Forum für Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Goetheanistische Naturwissenschaft
Home
 
Home


Home
Suchen
Vorträge
Rudolf Steiner

Veranstaltungen

Service-Seiten

Adressen
Ausbildung


Bücher
Bibliothek
Links

Link hinzufügen
Stellenangebote

FTP Download

Impressum

Email
http://bibliothek.anthroposophie.net

Phaidon

(Phaidôn)

Übersetzt von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1809)

Echekrates · Phaidon

In der Erzählung des Phaidon treten auf:  

Apollodoros · Sokrates · Kebes · Simmias · Kriton · Der Diener der Elfmänner

1 2 3 4 5 6

 

Echekrates: Warest du selbst, o Phaidon, bei dem Sokrates an jenem Tage, als er das Gift trank in dem  Gefängnis, oder hast du es von einem andern gehört?

Phaidon: Selbst war ich da, o Echekrates.

Echekrates: Was also hat denn der Mann gesprochen  vor seinem Tode, und wie ist er gestorben? Gern  hörte ich das. Denn weder von meinen Landsleuten, den Phliasiern, reiset jetzt leicht einer nach  Athen, noch ist von dorther seit geraumer Zeit ein  Gastfreund angekommen, der uns etwas Genaues  darüber berichten konnte, außer nur, daß er das  Gift getrunken hat und gestorben ist; von dem übrigen wußte keiner etwas zu sagen.

Phaidon: Auch von der Klage also habt ihr nichts erfahren, wie es dabei hergegangen ist?

Echekrates: Ja, das hat uns jemand erzählt, und wir  haben uns gewundert, daß, da sie schon längst abgeurteilt war, er offenbar erst weit später gestorben  ist. Wie war doch das, o Phaidon?

Phaidon: Durch Zufall fügte es sich so, Echekrates.  Es traf sich nämlich, daß gerade an dem Tage vor  dem Gericht das Schiff bekränzt worden war, welches die Athener nach Delos senden.

Echekrates: Was hat es damit auf sich?

Phaidon: Dies ist das Schiff, wie die Athener sagen,  worin einst Theseus fuhr, um jene zweimal sieben  nach Kreta zu bringen, die er rettete und sich selbst auch. Damals nun hatten sie dem Apollon gelobt,  wie man sagt, wenn sie gerettet würden, ihm jedes  Jahr einen Aufzug nach Delos zu senden, welchen  sie nun seitdem immer und auch jetzt noch jährlich  an den Gott senden. Sobald nun dieser Aufzug angefangen hat, ist es gesetzlich, während dieser Zeit  die Stadt rein zu halten und von Staats wegen niemanden zu töten, bis das Schiff in Delos angekommen ist und auch wieder zurück. Und dies währt  bisweilen lange, wenn widrige Winde einfallen.  Des Aufzuges Anfang ist aber, wenn der Priester  des Apollon das Vorderteil des Schiffes bekränzt;  und dies, wie ich sage, war eben den Tag vor dem  Gerichtstage geschehen. Daher hatte Sokrates so  viel Zeit in dem Gefängnis zwischen dem Urteil  und dem Tode.

Echekrates: Wie war es aber bei seinem Tode selbst,  o Phaidon? Was wurde gesprochen und vorgenommen? Welche von seinen Vertrauten waren bei dem Manne? Oder ließ die Behörde sie nicht zu ihm,  und er starb ohne Beisein von Freunden?

Phaidon: Keineswegs, sondern es waren deren, und  zwar ziemlich viele, zugegen.

Echekrates: Alles dieses bemühe dich doch uns recht  genau zu erzählen, wenn es dir nicht etwa an Muße fehlt!

Phaidon: Nein, ich habe Muße und will versuchen, es euch zu erzählen. Denn des Sokrates zu gedenken,  sowohl selbst von ihm redend als auch anderen zuhörend, ist mir immer von allem das Erfreulichste.

Echekrates: Und eben solche, o Phaidon, hast du jetzt zu Hörern. Also versuche nur, alles, so genau du  immer kannst, uns vorzutragen!

