber, welche bei euch
in den Städten leben, werden von den Flüssen ins
Meer geschwemmt; dagegen in unserem Lande
strömt weder dann noch sonst das Wasser vom
Himmel herab auf die Fluren, sondern es ist so eingerichtet, daß alles von unten her über sie aufsteigt.
Daher und aus diesen Gründen bleibt alles bei uns
erhalten und gilt deshalb für das Alteste. In Wahrheit jedoch gibt es in allen Gegenden, wo nicht
übermäßige Kälte oder Hitze es wehrt, stets ein
bald mehr, bald minder zahlreiches Menschengeschlecht. Nur aber liegt bei uns alles, was bei euch
oder in der Heimat oder in anderen Gegenden vorgeht, von denen wir durch Hörensagen wissen,
sofern es irgendwie etwas Treffliches oder Großes ist
oder irgend eine andere Bedeutsamkeit hat, insgesamt von alters her in den Tempeln aufgezeichnet
und bleibt also erhalten. Ihr dagegen und die übrigen Staaten seid hinsichtlich der Schrift und alles
anderen, was zum staatlichen Leben gehört, immer
eben erst eingerichtet, wenn schon wiederum nach
dem Ablauf der gewöhnlichen Frist wie eine
Krankheit die Regenflut des Himmels über euch
hereinbricht und nur die der Schrift Unkundigen
und Ungebildeten bei euch übrigläßt, so daß ihr
immer von neuem gleichsam wieder jung werdet
und der Vorgänge bei uns und bei euch unkundig
bleibt, so viel ihrer in alten Zeiten sich ereigneten.
Wenigstens eure jetzigen Geschlechtsverzeichnisse,
lieber Solon, wie du sie eben durchgingst, unterscheiden sich nur wenig von Kindermärchen. Denn
erstens erinnert ihr euch nur einer Überschwemmung der Erde, während doch so viele schon
vorhergegangen sind; sodann aber wißt ihr nicht, daß
das trefflichste und edelste Geschlecht unter den
Menschen in eurem Lande gelebt hat, von denen du
und alle Bürger eures jetzigen Staates herstammen,
indem einst ein geringer Stamm von ihnen übrigblieb; sondern alles dies blieb euch verborgen, weil
die Übriggebliebenen viele Geschlechter hindurch
ohne die Sprache der Schrift ihr ganzes Leben hinbrachten. Denn es war einst, mein Solon, vor der
größten Zerstörung durch Wasser der Staat, welcher jetzt der athenische heißt, der beste im Kriege
und mit der in allen Stücken ausgezeichnetsten
Verfassung ausgerüstet, wie denn die herrlichsten
Taten und öffentlichen Einrichtungen von allen
unter der Sonne, deren Ruf wir vernommen haben,
ihm zugeschrieben werden.'
Als nun Solon dies hörte, da habe er, wie er erzählte, sein Erstaunen bezeigt und angelegentlichst
die Priester gebeten, ihm die ganze Geschichte der
alten Bürger seines Staates in genauer Reihenfolge
wiederzugeben.
Der Priester aber habe erwidert: 'Ich will dir
nichts vorenthalten, mein Solon, sondern dir alles
mitteilen, sowohl dir als eurem Staate, vor allem
aber der Göttin zu Liebe, welche euren sowie unseren Staat gleichmäßig zum Eigentume erhielt und
beide erzog und bildete, und zwar den euren tausend Jahre früher aus dem Salden, den sie dazu von
der Erdgöttin Ge und dem Hephaistos empfangen
hatte, und später ebenso den unsrigen. Die Zahl der
Jahre aber, seitdem die Einrichtung des letzteren
besteht, ist in unseren heiligen Büchern auf achttausend angegeben. Von euren Mitbürgern, die vor
neuntausend Jahren entstanden, will ich dir also
jetzt in kurzem berichten, welches ihre Staatsverfassung und welches die herrlichste Tat war, die sie
vollbrachten; das Genauere über dies alles aber
wollen wir ein andermal mit Muße nach der Reihe
durchgehen, indem wir die Bücher selber zur Hand
