Gewiß, wie sollte sie nicht?
Also, sprach er, sind auch wohl die glücklichsten
unter diesen und kommen an den besten Ort diejenigen, welche der gemeinen und bürgerlichen
Tugend nachgestrebt haben, die man doch auch Besonnenheit und Gerechtigkeit nennt, die aber nur
aus Gewöhnung und Übung entsteht ohne Philosophie und Vernunft?
Inwiefern sind diese die Glückseligsten?
Weil doch natürlich ist, daß diese wiederum in
eine solche gesellige und zahme Gattung gehen,
etwa in Bienen oder Wespen oder Ameisen, oder
auch wieder in diese menschliche Gattung, und
wieder ganz leidliche Männer aus ihnen werden.
Das ist natürlich.
In der Götter Geschlecht ist wohl keinem, der
nicht philosophiert hat und vollkommen rein abgeschieden ist, vergönnt zu gelangen, sondern nur
dem Lernbegierigen. Eben deshalb nun, o lieber
Simmias und Kebes, enthalten sich die wahrhaften
Philosophen aller von dem Leibe herrührenden Begierden und harren aus und geben sich ihnen nicht
hin; - nicht etwa, weil sie Verderb des Hauswesens
und Armut fürchten wie die meisten Geldsüchtigen,
auch nicht, weil sie die Ehrlosigkeit und Schmach
der Trägheit scheuen wie die Herrschsüchtigen und
Ehrsüchtigen, enthalten sie sich ihrer.
Das würde sich auch für sie nicht ziemen, o Sokrates, sprach Kebes.
Freilich nicht, beim Zeus, sagte er. Darum sagen
auch allen solchen, o Kebes, jene alle, die irgend
für ihre Seele Sorge tragen und nicht für der Leiber
Bildung und Bedienung leben, Fahrewohl und
gehen nicht gleichen Schritt mit ihnen, die ja nicht
wissen, wohin sie gehen. Sie selbst aber, feststellend, daß sie nichts tun dürfen, was der Philosophie
zuwider wäre und der Erlösung und Reinigung
durch sie, wenden sich dorthin, jener folgend, wie
sie führt.
Wie das, o Sokrates?
Das will ich dir sagen, sprach er. Es erkennen
nämlich die Lernbegierigen, daß die Philosophie,
indem sie ihre Seele findet, ordentlich gebunden im
Leibe und ihm anklebend, und gezwungen, wie
durch ein Gitter durch ihn das Sein zu betrachten,
nicht aber für sich allein, und daher in aller Torheit
sich umherwälzend, und indem sie die Gewalt dieses Kerkers erkennt, wie er ordentlich eine Lust ist,
so daß der Gebundene selbst am meisten immer mit
angreife, um gebunden zu werden; wie ich nun
sage, die Lernbegierigen erkennen, daß, indem die
Philosophie in solcher Beschaffenheit ihre Seele
annimmt, sie ihr gelinde zuspricht und versucht, sie
zu erlösen, indem sie zeigt, daß alle Betrachtung
durch die Augen voll Betrug ist, voll Betrug auch
die durch die Ohren und die übrigen Sinne, und
deshalb sie überredet, sich von diesen zurückzuziehen, soweit es nicht notwendig ist, sich ihrer zu
bedienen, und sie ermuntert, sich vielmehr in sich
selbst zu sammeln und zusammenzuhalten und
nichts anderem zu glauben als wiederum sich
selbst, was sie für sich selbst von den Dingen an
und für sich anschaut; was sie aber vermittelst
eines anderen betrachtet, dieses, weil es in jeglichem anderen wieder ein anderes wird, für nichts
Wahres zu halten, und solches sei ja eben das
Wahrnehmbare und Sichtbare; was sie aber selbst
sieht, sei das Gedenkbare und Unsichtbare. Dieser
Befreiung nun glaubt nicht widerstreben zu dürfen
des wahrhaften Philosophen Seele und enthält sich
deshalb der Lust und Begierde, der Unlust und
Furcht, soviel sie kann, indem sie bedenkt, daß,
wenn jemand sehr heftig sich freut oder fürchtet,
trauert oder begehrt, er nie ein so großes Übel hiervon erleidet, als er wohl glaubt, wenn er z.B. etwa
erkrankt ist oder einen Verlust erlitten hat seiner
Begierden wegen, was aber das größte und äußerste aller Übel ist, dieses wirklich erleidet und es
nicht in Rechnung bringt.