Phaidon: Mir meinesteils war ganz wunderbar zumute dabei. Bedauern nämlich kam mir gar nicht ein  als wie einem, der bei dem Tode eines vertrauten  Freundes zugegen sein soll; denn glückselig erschien mir der Mann, o Echekrates, in seinem Benehmen und seinen Reden, wie standhaft und edel  er endete, so daß ich vertraute, er gehe auch in die  Unterwelt nicht ohne göttlichen Einfluß, sondern  auch dort werde er sich Wohlbefinden, wenn jemals einer sonst. Darum nun kam mich weder  etwas Weichherziges an, wie man doch denken  sollte bei solchem Trauerfall, noch auch waren wir  fröhlich wie in unsern philosophischen  Beschäftigungen nach gewohnter Weise, obwohl  unsere Unterredungen auch von dieser Art waren;  sondern in einem wunderbaren Zustande befand ich mich und in einer ungewohnten Mischung, die aus  Lust zugleich und Betrübnis zusammengemischt  war, wenn ich bedachte, daß Er nun gleich sterben  würde. Und alle Anwesenden waren fast in derselben Gemütsstimmung, bisweilen lachend, dann  wieder weinend, ganz vorzüglich aber einer unter  uns, Apollodoros. Du kennst ja wohl den Mann  und seine Weise.

Echekrates: Wie sollte ich nicht?

Phaidon: Der war nun ganz vorzüglich so; aber auch  ich war gleichermaßen bewegt und die übrigen.

Echekrates: Welche aber waren denn gerade da, Phaidon?

Phaidon: Eben dieser Apollodoros war von den Einheimischen zugegen, und Kritobulos mit seinem  Vater Kriton; dann noch Hermogenes und Epigenes und Aischines und Antisthenes. Auch Ktesippos  aus Paiania war da, und Menexenos und einige andere von den Einheimischen; Platon aber, glaube  ich, war krank.

Echekrates: Waren auch noch Fremde zugegen?

Phaidon: Ja, Simmias aus Theben, und Kebes und  Phaidondes, und aus Megara Eukleides und Terpsion.

Echekrates: Wie aber Aristippos und Kleombrotos,  waren die da?

Phaidon: Nein, es hieß, sie wären in Aigina.

Echekrates: War noch sonst jemand gegenwärtig?

Phaidon: Ich glaube, dies waren sie ziemlich alle.

Echekrates: Und wie nun weiter? Was für Reden,  sagst du, wurden geführt?

Phaidon: Ich will versuchen, dir alles von Anfang an  zu erzählen. Wir pflegten nämlich auch schon die  vorigen Tage immer zum Sokrates zu gehen, ich  und die andern, und versammelten uns des Morgens im Gerichtshause, wo auch das Urteil gefällt  worden war; denn dies ist nahe bei dem Gefängnis.  Da warteten wir jedesmal, bis das Gefängnis geöffnet wurde, und unterredeten uns unterdessen. Denn  es wurde nicht sehr früh geöffnet; sobald es aber  offen war, gingen wir hinein zum Sokrates und  brachten den größten Teil des Tages bei ihm zu.  Auch damals nun hatten wir uns noch früher versammelt, weil wir tags zuvor, als wir abends aus  dem Gefängnis gingen, erfahren hatten, daß das  Schiff aus Delos angekommen sei. Wir gaben uns  also einander das Wort, auf das früheste an dem  gewohnten Ort zusammenzukommen. Das taten wir auch, und der Türsteher, der uns aufzumachen  pflegte, kam heraus und sagte, wir sollten warten  und nicht eher kommen, bis er uns riefe. »Denn«,  sprach er, »die Elf lösen jetzt den Sokrates und  kündigen ihm an, daß er heute sterben soll«. Nach  einer kleinen Weile kam er denn und hieß uns hineingehn.