nehmen. Von ihrer Verfassung nun mache dir eine
Vorstellung nach der hiesigen: denn du wirst viele
Proben von dem, was damals bei euch galt, in dem,
was bei uns noch jetzt gilt, wiederfinden, zuerst
eine Kaste der Priester, welche von allen andern gesondert ist, sodann die der Gewerbetreibenden, von
denen wieder jede Klasse für sich arbeitet und nicht
mit den anderen zusammen, samt den Hirten, Jägern und Ackerleuten; endlich wirst du auch wohl
bemerkt haben, daß die Kriegerkaste hierzulande
von allen anderen gesondert ist, und daß ihr nichts
anderes, außer der Sorge für das Kriegswesen, vom
Gesetze auferlegt ist. Ihre Bewaffnung ferner besteht aus Spieß und Schild, mit denen wir zuerst
unter den Völkern Asiens uns ausrüsteten, indem
die Göttin es uns, ebenso wie in euren Gegenden
euch zuerst, gelehrt hatte. Was sodann die Geistesbildung anlangt, so siehst du wohl doch, eine wie
große Sorge das Gesetz bei uns gleich in seinen
Grundlagen auf sie verwandt hat, indem es aus
allen auf die Naturordnung bezüglichen Wissenschaften bis zu der Wahrsagekunst und der
Heilkunst zur Sicherung der Gesundheit hin, welche
alle göttlicher Natur sind, dasjenige, was zum Gebrauche der Menschen sich eignet, heraussuchte
und sich dergestalt alle diese Wissenschaften und
alle andern, welche mit ihnen zusammenhängen,
aneignete. Nach dieser ganzen Anordnung und Einrichtung gründete nun die Göttin zuerst euren
Staat, indem sie den Ort eurer Geburt mit
Rücksicht darauf erwählte, daß die dort herrschende glückliche Mischung der Jahreszeiten am
besten dazu geeignet sei, verständige Männer zu
erzeugen. Weil also die Göttin zugleich den Krieg
und die Weisheit liebt, so wählte sie den Ort aus,
welcher am meisten sich dazu eignete, Männer, wie
sie ihr am ähnlichsten sind, hervorzubringen, und
gab diesem zuerst seine Bewohner. So wohntet ihr
denn also dort im Besitze einer solchen Verfassung
und noch viel anderer trefflicher Einrichtungen und
übertraft alle anderen Menschen in jeglicher Tugend und Tüchtigkeit, wie es auch von Sprößlingen
und Zöglingen der Götter nicht anders zu erwarten
stand. Viele andere große Taten eures Staates nun
lesen wir in unseren Schriften mit Bewunderung;
von allen jedoch ragt eine durch ihre Größe und
Kühnheit hervor:
Unsere Bücher erzählen nämlich, eine wie gewaltige Kriegsmacht einst euer Staat gebrochen
hat, als sie übermütig gegen ganz Europa und
Asien zugleich vom Atlantischen Meere heranzog.
Damals nämlich war das Meer dort fahrbar: denn
vor der Mündung, welche ihr in eurer Sprache die
Säulen des Herakles heißt, hatte es eine Insel, welche großer war als Asien und Libyen zusammen,
und von ihr konnte man damals nach den übrigen
Inseln hinübersetzen, und von den Inseln auf das
ganze gegenüberliegende Festland, welches jenes
recht eigentlich so zu nennende Meer umschließt.
Denn alles das, was sich innerhalb der eben genannten Mündung befindet, erscheint wie eine
bloße Bucht mit einem engen Eingange; jenes Meer
aber kann in Wahrheit also und das es umgebende
Land mit vollem Fug und Recht Festland heißen.
Auf dieser Insel Atlantis nun bestand eine große
und bewundernswürdige Königsherrschaft, welche
nicht bloß die ganze Insel, sondern auch viele andere Inseln und Teile des Festlands unter ihrer
Gewalt hatte. Außerdem beherrschte sie noch von den
hier innerhalb liegenden Ländern Libyen bis nach
Ägypten und Europa bis nach Tyrrhenien hin.