Welches ist doch dieses, o Sokrates? sprach
Kebes.
Daß nämlich jedes Menschen Seele, sobald sie
über irgend etwas sich heftig erfreut oder betrübt,
auch genötigt ist, von demjenigen, womit ihr dieses
begegnet, zu glauben, es sei das Wirksamste und
das Wahrste, da sich dies doch nicht so verhält.
Und dies sind doch am meisten die sichtbaren
Dinge, oder nicht?
Freilich.
In diesem Zustande also wird am meisten die
Seele von dem Leibe gebunden?
Wieso?
Weil jegliche Lust und Unlust gleichsam einen
Nagel hat und sie an den Leib annagelt und anheftet und sie leibartig macht, wenn sie doch glaubt,
daß das wahr sei, was auch der Leib dafür aussagt.
Denn dadurch, daß sie gleiche Meinung hat mit
dem Leibe und sich an dem nämlichen erfreut, wird
sie, denke ich, genötigt, auch gleicher Sitte und
gleicher Nahrung wie er teilhaftig zu werden, so
daß sie nimmermehr rein in die Unterwelt kommen
kann, sondern immer des Leibes voll von hinnen
geht; daher sie auch bald wiederum in einen andern
Leib fällt und wie hingesäet sich einwurzelt und
daher unteilhaftig bleibt des Umganges mit dem
Göttlichen und Reinen und Eingestaltigen.
Vollkommen wahr ist, was du sagst, o Sokrates,
sprach Kebes.
Dieser Ursachen wegen also, o Kebes, sind die
wahrhaft Lernbegierigen sittsam und tapfer, und
nicht weshalb die Leute sagen. Oder meinst du?
Nein, ich gewiß nicht.
Es geht auch nicht anders, als daß die Seele
eines philosophischen Mannes so rechnet und nicht
glauben kann, sie müsse sich zwar von der Philosophie erlösen lassen, nachdem diese sie aber erlöset,
sich selbst wiederum der Lust und Unlust hingeben, um sich wieder festbinden und die vorige
Arbeit vergeblich machen zu lassen, als wolle sie das
Gegenstück treiben zu der Penelope Weberei; sondern Ruhe von dem allem sich verschaffend, der
Vernunft folgend und immer darin verharrend, daß
sie das Wahre und Göttliche und der Meinung
nicht Unterworfene anschaut und sich davon nährt,
glaubt sie, solange sie lebt, so leben zu müssen,
nach dem Tode aber zu dem Verwandten und zu
ebensolchem zu gelangen und dann von allen
menschlichen Übeln erlöst zu werden. Hat sie sich
so genährt, so ist wohl kein Wunder, wenn sie
nicht fürchtet, ob sie nicht doch nach solchen Bestrebungen bei der Trennung von dem Leibe
zerrissen, von ich weiß nicht welchen Winden verweht
und zerstäubt umkommen und nirgend mehr sein
werde.
Eine Stille entstand nun, nachdem Sokrates dieses gesagt, auf lange Zeit, und er selbst, Sokrates,
war ganz in das Vorgetragene vertieft, wie man
ihm ansehn konnte, und auch die meisten von uns.
Kebes und Simmias aber sprachen ein weniges miteinander.
Da sah sie Sokrates an und fragte: Wie?