Als wir nun hineintraten, fanden wir den Sokrates eben entfesselt, und Xanthippe (du kennst sie  doch), sein Söhnchen auf dem Arm haltend, saß  neben ihm. Als uns Xanthippe nun sah, wehklagte  sie und redete allerlei dergleichen, wie die Frauen  pflegen, wie: »O Sokrates, nun reden diese deine  Freunde zum letztenmale mit dir, und du mit  ihnen!« Da wendete sich Sokrates zum Kriton und  sprach: »O Kriton, laß doch jemand diese nach  Hause führen!« Da führten einige von Kritons Leuten sie ab, heulend und sich übel gebärdend. Sokrates aber, auf dem Bette sitzend, zog das  Bein an sich und rieb sich den Schenkel mit der  Hand, indem er zugleich sagte: Was für ein eigenes Ding, ihr Männer, ist es doch um das, was die  Menschen angenehm nennen, wie wunderlich es  sich verhält zu dem, was ihm entgegengesetzt zu  sein scheint, dem Unangenehmen, daß nämlich  beide zu gleicher Zeit zwar nie in dem Menschen  sein wollen, doch aber, wenn einer dem einen nach- geht und es erlangt, er meist immer genötigt ist,  auch das andere mitzunehmen, als ob sie zwei an  einer Spitze zusammengeknüpft wären; und ich  denke, wenn Aisopos dies bemerkt hätte, würde er  eine Fabel daraus gemacht haben, daß Gott beide,  da sie im Kriege begriffen sind, habe aussöhnen  wollen und, weil er dies nicht gekonnt, sie an den  Enden zusammengeknüpft habe, und deshalb nun,  wenn jemand das eine hat, komme ihm das andere  nach. So scheint es nun auch mir gegangen zu sein: weil ich von der Fessel in dem Schenkel vorher  Schmerz hatte, so kommt mir nun die angenehme  Empfindung hintennach.

Darauf nahm Kebes das Wort und sagte: Beim  Zeus, Sokrates, das ist gut, daß du mich daran erinnerst. Denn nach deinen Gedichten, die du gemacht hast, indem du die Fabeln des Aisopos in Verse gebracht, und nach dem Vorgesang an den Apollon  haben mich auch andere schon gefragt, und noch  neulich Euenos, wie es doch zugehe, daß, seitdem  du dich hier befindest, du Verse machest, da du es  zuvor nie getan hast. Ist dir nun etwas daran gelegen, daß ich dem Euenos zu antworten weiß, wenn  er mich wieder fragt, und ich weiß gewiß, das wird  er, - so sprich, was ich ihm sagen soll!

Sage ihm denn, sprach er, o Kebes, die Wahrheit, daß ich es nicht tue, um etwa gegen ihn und  seine Gedichte aufzutreten, denn das, wüßte ich  wohl, wäre nicht leicht, sondern um zu versuchen,  was wohl ein gewisser Traum meine, und mich vor  Schaden zu hüten, wenn etwa dies die Musik wäre,  die er mir anbefiehlt. Es war nämlich dieses: es ist  mir oft derselbe Traum vorgekommen in dem nun  vergangenen Leben, der mir, bald in dieser, bald in  jener Gestalt erscheinend, immer dasselbe sagte:  »O Sokrates«, sprach er, »mach und treibe Musik!« Und ich dachte sonst immer, nur zu dem, was ich  schon tat, ermuntere er mich und treibe mich noch  mehr an, und wie man die Laufenden anzutreiben  pflegt, so ermuntere mich auch der Traum zu dem,  was ich schon tat, Musik zu machen, weil nämlich  die Philosophie die vortrefflichste Musik ist und  ich diese doch trieb. Jetzt aber, seit das Urteil gefällt ist und die Feier des Gottes meinen Tod noch  verschoben hat, dachte ich doch, ich müsse, falls  etwa der Traum mir doch befehle, mit dieser gemeinen Musik mich zu beschäftigen, auch dann nicht  ungehorsam sein, sondern es tun. Denn es sei doch  sicherer, nicht zu gehn, bis ich mich auch so vorgesehen und Gedichte gemacht, um dem Traum zu  gehorchen. So habe ich denn zuerst auf den Gott  gedichtet, dem das Opfer eben gefeiert wurde; und  nächst dem Gott, weil ich bedachte, daß ein Dichter, wenn er ein Dichter sein wolle, Fabeln dichten  müsse und nicht vernünftige Reden, und ich selbst  nicht erfindsam bin in Fabeln, so habe ich deshalb  von denen, die bei der Hand waren und die ich  wußte, den Fabeln des Aisopos, die, welche mir  eben aufstießen, in Verse gebracht. Dieses also, o  Kebes, sage dem Euenos, und er solle Wohlleben  und, wenn er klug wäre, mir nachkommen. Ich gehe aber, wie ihr seht, heute, denn die Athener befehlen es.