Indem sich nun diese ganze Macht zu einer Heeresmasse vereinigte, unternahm sie es, unser und euer
Land und überhaupt das ganze innerhalb der Mündung liegende Gebiet mit einem Zuge zu
unterjochen. Da wurde nun, mein Solon, die Macht eures
Staates in ihrer vollen Trefflichkeit und Stärke vor
allen Menschen offenbar. Denn vor allen andern an
Mut und Kriegskünsten hervorragend, führte er zuerst die Hellenen; dann aber ward er durch den
Abfall der anderen gezwungen, sich auf sich allein zu
verlassen, und als er so in die äußerste Gefahr gekommen, da überwand er die Andringenden und
stellte Siegeszeichen auf und verhinderte so die
Unterjochung der noch nicht Unterjochten und gab
den andern von uns, die wir innerhalb der herakleïschen Grenzen wohnen, mit edlem Sinne die
Freiheit zurück. Späterhin aber entstanden gewaltige
Erdbeben und Überschwemmungen, und da versank während eines schlimmen Tages und einer
schlimmen Nacht das ganze streitbare Geschlecht
bei euch scharenweise unter die Erde; und ebenso
verschwand die Insel Atlantis, indem sie im Meere
unterging. Deshalb ist auch die dortige See jetzt
unfahrbar und undurchforschbar, weil der sehr hoch
aufgehäufte Schlamm im Wege ist, welchen die
Insel durch ihr Untersinken hervorbrachte.'«
Da hast du nun, lieber Sokrates, was mir vom
alten Kritias auf Solons Bericht hin erzählt wurde,
so in kurzem vernommen. Und so fiel mir denn
auch, als du gestern über den Staat und seine Bürger, wie du sie schildertest, sprachest, eben das,
was ich jetzt mitgeteilt habe, dabei ein, und mit Erstaunen bemerkte ich, wie wunderbar du durch ein
Spiel des Zufalls so überaus nahe in den meisten
Stücken mit dem zusammentrafst, was Solon erzählt hatte. Doch wollte ich es nicht sogleich
sagen, denn nach so langer Zeit hatte ich es nicht
mehr gehörig im Gedächtnisse, und ich merkte
daher, daß es nötig wäre, bei mir selber zuvor gehörig alles wieder zu überdenken und dann erst
darüber zu sprechen. Darum war ich auch so rasch
mit den Aufgaben, welche du gestern stelltest, einverstanden, indem ich glauben durfte, ich werde um
das, was in allen solchen Fällen die meisten
Schwierigkeiten macht, nämlich einen den Erwartungen der Zuhörer entsprechenden Stoff zugrunde
zu legen, eben nicht in Verlegenheit sein. Deshalb
nun rief ich es mir denn auch ins Gedächtnis zurück, indem ich es gestern gleich, wie auch
Hermokrates schon bemerkt hat, als ich von hier fortging,
unseren beiden Fremden mitteilte, und ebenso sann
ich, nachdem ich sie verlassen hatte, während der
Nacht darüber nach und habe mir dadurch so ziemlich alles wieder zur vollen Erinnerung gebracht.
Und in der Tat, es ist wahr, was das Sprichwort
sagt: »Was man als Knabe lernt, das merkt sich
wunderbar.« Ich meinerseits wenigstens weiß es
nicht, ob ich das, was ich gestern hörte, mir so
alles im Gedächtnis wieder vergegenwärtigen
könnte; von dem eben Erzählten aber, was ich vor
so langer Zeit gehört habe, sollte es gar sehr mich
wundernehmen, wenn mir irgend etwas davon entschwunden wäre. Ich hatte aber auch schon damals,
als ich es hörte, nach Kinderart viel Freude daran,
weshalb ich denn den Alten, der auch stets bereit
war, mir Rede zu stehen, wiederholt immer von
neuem danach fragte, so daß es wie mit
unauslöschlichen Zügen sich mir eingebrannt hat.
Daher teilte ich denn auch den Gastfreunden gleich
heute morgen früh eben dies mit, damit es auch
ihnen gleich mir nicht an Stoff zu Reden gebräche.
Jetzt also, um auf das zurückzukommen, weswegen
dies alles bemerkt worden ist, bin ich bereit, lieber
Sokrates, nicht bloß im ganzen und großen, sondern auch in den einzelnen Zügen alles, wie ich es
gehört habe, vorzutragen, und die Bürger und den
Staat, welche du gestern uns gleichsam nur wie in
einer Dichtung geschildert hast, werde ich jetzt in
die Wirklichkeit, und zwar hierher (nach Athen)
versetzen, indem ich annehme, daß jener Staat der
unsrige gewesen ist, und werde behaupten, daß die
Bürger, wie du sie dir dachtest, jene unsere leibhaftigen Voreltern gewesen sind, von welchen der
Priester sprach. Sie werden ganz dazu stimmen,
und wir werden durchaus das Richtige treffen,
wenn wir sagen, daß sie die seien, welche in der
damaligen Zeit lebten. Wir werden uns jedoch in
die Aufgabe, welche du uns gestellt hast, teilen und
so alle mit vereinten Kräften sie nach Vermögen
gebührend zu lösen versuchen, und es ist eben deshalb vorher zuzusehen, lieber Sokrates, ob dieser
Stoff nach unserem Sinne ist, oder ob wir noch erst
einen anderen an seiner Stelle zu suchen haben.