Euch dünkt doch nicht etwa das Gesagte noch mangelhaft gesagt zu sein? Denn es gibt wohl noch viel
Bedenken und Einwendungen dabei, wenn einer es
ganz genau durchnehmen will. Hattet ihr nun etwas
anderes untereinander, so will ich nichts gesagt
haben; wenn ihr aber noch hierüber zweifeltet, so
tragt nur ja kein Bedenken, es entweder allein zu
sagen und anzuführen, wenn ihr glaubt, daß es so
besser werde vorgetragen werden, oder auch mich
mit dazu zu nehmen, wenn ihr meinet, mit mir besser zu fahren!
Da sagte Simmias: Ich will dir die Wahrheit
sagen, Sokrates. Wir beide haben schon lange
zweifelnd einander angestoßen und aufgemuntert,
zu fragen, weil wir zwar gern hören möchten, aber
doch Bedenken tragen, dir Unruhe zu machen, daß
es dir nicht etwa zuwider wäre bei dem jetzigen
Unglück.
Als er dies hörte, sagte er mit sanftem Lächeln:
O weh, Simmias! Wahrlich, gar schwer werde ich
die übrigen Menschen überzeugen, daß ich das jetzige Geschick für kein Unglück halte, da ich nicht
einmal euch überzeugen kann, sondern ihr fürchtet,
ich möchte jetzt unbequemer sein als sonst im
Leben. Und wie es scheint, haltet ihr mich in der
Wahrsagung für schlechter als die Schwäne, welche, wenn sie merken, daß sie sterben sollen, wie
sie schon sonst immer gesungen haben, dann am
meisten und vorzüglich singen, weil sie sich freuen,
daß sie zu dem Gotte gehen sollen, dessen Diener
sie sind. Die Menschen aber, wegen ihrer eigenen
Furcht vor dem Tode, lügen auch auf die Schwäne
und sagen, daß sie, über den Tod jammernd, aus
Traurigkeit sängen, ohne zu bedenken, daß kein
Vogel singt, wenn ihn hungert oder friert oder ihm
sonst irgend etwas fehlt, auch nicht einmal die
Nachtigall selbst oder die Schwalbe und der Wiedehopf, von denen sie sagen, daß sie aus Unlust
klagend singen; aber weder diese, glaube ich, singen aus Traurigkeit noch die Schwäne; sondern
weil sie, meine ich, dem Apollon angehören, sind
sie wahrsagerisch; und da sie das Gute in der Unterwelt voraus erkennen, so singen sie und sind
fröhlich an jenem Tage vorzugsweise und mehr als
sonst vorher. Ich halte aber auch mich dafür, ein
Dienerschaftsgenoß der Schwäne zu sein und demselben Gotte heilig und nicht schlechter als sie das
Wahrsagen zu haben von meinem Gebieter, also
auch nicht unmutiger als sie aus dem Leben zu
scheiden. Also deshalb mögt ihr immer sagen und
fragen, was ihr wollt, solange die elf Männer der
Athener es gestatten.
Sehr schön, sagte Simmias; also will ich dir
sagen, was für Zweifel ich habe, und dann auch
dieser, wiefern er das Gesagte nicht annimmt. Denn
ich denke über diese Dinge, o Sokrates, ungefähr
wie du: daß etwas Sicheres davon zu wissen in diesem Leben entweder unmöglich ist oder doch gar
schwer; daß aber, was darüber gesagt wird, nicht
auf alle Weise zu prüfen, ohne eher abzulassen, bis
einer ganz ermüdet wäre vom Untersuchen nach
allen Seiten, einen gar weichlichen Menschen verrät. Denn eines muß man doch in diesen Dingen
erreichen: entweder lernen oder erfinden, wie es
damit steht oder, wenn dies unmöglich ist, die
beste und unwiderleglichste der menschlichen Meinungen darüber nehmen und darauf wie auf einem
Brette versuchen, durch das Leben zu schwimmen,
wenn einer nicht sicherer und gefahrloser auf einem
festeren Fahrzeuge oder einer göttlichen Rede reisen kann. So will denn auch ich jetzt mich nicht
schämen, zu fragen, da ja auch du dasselbe sagst,
und nicht hernach mir selbst Vorwürfe zu machen
haben, daß ich jetzt nicht gesagt habe, was ich
denke. Mir nämlich, o Sokrates, sowohl wenn ich
bei mir selbst als wenn ich mit diesem das Gesamte
betrachte, erscheint es gar nicht gründlich genug.