Da sagte Simmias; Was läßt du doch da dem  Euenos sagen, o Sokrates? Ich habe schon viel mit  dem Manne verkehrt; aber soviel ich gemerkt, wird  er auch nicht die mindeste Lust haben, dir zu folgen.

Wieso? fragte er, ist Euenos nicht ein Philosoph?

Das dünkt mich doch, sprach Simmias.

Nun, so wird er auch wollen, er und jeder, der  würdig an diesem Geschäfte teilnimmt. Nur Gewalt wird er sich doch nicht selbst antun; denn dies,  sagen sie, sei nicht recht.

Und als er dies sagte, ließ er seine Beine von  dem Bett wieder herunter auf die Erde, und so sitzend sprach er das übrige.

Kebes fragte ihn nun: Wie meinst du das, o Sokrates, daß es nicht recht sei, sich selbst Leides zu  tun, daß aber doch der Philosoph dem Sterbenden  zu folgen wünsche?

Wie, Kebes? Habt ihr über diese Dinge nichts  gehört, du und Simmias, als ihr mit dem Philolaos  zusammenwaret?

Nichts Genaues wenigstens, Sokrates. Auch ich kann freilich nur vom Hörensagen  davon reden; was ich aber gehört, bin ich gar nicht  abgeneigt, euch zu sagen. Auch ziemt es sich ja  wohl am besten, daß der, welcher im Begriff ist,  dorthin zu wandern, nachsinne und sich Bilder  mache über die Wanderung dorthin, wie man sie  sich wohl zu denken habe. Was könnte einer auch  wohl noch weiter tun in der Zeit bis zum Untergang der Sonne?

Weshalb also sagen sie, es sei nicht recht, sich  selbst zu töten, o Sokrates? Denn ich habe dies  auch schon, wonach du eben fragtest, vom Philolaos gehört, als er sich bei uns aufhielt, und auch  schon von andern, daß man dies nicht tun dürfe.  Genaues aber habe ich von keinem jemals etwas  darüber gehört.

So mußt du dich noch weiter bemühen, sagte er,  du kannst es ja wohl noch hören. Vielleicht aber  kommt es dir auch wunderbar vor, daß dies allein  unter allen Dingen schlechthin so sein soll, und auf keine Weise, wie doch sonst überall, nur bisweilen  und nur für einige Menschen: nämlich es sei besser  zu sterben als zu leben. Und denen nun besser wäre zu sterben, wird dir wunderbar vorkommen, daß es  diesen Menschen nicht erlaubt sein solle, sich  selbst wohlzutun, sondern daß sie einen andern  Wohltäter erwarten sollen.

Da sagte Kebes etwas lächelnd und in seiner  Mundart: Das mag Gott wissen.

Es kann freilich so scheinen, unvernünftig zu  sein, sprach Sokrates, aber es hat doch auch wieder einigen Grund. Denn was darüber in den Geheimlehren gesagt wird, daß wir Menschen wie in einer  Feste sind und man sich aus dieser nicht selbst losmachen und davongehen dürfe, das erscheint mir  doch als eine gewichtige Rede und gar nicht leicht  zu durchschauen. Wie denn auch dieses, o Kebes,  mir ganz richtig gesprochen scheint, daß die Götter unsere Hüter und wir Menschen eine von den Herden der Götter sind. Oder dünkt es dich nicht so?

Allerdings wohl, sagte Kebes.