Sokrates: Und welchen anderen, mein Kritias, sollten
wir wohl lieber an seiner Stelle nehmen, welcher zu
dem gegenwärtigen Opferfest der Göttin wegen der
nahen Beziehung zu ihr so gut paßte? Und dazu ist
auch wohl noch das an ihm ein großer Vorzug, daß
er kein bloß erdichtetes Märchen, sondern eine
wahre Geschichte enthält. Denn wie und woher
sollten wir denn andere Stoffe nehmen, wenn wir
diesen verschmähen wollten? Wir würden vergebens suchen; vielmehr - und ich wünsche euch
guten Erfolg dazu - müßt ihr jetzt reden, ich aber
zum Entgelt dafür, daß ich gestern gesprochen
habe, nunmehr in Ruhe zuhören.
Kritias: So betrachte denn, lieber Sokrates, wie wir
die Anordnung der Gastgeschenke für dich getroffen haben: Wir haben nämlich beschlossen, daß
Timaios, weil er sich unter uns am meisten auf die
Sternkunde versteht und es sich am meisten zur
Aufgabe gemacht hat, über die Natur des Alls zur
Erkenntnis zu gelangen, zuerst reden solle, und
zwar so, daß er mit der Entstehung der Welt beginnt und mit der Erzeugung der Menschen
aufhört; ich aber nach ihm, nachdem ich von ihm die
Menschen als entstandene, gemäß seiner Darstellung, von dir aber einen Teil derselben als ganz
vorzüglich gebildet in Empfang genommen und
diese letzteren zur Beurteilung nach der Erzählung
und dem Gesetze des Solon gleichsam vor unseren
Richterstuhl geführt habe, - ich solle sie, indem ich
davon ausgehe, daß dies die damaligen Athener
sind, die die Überlieferung der heiligen Bücher aus
ihrer Verborgenheit ans Licht gezogen hat, zu Bürgern unseres Staates machen und das Weitere über
sie sodann als über Bürger und Athener vortragen.
Sokrates: Recht vollständig und glänzend scheint ja
meine Gegenbewirtung durch eure Reden ausfallen
zu sollen! Deine Aufgabe, wie ich denke, Timaios,
wäre es denn also hiernach, jetzt zunächst zu sprechen, nachdem du zuvor, wie der Brauch es fordert,
die Götter angerufen hast.
Timaios: Traun, lieber Sokrates, tun doch das wohl
alle, die auch nur ein wenig Überlegung besitzen:
rufen doch sie alle wohl beim Beginne eines jeden
Unternehmens, mag es nun geringfügig oder bedeutend sein, stets einen Gott an. Und wir, die wir gar
über das All zu sprechen im Begriffe sind, nämlich
inwiefern es entstanden ist oder aber unentstanden
von Ewigkeit war, müßten ja ganz und gar den
Verstand verloren haben, wenn wir nicht die Götter
und Göttinnen anrufen und von ihnen erflehen
wollten, daß es uns gelingen möge, das Ganze vor
allem nach ihrem Sinne, sodann aber auch in Übereinstimmung mit uns selber darzulegen. Und so
mögen denn die Götter eben hierum angerufen sein;
an uns selbst aber haben wir den Anruf und die
Anfrage zu stellen, aufweiche Weise ihr eurerseits
am leichtesten ein Verständnis der Sache gewinnen,
ich für mein Teil aber den vorliegenden Gegenstand am deutlichsten so, wie ich über ihn denke,
zum Ausdrucke bringen möge.
Man muß nun nach meiner Meinung zuerst folgendes unterscheiden und feststellen: wie haben wir
uns das immer Seiende, welches kein Werden zuläßt, und wie das immer Werdende zu denken,
welches niemals zum Sein gelangt? Nun, das eine als
dem Denken vermöge des vernünftigen Bewußtseins erfaßbar, eben weil als ein solches, welches
immer dasselbe bleibt, das andere dagegen als der
bloßen Vorstellung vermöge der bewußtlosen Sinneswahrnehmung zugänglich, eben weil als ein
solches, welches dem Entstehen und Vergehen ausgesetzt und nie wahrhaft seiend ist. Alles Werdende
muß ferner durch irgend eine Ursache werden, denn
es ist unmöglich, daß etwas ohne irgend eine Ursache entstehe. So weit nun der Urheber dabei auf
dasjenige hinblickt, welches immer dasselbe bleibt,
und sich einer Wesenheit aus diesem Gebiete als
seines Urbildes bedient, um danach die Gestalt
eines Dinges und den Inbegriff seiner Kräfte hervorzubringen, wird es notwendigerweise sodann in
allen Stücken vortrefflich geraten; soweit er aber
auf das Gewordene hinblickt und sich eines
Urbildes bedient, welches selber dem Entstandenen
angehört, in so weit nicht vortrefflich. Von dem
ganzen Weltgebäude nun oder Weltall - oder,
wenn ihm irgend ein anderer Name am meisten genehm ist, so sei ihm dieser von uns beigelegt - ist
eben hiernach zunächst zu untersuchen, was überhaupt bei jedem Gegenstand der Untersuchung als
Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden muß, ob es
immer war und nicht erst, in das Werden eintretend, einen Anfang genommen hat, oder ob es
entstanden und von einem Anfange ausgegangen ist.