Darauf sagte Sokrates: Vielleicht, o Freund, erscheint es dir ganz recht; aber sage nur, wiefern
nicht gründlich?
Insofern, sprach er, als auch von der Harmonie
und der Leier und den Saiten einer ganz auf dieselbe Weise reden könnte, daß nämlich die Harmonie
etwas Unsichtbares und Unkörperliches und gar
Schönes und Göttliches ist an der gestimmten
Leier, die Leier selbst aber und die Saiten Körper
sind und Körperliches und zusammengesetzt und
irdisch und dem Sterblichen verwandt. Wenn nun
einer die Leier zerbräche oder die Saiten zerschnitte
oder zerrisse, so könnte einer mit derselben Rede
wie du fest behaupten, jene Harmonie müsse notwendig noch dasein und nicht untergegangen. Denn
es wäre doch keine Möglichkeit, daß die Leier noch
dasein sollte, nachdem die Saiten zerrissen wären,
und die Saiten selbst, die doch dem Sterblichen
ähnlich sind, die Harmonie aber sollte untergegangen sein, die doch dem Göttlichen und
Unsterblichen gleichartig und verwandt ist, und zwar noch
vor dem Sterblichen; sondern, würde er sagen, notwendig muß die Harmonie noch irgendwo sein, und
eher werden die Hölzer verfaulen und die Saiten,
als jener etwas begegnen wird. Nun aber glaube
ich, o Sokrates, du selbst wirst auch dies schon erwogen haben, daß wir uns die Seele als so etwas
vorzüglich vorstellen, wenn doch unser Leib eingespannt ist und zusammengehalten von Warmem
und Kaltem, Trockenem und Feuchtem und dergleichen Dingen, daß unsere Seele die Mischung und
Harmonie eben dieser Dinge sei, wenn sie schön
und im rechten Verhältnis gegeneinander gemischt
sind. Ist nun die Seele eine Harmonie, so ist offenbar, daß, wenn unser Leib unverhältnismäßig
erschlafft oder angespannt wird von Krankheiten und
anderen Übeln, die Seele dann notwendig sogleich
umkommt, obgleich sie das Göttlichste ist, eben
wie alle andern Harmonien in Tönen und in allen
Werken der Künstler, die Überreste eines jeden
Leibes aber noch lange Zeit bleiben, bis sie verbrannt werden oder verwesen. Sieh nun zu, was wir
gegen diese Rede sagen wollen, wenn jemand behauptet, daß die Seele als die Mischung alles zum
Leibe Gehörigen in dem, was wir Tod nennen, zuerst untergehe!
Da sah sich Sokrates um, wie er oftmals tat, und
sagte lächelnd: Simmias hat ganz recht gesprochen.
Wenn nun einer besseren Rat weiß als ich, warum
antwortet er nicht? Denn er hat die Sache gewiß gar
nicht schlecht angegriffen. Doch mich dünkt, ehe
wir antworten, müssen wir erst auch den Kebes
hören, was der wieder unserer Rede schuld gibt,
damit wir Zeit gewinnen und uns beraten können,
was wir sagen wollen, und dann, wenn wir sie angehört haben, ihnen entweder einräumen, wenn sie
etwas Ordentliches scheinen angestimmt zu haben,
oder wenn nicht, dann schon unsere Rede verfechten. Also, sagte er, sprich, o Kebes, was denn dich
beunruhigt hat, daß du nicht glauben kannst?