Also auch du würdest gewiß, wenn ein Stück aus deiner Herde sich selbst tötete, ohne daß du angedeutet hättest, daß du wolltest, es solle sterben, diesem zürnen und, wenn du noch eine Strafe wüßtest, es bestrafen?

Ganz gewiß, sagte er.

Auf diese Weise nun wäre es also wohl nicht unvernünftig, daß man nicht eher sich selbst töten  dürfe, bis der Gott irgend eine Notwendigkeit dazu  verfügt hat, wie die jetzt uns gewordene?

Dieses freilich, sagte Kebes, scheint ganz billig.  Was du jedoch vorher sagtest, daß jeder Philosoph  gern werde sterben wollen, dieses, o Sokrates,  kommt dann ungereimt heraus; wenn doch, was wir eben sagten, sich richtig so verhält, daß Gott es ist, der uns hütet, und daß wir zu seiner Herde gehören. Denn daß nicht die Vernünftigsten gerade am unwilligsten aus dieser Pflege sich entfernen sollten,  wo diejenigen für sie sorgen, welche die besten  Versorger sind für alles, was ist, die Götter, das ist  gar nicht zu denken. Denn sie können ja nicht glauben, daß sie sich selbst besser hüten werden, wenn  sie frei geworden sind; sondern nur ein unvernünftiger Mensch könnte das vielleicht glauben, daß es  gut wäre, von seinem Herrn zu fliehen, und könnte  nicht bedenken, daß man ja von dem Guten nicht  fliehen muß, sondern sich soviel als möglich daran  halten, und daß er also unvernünftigerweise fliehen  würde; der Vernünftige aber würde immer streben,  bei dem zu sein, der besser wäre als er. Und so  käme ja wohl, o Sokrates, das Gegenteil von dem  heraus, was eben gesagt ward: den Vernünftigen  nämlich ziemte es, ungern zu sterben, und nur den  Unvernünftigen gern.

Als dies Sokrates angehört hatte, schien er mir  seine Freude zu haben an des Kebes Eifer in der  Sache, und indem er uns ansah, sagte er: Immer  spürt doch Kebes irgend Gründe aus und will sich  gar nicht leicht überreden lassen von dem, was  einer behauptet.

Darauf sagte Simmias; aber jetzt, o Sokrates,  scheint auch mir etwas an dem zu sein, was Kebes  vorbringt. Denn weshalb doch sollten wohl wahrhaft weise Männer von besseren Herren, als sie  selbst sind, fliehen und sich gern von ihnen losmachen; Und zwar scheint mir Kebes mit seiner Rede  auf dich zu zielen, daß du es so leicht erträgst, uns  zu verlassen und auch jene guten Herrscher, wie du selbst gestehst, die Götter.

Ihr habt recht, sprach er. Ich denke nämlich, ihr  meint, ich solle mich hierüber verteidigen wie vor  Gericht.

Allerdings, sagte Simmias.

Wohlan denn, sprach er, laßt mich versuchen, ob ich mich mit besserem Erfolg vor euch verteidigen  kann als vor den Richtern. Nämlich, sprach er, o  Simmias und Kebes, wenn ich nicht glaubte, zuerst zu andern Göttern zu kommen, die auch weise und  gut sind, und dann auch zu verstorbenen Menschen, welche besser sind als die hiesigen, so täte  ich vielleicht unrecht, nicht unwillig zu sein über  den Tod. Nun aber wisset nur, daß ich zu wackeren Männern zu kommen hoffe; und wenn ich auch das  nicht so ganz sicher behaupten wollte, - doch daß  ich zu Göttern komme, die ganz treffliche Herren  sind, wisset nur, wenn irgend etwas von dieser Art, will ich dieses gewiß behaupten. So daß ich eben  deshalb nicht so unwillig bin, sondern der frohen  Hoffnung, daß es etwas gibt für die Verstorbenen  und, wie man ja schon immer gesagt hat, etwas  weit Besseres für die Guten als für die Schlechten.