Es ist entstanden, denn es ist sichtbar und fühlbar
und hat einen Körper; alles so Beschaffene aber ist
sinnlich wahrnehmbar, und das sinnlich Wahrnehmbare, welches der Vorstellung mit Hilfe der
Sinne zugänglich ist, erschien uns als das Werdende und Entstandene. Das Werdende, sagten wir
dann ferner, müsse notwendig durch irgend eine
Ursache werden. Den Schöpfer und Vater dieses
Alls nun zu finden ist freilich schwierig, und wenn
man ihn gefunden hat, ist es unmöglich, sich für
alle verständlich über ihn auszusprechen; doch
muß man in betreff seiner wiederum dies untersuchen, nach welchem von beiderlei Urbildern er als
Baumeister die Welt gebildet hat, ob nach demjenigen, welches stets dasselbe und unverändert bleibt,
oder aber nach dem Entstandenen.
Wenn nun aber doch diese Welt schön und vortrefflich und der Meister gut und vollkommen ist,
so ist es offenbar, daß er nach dem Ewigen schaute;
wenn dagegen der Fall eintritt, welchen auch nicht
einmal auszusprechen erlaubt ist, dann nach dem
Entstandenen. Eben hiernach ist es nun schon jedermann klar, daß er nach dem Ewigen blickte,
denn die Welt ist das Schönste von allem Entstandenen, und der Meister ist der beste und
vollkommenste von allen Urhebern. So ist denn jene als
eine solche ins Leben gerufen worden, die nach
dem Urbilde dessen entstanden, was der Vernunft
und Erkenntnis erfaßbar ist und beständig dasselbe
bleibt.
Schreiten wir nun auf diesen Grundlagen zur Betrachtung dieser unserer Welt, so ist sie eben
hiernach ganz notwendigerweise ein Abbild von etwas.
Nun ist es aber bei einer jeden Frage von der höchsten Wichtigkeit, gerade ihren Ausgangspunkt
sachgemäß zu behandeln, und so muß man denn
auch zwischen der Art, wie man von dem Abbilde,
und der, wie man von seinem Urbilde zu handeln
hat, sofort feste Grenzen ziehen, indem man erwägt, daß die Darstellungsweise mit den
Gegenständen, welche sie zum Verständnisse bringen
soll, auch selber verwandt ist, und daß daher die
Darlegung des Bleibenden und Beständigen und im
Lichte der Vernunft Erkennbaren selber das Gepräge des Bleibenden und Unumstößlichen an sich
trägt, - und soweit es überhaupt wissenschaftlichen
Erörterungen zukommt, unwiderleglich und unerschütterlich zu sein, darf man es hieran in nichts
fehlen lassen, - die des nach jenem Gebildeten dagegen, so wie dieses selber nur ein Abbild ist,
diesem ihrem Gegenstände entsprechend das des bloß
Wahrscheinlichen; denn wie zum Werden das Sein,
so verhält sich zum Glauben die Wahrheit. Wenn
ich daher, mein Sokrates, trotzdem daß schon viele
vieles über die Götter und die Entstehung des Alls
erörtert haben, nicht vermögen sollte, eine nach
allen Seiten und in allen Stücken mit sich selber
übereinstimmende und ebenso der Sache genau entsprechende Darstellung zu geben, so wundere dich
nicht; sondern wenn ich nur eine solche liefere, die
um nichts minder als die irgend eines anderen
wahrscheinlich ist, so müßt ihr schon zufrieden
sein und bedenken, daß wir alle, ich, der Darsteller,
und ihr, die Beurteiler, von nur menschlicher Natur
sind, so daß es sich bei diesen Gegenständen für
uns ziemt, uns damit zu begnügen, wenn die Dichtung nur die Wahrscheinlichkeit für sich hat, und
wir nichts darüber hinaus verlangen dürfen.
Sokrates: Sehr richtig bemerkt, lieber Timaios, und
durchaus annehmbar gefordert. Und dein Vorspiel
haben wir nun mit Bewunderung entgegengenommen; so führe uns denn auch das Lied selber nach
seiner Ordnung zu Ende!
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