Ich will es also sagen, sprach Kebes. Mir scheint
nämlich unsere Rede noch immer auf demselben
Fleck zu sein und an demselben Mangel, dessen
wir schon vorher erwähnten, auch jetzt noch zu leiden. Denn daß unsere Seele schon war, ehe sie in
diese Gestalt kam, - das will ich nicht zurücknehmen, daß dies nicht sehr artig und, wenn es nicht
anmaßend ist zu sagen, ganz befriedigend bewiesen
wäre; daß sie aber auch noch, wenn wir tot sind,
irgendwo sei, dies scheint mir nicht ebenso. Daß
freilich die Seele nicht stärker und dauerhafter sein
sollte als der Leib, dies gebe ich der Einwendung
des Simmias nicht nach: denn in diesem allen
scheint sie mir sich gar weit zu unterscheiden.
»Warum also«, könnte die Rede wohl sagen, »bist
du noch ungläubig, wenn du doch siehst, daß nach
des Menschen Tode das Schwächere noch ist?
Dünkt dich dann nicht, daß das Dauerhaftere sich
gewiß noch erhalten müsse in eben dieser Zeit?«
Dagegen nun überlege, ob ich hiermit etwas sage:
Denn eines Bildes bedarf ich freilich auch, wie es
scheint, ebensogut als Simmias. Mich dünkt nämlich dies gerade ebenso gesagt, wie wenn jemand
von einem alten Weber, der gestorben wäre, diese
Rede führen wollte: »Der Mensch ist nicht umgekommen, sondern ist gewiß noch irgendwo«, und
zum Beweise dafür wollte er das Kleid anführen,
was er anhatte und selbst gewebt hatte, daß das
doch noch wohlbehalten wäre und nicht umgekommen: und wenn ihm einer nicht glauben wollte, er
diesen dann fragte, was wohl seiner Natur nach
dauerhafter wäre, ein Mensch oder ein Kleid, wenn
es nämlich im Gebrauch wäre und getragen würde,
und wenn der dann antworten müßte: »der Mensch
bei weitem«, jener dann glaubte bewiesen zu
haben, der Mensch also müsse wohl ganz gewiß
wohlbehalten sein, da ja das Vergänglichere nicht
untergegangen wäre. Ich denke aber, o Simmias,
das verhält sich nicht so. Sieh aber auch du zu, was
ich meine! Denn jeder würde wohl der Meinung
sein, daß das einfältig gesagt wäre, wenn es jemand
sagen sollte. Denn dieser Weber hat schon gar viele
solche Kleider verbraucht und gewebt und ist zwar
später umgekommen als jene vielen, aber doch eher
als das letzte, denke ich; und deshalb ist doch wohl
ein Mensch immer nicht schlechter oder vergänglicher als ein Kleid. Und dieses selbige Bild, meine
ich, läßt sich anwenden auf Seele und Leib; und
wer eben dasselbe sagte von diesen, würde nur
scheinen verständig zu reden, daß nämlich die
Seele zwar dauerhafter ist und der Leib schwächer
und vergänglicher; doch aber, würde er hinzusetzen, verbrauche ja jede Seele viele Leiber, zumal
wenn sie viele Jahre lebe. Denn wenn der Leib
immer im Fluß ist und vergeht, solange der Mensch
lebt, die Seele aber das Verbrauchte immer wieder
webt, so muß ja die Seele wohl, wenn sie umkommt, diese ihre letzte Bekleidung noch haben
und eher freilich nur als diese einzige umkommen;
und erst wenn die Seele umgekommen ist, kann
dann der Leib die Natur seiner Schwachheit beweisen, indem er schnell durch Fäulnis vergeht. So daß
man also diesem Satz noch nicht zuverlässig trauen
darf, daß, wenn wir tot sind, unsere Seele noch irgendwo ist. Denn wenn jemand auch dem, der
deine Behauptung vorträgt, noch mehr einräumen
wollte und zugeben, unsere Seele sei nicht nur in
der Zeit vor unserer Geburt gewesen, sondern es
hindere auch nichts, daß nicht auch nach dem Tode
die Seelen einiger noch wären und sein würden und
noch oft würden geboren werden und wieder sterben - denn so stark sei sie von Natur, daß sie
dieses gar vielmal aushaken könne -; nur aber,
indem er dieses zugäbe, nicht auch noch jenes einräumte, daß sie in diesen vielen Geburten gar nicht
von Kräften komme und auch am Ende nicht in
einem von diesen Toden gänzlich untergehe, sondern sagte: Diesen Tod aber und diese Auflösung
des Leibes, welche der Seele den Untergang bringt,
wisse nur keiner, denn es sei unmöglich, daß irgend
einer von uns ihn fühle; wenn sich nun dieses so
verhält, so kann doch von keinem, der über den
Tod guten Mutes ist, gesagt werden, daß er nicht
auf eine unverständige Weise mutig sei, wenn er
nicht zu beweisen vermag, daß die Seele ganz und
gar unsterblich und unvergänglich ist; wo nicht, so
muß jeder, der im Begriff ist zu sterben, für seine
eigene Seele in Sorgen sein, ob sie nicht gerade in
dieser Trennung von dem Leibe ganz und gar untergehn werde.