Wie nun, o Sokrates? sagte Simmias, gedenkst  du diese Meinung für dich zu behalten und so von  uns zu gehn, oder möchtest du uns auch davon mit- teilen? Mich wenigstens dünkt, dies müsse ein gemeinsames Gut sein auch für uns; und zugleich  wird ja eben das deine Verteidigung sein, wenn du  uns von dem, was du sagst, überzeugst.

So will ich es denn versuchen, sprach er. Zuvor  aber laßt uns doch von unserm Kriton hören, was  es doch ist, was er mir schon lange sagen will?

Was sonst, o Sokrates, sprach Kriton, als daß  der, welcher dir den Trank bereiten soll, mir schon  lange zuredet, man müsse dir andeuten, doch ja so  wenig als möglich zu sprechen. Denn er sagt, durch das Reden erhitze man sich, und das vertrage sich  nicht mit dem Trank; wenn aber doch, so hätten die bisweilen zwei-, auch dreimal trinken müssen, die  dergleichen getan.

Darauf sagte Sokrates: Ach, laß ihn laufen! Mag er nur seinerseits sich anschicken, mir auch zweimal zu geben, und wenn es nötig wäre, auch  dreimal.

Das wußte ich wohl fast vorher, sagte Kriton;  aber er ließ mir schon lange keine Ruhe.

Laß ihn, sprach er.

Euch Richtern aber will ich nun Rede darüber  stehen, daß ich mit Grunde der Meinung bin, ein  Mann, welcher wahrhaft philosophisch sein Leben  vollbracht, müßte getrost sein, wenn er im Begriff  ist zu sterben, und der frohen Hoffnung, daß er dort Gutes in vollem Maß erlangen werde, wann er gestorben ist. Wie das nun so sein möge, o Simmias  und Kebes, das will ich versuchen, euch deutlich zu machen. Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne  daß es freilich die andern merken, nach gar nichts  anderm streben, als nur zu sterben und tot zu sein.  Ist nun dieses wahr, so wäre es ja wohl wunderlich, wenn sie ihr ganzes Leben hindurch zwar sich um  nichts anderes bemühten als um dieses, wenn es  nun aber selbst käme, hernach wollten unwillig  sein über das, wonach sie lange gestrebt und sich  bemüht haben.

Da lachte Simmias und sagte: Beim Zeus, Sokrates, wiewohl ich jetzt eben nicht im mindesten  lachlustig bin, hast du mich doch lachen gemacht.  Ich denke nämlich, wenn die Leute so dies hörten,  würden sie glauben, dies sei ganz vortrefflich  gesagt gegen die Philosophen, und würden zumal  bei uns gewiß gewaltig beistimmen, es sei so, die  Philosophen sehnten sich wirklich zu sterben, und  sie ihrerseits wüßten auch, daß sie wohl verdienten, dies zu erlangen.

Da würden sie auch ganz wahr sprechen, o Simmias, das eine ausgenommen, daß sie das recht gut  wüßten. Denn weder wissen sie, wie die wahrhaften Philosophen den Tod wünschen, noch wie sie  ihn verdienen [und was für einen Tod]. Laßt uns  nun, sprach er, jenen den Abschied geben, zu uns  selbst aber sagen, ob - wir wohl glauben, daß der  Tod etwas sei?

Allerdings, fiel Simmias ein.

Und wohl etwas anderes als die Trennung der  Seele von dem Leibe? Und daß das heiße »tot  sein«, wenn abgesondert von der Seele der Leib für sich allein ist und auch die Seele abgesondert von  dem Leibe für sich allein ist? Oder sollte wohl der  Tod etwas anderes sein als dieses?

Nein, sondern eben dieses.

So bedenke denn. Guter, ob auch dich dasselbe  bedünkt wie mich; denn hieraus, glaube ich, werden wir das besser erkennen, wonach wir fragen.  Scheint dir, daß es sich für einen philosophischen  Mann gehöre, sich Mühe zu geben um die sogenannten Lüste, wie um die am Essen und Trinken? Nichts weniger wohl, o Sokrates, sprach Simmias.

Oder um die aus dem Geschlechtstriebe?

Keineswegs.