Alle nun, als wir sie beide dieses hatten sagen
hören, waren wir, wie wir uns hernach gestanden,
auf unangenehme Weise verstimmt, weil sie uns,
die wir durch die vorigen Reden stark überzeugt
waren, wieder unruhig zu machen und in Ungewißheit zurückzuwerfen schienen, nicht nur über das
bereits Gesagte, sondern auch wegen dessen, was
nun noch würde gesagt werden, ob nicht wir ganz
untaugliche Richter wären oder ob auch die Sache
selbst gar nicht zu entscheiden sei.
Echekrates: Bei den Göttern, o Phaidon, ich verzeihe
euch das. Denn auch ich, da ich dies jetzt von dir
gehört, habe so zu mir gesprochen: Welcher Rede
soll man nun wohl noch glauben? Denn die so sehr
glaubliche, welche Sokrates vorgetragen, ist nun
doch um allen Glauben gekommen. Denn gar wunderbar ergreift mich dieser Satz schon jetzt und
immer, daß unsere Seele eine Art Harmonie ist;
und wie er jetzt ausgesagt worden, hat er mir in Erinnerung gebracht, daß auch mir das vorher schon
so vorgekommen war. Und so bedarf ich nun wieder wie anfangs einer andern Rede, um mich zu
überzeugen, daß mit dem Sterbenden die Seele
nicht mitstirbt. Sage nun, beim Zeus, wie Sokrates
dieses verfolgt hat, und ob auch ihm, wie du von
euch sagst, etwas Verdrießliches anzumerken war
oder nicht, sondern ob er seinen Satz ruhig verteidigte, und ob er es befriedigend getan hat oder
unzureichend? Dies alles berichte uns so genau als
möglich!
Phaidon: Gewiß, o Echekrates, wie oft ich auch
schon den Sokrates bewundert hatte, nie doch war
ich mehr von ihm eingenommen als damals. Denn
daß er etwas zu erwidern wußte, ist wohl nichts
Besonderes; aber ich bewunderte ihn zuerst vorzüglich deswegen, wie freundlich und sanft und
beifällig er die Reden der jungen Männer aufnahm,
dann, wie scharf er bemerkte, was sie auf uns gewirkt hatten, und wie gut er uns heilte und
gleichsam wie Flüchtlinge und Geschlagene zurückrief
und uns zusprach, ihm zu folgen und die Rede mit
ihm zu erwägen.
Echekrates: Wie also?
Phaidon: Das will ich dir sagen.
Ich saß nämlich zu seiner Rechten neben dem
Bett auf einem Bänkchen, er aber saß weit höher
als ich. Nun strich er mir über den Kopf, faßte die
Haare im Nacken zusammen, denn er pflegte wohl
oft in meinen Haaren zu spielen, und sagte: Morgen also, o Phaidon, wirst du wohl diese schönen
Locken abscheren?
So sieht es wohl aus, o Sokrates, sprach ich.
Nicht doch, wenn du mir folgst.
Was denn? fragte ich.
Heute noch, sagte er, wollen wir ich meine und
du diese abscheren, wenn uns nämlich die Rede
stirbt und wir sie nicht wieder ins Leben rufen können. Und wenn ich du wäre und mir diese Rede
abhanden käme, wollte ich, wie die Argeier, einen Eid
darauf ablegen, nicht eher das Haar wachsen zu
lassen, bis ich in ehrlichem Kampfe die Rede des
Simmias und Kebes besiegt hätte.
Aber, sagte ich, mit zweien kann es ja auch
Herakles nicht aufnehmen.
So rufe denn mich herbei, sprach er, als deinen
Iolaos, solange es noch Tag ist!
Das tue ich denn, sagte ich, aber nicht als Herakles, sondern wie Iolaos den Herakles.
Das ist gleichviel, sagte er. Aber daß wir uns ja
zuerst hüten, daß uns nicht etwas Gewisses begegne!
Was doch? fragte ich.
Daß wir ja nicht Redefeinde werden, sprach er,
wie andere wohl Menschenfeinde! Denn unmöglich, sagte er, kann einem etwas Ärgeres begegnen,
als wenn er Reden haßt. Und die Redefeindschaft
entsteht ganz auf dieselbe Weise wie die Menschenfeindschaft: Nämlich die
Menschenfeindschaft entsteht, wenn man einem auf kunstlose
Weise zu sehr vertraut und einen Menschen für
durchaus wahr, gesund und zuverlässig gehalten
hat, bald darauf aber ihn als schlecht und unzuverlässig erfindet und dann wieder einen, - und wenn
einem das öfter begegnet und bei solchen, die man
für die vertrautesten und besten Freunde hält, so
haßt man denn endlich, wenn man immer wieder
Unglück hat, alle und glaubt, daß an keinem überhaupt irgend etwas Gesundes ist. Oder hast du
nicht bemerkt, daß das so zu gehen pflegt?
Jawohl, sagte ich.
Ist das nun nicht, sprach er, schändlich, und ist
nicht offenbar, daß ein solcher sich ohne die Kunst,
die sich auf Menschen versteht, an den Umgang mit
den Menschen wagt? Denn wenn er dieser Kunst
gemäß mit ihnen umginge, so würde er, wie es sich
in der Tat verhält, so auch glauben, daß es der sehr
guten und sehr schlechten beider immer nur wenige
gibt, der mittelmäßigen aber am meisten.
Wie meinst du das? sprach ich.
Geradeso, sagte er, wie mit dem sehr Großen
und sehr Kleinen: glaubst du, daß es etwas Selteneres gibt, als einen ganz ausgezeichnet großen oder
ausgezeichnet kleinen Menschen oder Hund oder
sonst etwas zu finden? Und ebenso mit schnell und
langsam, häßlich und schön, weiß und schwarz?
Oder hast du nicht gemerkt, daß von alledem das
Äußerste selten vorkommt und wenig, das Mittlere
aber unendlich häufig?
Freilich, sprach ich.
Und meinst du nicht, sagte er, wenn ein Wettstreit der Schlechtigkeit angestellt würde, daß auch
da nur sehr wenige sich als die ersten zeigen würden?
Natürlich, sagte ich.
Freilich natürlich, sprach er; aber darin sind eigentlich die Reden - nicht den Menschen ähnlich -
sondern nur weil du führtest, bin ich dir hierher
gefolgt -, wohl aber darin, daß, wenn jemand einer
Rede getraut hat, daß sie wahr sei, ohne die Kunst,
welche sich auf Reden versteht, und wenn sie ihm
dann bald darauf wieder falsch vorkommt, manchmal mit Recht, manchmal mit Unrecht, und so
wieder eine und eine andere, und vorzüglich gilt das,
wie du wohl weißt, von denen, die sich mit Streitreden abgeben, - daß sie am Ende glauben, ganz
weise geworden und allein zu der Einsicht gelangt
zu sein, daß nicht nur an keinem Dinge irgend
etwas Gesundes und Richtiges ist, sondern auch an
den Reden nicht, daß vielmehr alles sich ordentlich
wie im Euripos von oben nach unten dreht und
keine Zeitlang bei etwas bleibt.