Und die übrige Besorgung des Leibes, glaubst  du, daß ein solcher sie groß achte? Wie z.B. schöne Kleider und Schuhe und andere Arten von Schmuck des Leibes zu haben, glaubst du, daß er es achte  oder verachte, mehr als höchst nötig ist, sich hierum zu kümmern?

Verachten, dünkt mich wenigstens, wird es der  wahrhafte Philosoph.

Dünkt dich also nicht überhaupt eines solchen  ganze Beschäftigung nicht um den Leib zu sein,  sondern soviel nur möglich von ihm abgekehrt und  der Seele zugewendet?

Das dünkt mich.

Also hierin zuerst zeigt sich der Philosoph als  ablösend seine Seele von der Gemeinschaft mit  dem Leibe vor den übrigen Menschen allen?

Offenbar.

Und die meisten Menschen meinen doch, o Simmias, wem dergleichen nicht süß ist, und wer daran keinen Teil hat, dem lohne es nicht, zu leben, sondern ganz nahe sei der am Totsein, der sich um die  angenehmen Empfindungen nicht bekümmere, welche durch den Leib kommen.

Du sprichst vollkommen recht.

Wie aber nun mit dem Erwerb der richtigen Einsicht selbst, - ist dabei der Leib im Wege oder  nicht, wenn ihn jemand bei dem Streben danach  zum Gefährten mit aufnimmt? Ich meine so: Gewähren wohl Gesicht und Gehör den Menschen einige Wahrheit? Oder singen uns selbst die Dichtet  das immer vor, daß wir nichts genau hören noch  sehen? Und doch, wenn unter den Wahrnehmungen, die dem Leibe angehören, diese nicht genau  sind und sicher, dann die andern wohl gar nicht - denn alle sind ja wohl schlechter als diese -; oder  dünken sie dich das nicht?

Freilich, sagte er.

Wann also trifft die Seele die Wahrheit? Denn  wenn sie mit dem Leibe versucht etwas zu betrachten, dann offenbar wird sie von diesem hintergangen.

Richtig.

Wird also nicht in dem Denken, wenn irgendwo, ihr etwas von dem Seienden offenbar?

Ja.

Und sie denkt offenbar am besten, wenn nichts  von diesem sie trübt, weder Gehör noch Gesicht  noch Schmerz und Lust, sondern wenn sie am meisten ganz für sich ist, den Leib gehn läßt und, soviel irgend möglich, ohne Gemeinschaft und  Verkehr mit ihm dem Seienden nachgeht.

So ist es.

Also auch dabei verachtet des Philosophen Seele am meisten den Leib, flieht von ihm und sucht für  sich allein zu sein?

So scheint es.

Wie nun hiermit, o Simmias? Sagen wir, daß das Gerechte etwas sei oder nichts?

Wir behaupten es ja freilich, beim Zeus.

Und nicht auch das Schöne und Gute?

Wie sollte es nicht?

Hast du nun wohl schon jemals hiervon das mindeste mit Augen gesehen?

Keineswegs, sprach er.

Oder mit sonst einer Wahrnehmung, die vermittelst des Leibes erfolgt, es getroffen? Ich meine  aber alles dieses, Größe, Gesundheit, Stärke und  mit einem Worte von allem insgesamt das Wesen,  was jegliches wirklich ist; wird etwa vermittelst  des Leibes hiervon das eigentlich Wahre geschaut,  oder verhält es sich so: wer von uns am meisten  und genauesten es darauf anlegt, jegliches selbst  unmittelbar zu denken, was er untersucht, der  kommt auch am nächsten daran, jegliches zu erkennen?

Allerdings.

Und der kann doch jenes am reinsten ausrichten,  der am meisten mit dem Gedanken allein zu jedem  geht, ohne weder das Gesicht mit anzuwenden  beim Denken noch irgend einen anderen Sinn mit  zuzuziehen bei seinem Nachdenken, sondern, sich  des reinen Gedankens allein bedienend, auch jegliches rein für sich zu fassen trachtet, soviel möglich  geschieden von Augen und Ohren und, um es kurz  zu sagen, von dem ganzen Leibe, der nur verwirrt  und die Seele nicht Wahrheit und Einsicht erlangen läßt, wenn er mit dabei ist. Ist es nicht ein solcher,  o Simmias, der, wenn irgend einer, das Wahre treffen wird?