Vollkommen richtig, sprach ich, redest du.
Und, o Phaidon, wäre das nun nicht ein Jammer,
wenn es doch wirklich wahre und sichere Reden
gäbe und die man auch einsehen könnte, wenn
einer, weil er auf solche Reden stößt, die ihm bald
wahr zu sein scheinen, bald wieder nicht, sich
selbst nicht die Schuld geben Wollte und seiner
Kunstlosigkeit, sondern am Ende aus Mißmut die
Schuld gern von sich selbst auf die Reden hinwälzte und dann sein übriges Leben in Haß und
Schmähungen gegen alle Reden hinbrächte und so
der Wahrheit und Erkenntnis der Dinge verlustig
ginge?
Beim Zeus, sagte ich, ein großer Jammer.
So laß uns denn, sprach er, zuerst davor uns
hüten und dem in unserer Seele keinen Eingang
verstatten, als ob an allen Reden am Ende wohl gar
nichts Tüchtiges wäre; sondern vielmehr bedenken,
daß wir nur noch nicht recht tüchtig sind, aber tapfer sein und trachten müssen, tüchtig zu werden, du
und die übrigen des ganzen künftigen Lebens
wegen, ich aber eben des Todes wegen. So daß ich
vielleicht gar jetzt nicht sonderlich philosophisch
mich in dieser Sache verhalte, sondern wie die ganz
Ungebildeten rechthaberisch. Denn auch diese,
wenn sie über etwas streiten, kümmern sich nicht
darum, wie sich das wohl eigentlich verhält, wovon
die Rede ist, sondern nur, daß den Anwesenden das
annehmlich erscheine, was sie selbst festgestellt
haben, danach trachten sie. Und ich scheine gegenwärtig nur so viel mich von ihnen zu unterscheiden,
daß ich nicht danach trachten will, daß den Anwesenden das, was ich behaupte, wahr erscheine,
außer beiläufig, sondern daß es mir selbst nur recht
gewiß sich so zu verhalten scheine. Ich berechne
nämlich, lieber Freund, (und siehe nur, wie eigennützig!): Wenn das wahr ist, was ich behaupte, ist
es doch vortrefflich, davon überzeugt zu sein; wenn
es aber für die Toten nichts mehr gibt, werde ich
doch wenigstens diese Zeit noch vor dem Tode den
Anwesenden weniger unangenehm sein durch Klagen; dieser mein Irrtum dauert aber nicht mit aus,
denn das wäre ein Übel, sondern wird in kurzem
untergehn. So gerüstet also, sprach er, o Simmias
und Kebes, mache ich mich an die Rede. Ihr aber,
wenn ihr mir folgen wollt, kümmert euch wenig um
den Sokrates, sondern weit mehr um die Wahrheit,
und wenn ich euch dünke etwas Richtiges zu sagen,
so stimmt mir bei; wenn aber nicht, so widerstrebt
mir auf alle Weise, damit ich nicht, im Eifer mich
und euch zugleich betrügend, euch wie eine Biene
den Stachel zurücklassend davongehe!
Wohlan denn, fuhr er fort, erinnert mich zuerst,
was ihr sagtet, wenn ihr vielleicht findet, daß ich es
nicht recht behalten habe! Simmias, denke ich, ist
ungewiß und fürchtet, die Seele möchte, obwohl
etwas Göttlicheres und Schöneres als der Leib,
doch vor ihm untergehen, indem sie ihrer Natur
nach eine Harmonie sei. Kebes aber schien dieses
zwar mir zuzugeben, daß die Seele ja dauerhafter
sei als der Leib; aber das könne doch niemand wissen, ob nicht die Seele, wenn sie nun viele Leiber
oft verbraucht hat, den letzten Leib doch zurückläßt und nun selbst umkommt und dieses dann eben
der Tod ist, der Untergang der Seele, denn der Leib
geht ja doch immer unter ohne Aufhören. Ist es dieses, o Simmias und Kebes, was wir jetzt zu
betrachten haben?
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