Über die Maßen hast du recht, o Sokrates,  sprach Simmias.

Ist es nun nicht natürlich, daß durch dieses alles  eine solche Meinung bei den wahrhaft Philosophierenden aufkommt, so daß sie auch dergleichen  unter sich reden: Es wird uns ja wohl gleichsam ein Fußsteig heraustragen mit der Vernunft in der Untersuchung, weil, solange wir noch den Leib haben  und unsere Seele mit diesem Übel im Gemenge ist,  wir nie befriedigend erreichen können, wonach uns  verlangt; und dieses, sagen wir doch, sei das  Wahre. Denn der Leib macht uns tausenderlei zu  schaffen wegen der notwendigen Nahrung; dann  auch, wenn uns Krankheiten zustoßen, verhindern  uns diese, das Wahre zu erjagen, und auch mit  Gelüsten und Begierden, Furcht und mancherlei  Schattenbildern und vielen Kindereien erfüllt er  uns; so daß recht in Wahrheit, wie man auch zu  sagen pflegt, wir um seinetwillen nicht einmal dazu kommen, auch nur irgend etwas richtig einzusehen. Denn auch Kriege und Unruhen und Schlachten erregt uns nichts anderes als der Leib und seine Begierden: denn über den Besitz von Geld und Gut  entstehen alle Kriege, und dieses müssen wir haben des Leibes wegen, weil wir seiner Pflege dienstbar  sind, und daher fehlt es uns an Muße, der Weisheit  nachzutrachten um aller dieser Dinge willen wegen  alles dessen. Und endlich noch, wenn es uns auch  einmal Muße läßt und wir uns anschicken, etwas  zu untersuchen, so fällt er uns wieder bei den Untersuchungen selbst beschwerlich, macht uns Unruhe und Störung und verwirrt uns, daß wir seinetwegen nicht das Wahre sehen, können. Sondern es ist  uns wirklich klar, daß, wenn wir je etwas rein erkennen wollen, wir uns von ihm losmachen und mit der Seele selbst die Dinge selbst schauen müssen.  Und dann erst offenbar werden wir haben, was wir  begehren und wessen Liebhaber wir zu sein behaupten, die Weisheit, wenn wir tot sein werden,  wie die Rede uns andeutet, solange wir leben aber  nicht. Denn wenn es nicht möglich ist, mit dem  Leibe irgend etwas rein zu erkennen, so können wir nur eines von beiden: entweder niemals zum Verständnis gelangen oder nach dem Tode. Denn alsdann wird die Seele für sich allein sein, abgesondert vom Leibe, vorher aber nicht. Und solange wir leben, werden wir, wie sich zeigt, nur dann dem Erkennen am nächsten sein, wenn wir so viel wie  möglich nichts mit dem Leibe zu schaffen noch gemein haben, was nicht höchst nötig ist, und wenn  wir mit seiner Natur uns nicht anfüllen, sondern  uns von ihm rein halten, bis der Gott selbst uns befreit. Und so rein der Torheit des Leibes entledigt,  werden wir wahrscheinlich mit eben solchen zusammen sein und durch uns selbst alles Ungetrübte erkennen, und dies ist eben wohl das Wahre. Dem  Nichtreinen aber mag Reines zu berühren wohl  nicht vergönnt sein. Dergleichen meine ich, o Simmias, werden notwendig alle wahrhaft Wißbegierigen denken und untereinander reden. Oder dünkt  dich nicht so?

Auf alle Weise, o Sokrates.

 

1 2 3 4 5 6

 

Home Suchen Vorträge Veranstaltungen Adressen Bücher Link hinzufügen
Diese Seite als PDF drucken Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Tel/Fax: +43-1-86 59 103, Mobil: +43-676-9 414 616 
www.anthroposophie.net       Impressum       Email: Wolfgang.PETER@anthroposophie.net
Free counter and web stats